"Und unsern kranken Nachbarn auch!"
Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik. Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2011, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05964-8
Die Leitgedanken in Thesen
Anlass und Zielsetzung der Denkschrift
Die Entwicklung des Gesundheitssystems ist von zentraler Bedeutung für das Gemeinwohl in Deutschland. Demografischer und gesellschaftlicher Wandel, medizinische Entwicklung und Globalisierung stellen die Absicherung von Gesundheitsrisiken im Rahmen der staatlichen und privaten Vorsorge vor neue Herausforderungen. Sie machen zugleich deutlich, dass das Gesundheitswesen in eine Vielzahl von Bezügen eingebettet ist, die weit über die Gestaltung der Kranken- und Pflegeversicherung hinausreichen. Beschäftigte in Krankenhäusern und Einrichtungen, pflegende Angehörige, Selbsthilfegruppen und viele andere mehr sind Teile eines Gesamtsystems Gesundheit, das ohne die Kooperation und die Solidarität der vielen Einzelnen nicht zukunftsfähig ist. Ausgehend von dieser Überzeugung, macht die evangelische Kirche in dieser Schrift Mut, die aktuellen Herausforderungen nicht als Hindernisse, sondern als Ansporn zu einer gerechten und ganzheitlichen Gesundheitspolitik wahrzunehmen. Nach christlicher Überzeugung wird sich zukunftsfähige Gesundheitspolitik daran messen lassen müssen, dass nicht nur wir selbst, sondern auch unsere "kranken Nachbarn" ruhig schlafen können, wie es in Matthias Claudius' Abendlied "Der Mond ist aufgegangen" am Ende heißt: "Verschon uns, Gott, mit Strafen und lass uns ruhig schlafen. Und unsern kranken Nachbarn auch!" Unsere Ängste und Sorgen sollen nicht übermächtig werden - auch nicht die um unsere Gesundheit. Zugleich aber muss die gute Tradition, unsere Nachbarn mit uns selbst im Nachtgebet vor Gott zu stellen, auch unser Handeln am Tage prägen. Gemeinde, Nachbarschaft und Politik leben von der Bereitschaft, das Leiden anderer wahrzunehmen, von einem guten Miteinander und von tragfähigen Netzen. Das Gebet zur Nacht ergänzt deshalb die politische Wachsamkeit und das Ringen um Gerechtigkeit am Tage, wo es um die Kranken in unserem Land geht.
Teil A Zur aktuellen Situation
1. Herausforderungen und tragende Grundsätze des Gesundheitssystems
Demografischer und gesellschaftlicher Wandel, aber auch die Weiterentwicklung der medizinischen Methoden und Verfahren setzen das Gesundheitssystem unter Veränderungsdruck. Das betrifft die Entwicklung der Berufsgruppen genauso wie die Strukturen der stationären und ambulanten Leistungen. Die öffentlichen und privaten Systeme zur Absicherung von Gesundheitsrisiken bilden jedoch die tragenden Säulen des deutschen Gesundheitssystems. Deshalb steht die Diskussion über die zukünftige Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme im Zentrum der meisten Debatten. Die tief in den Sozialstaat eingebetteten, auf Einkommens- und Risikosolidarität der Versicherten beruhenden Finanzierungs- und Leistungssysteme der gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung sichern den größten Teil der Menschen in Deutschland ab, immerhin zehn Prozent der Deutschen sind jedoch privat versichert. Herausforderungen an die Gestaltung des Gesundheitssystems betreffen beide Versicherungssysteme.
2. Einflussfaktoren für die Gesundheitspolitik
2.1. Demografischer Wandel, medizinischer Fortschritt und anbieterinduzierte Nachfrage
Die wachsende Zahl hochaltriger Menschen, der gesellschaftliche Wandel hin zu kleineren Familien und abnehmende familiäre Ressourcen für Care-Arbeit, aber auch die medizinisch-technische Entwicklung und chronische Ineffizienzen des Gesundheitssystems werden mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass die Kosten des Gesundheitssystems schneller zunehmen als die wirtschaftliche Leistungskraft und die Einkommen der Bevölkerung. Vermeidbare Fehlsteuerung wie die anbieterinduzierte Nachfrage müssen korrigiert werden. Gleichwohl kann dieser Trend nur zum Teil gebrochen und auch dadurch kompensiert werden, dass Menschen länger gesund und aktiv bleiben, dass neue zivilgesellschaftliche Netze der Hilfe entstehen, die Erbringung von Gesundheitsleistungen transparenter wird und Ineffizienzen reduziert werden.
2.2. Herausforderung Eigenverantwortung
Vor diesem Hintergrund wird in der Gesundheitspolitik zunehmend Wert auf die Unterstützung und Ermöglichung eigenverantwortlichen Handelns gelegt. Diese Entwicklung spiegelt die wachsende Kenntnisnahme der Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements für das Gesundheitssystem und nimmt den Wunsch nach Befähigung der Menschen zu selbstbestimmtem Handeln und Entscheiden auf. Sie birgt aber zugleich die Gefahr der Erosion von Solidarität angesichts des steigenden Kostendrucks, der gesellschaftlichen Individualisierung und wachsender Ungleichheit. Bei allen Überlegungen zur Stärkung von Eigenverantwortung muss deshalb berücksichtigt werden, dass die Potenziale eigenverantwortlichen Handelns in der Gesellschaft ungleich verteilt sind. Eigenverantwortung setzt Rahmenbedingungen voraus, die auf gerechte Teilhabe und Befähigung Benachteiligter zielen.2.3. Paradigmenwechsel Behindertenrechtskonvention
Die seit 2009 in Deutschland verbindliche Behindertenrechtskonvention macht in besonderer Weise die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitssystems auf der Grundlage der Prinzipien der gerechten Teilhabe und Inklusion deutlich. Neben die Verantwortung eines jeden für sich selbst tritt - zum Teil gleich-, zum Teil vorrangig - die gesellschaftliche Verantwortung, jedem Menschen Selbstbestimmung und den Einbezug in alle Aspekte des Lebens zu ermöglichen.3. Leistungssteigerung oder "Kostenexplosion" in der Kranken- und Pflegeversicherung?
Finanzielle Ungleichgewichte in der Kranken- und Pflegeversicherung haben viele Ursachen. Neben wachsenden Leistungsanforderungen und Ausgaben durch den demografischen und gesellschaftlichen Wandel stehen vermeidbare Ineffizienzen des Gesundheitssystems sowie Schwierigkeiten, die mit einer sinkenden Einnahmebasis einhergehen. Diese Entwicklungen sind nicht auf die umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme begrenzt: Auch in der Privaten Krankenversicherung sind hohe Ausgaben- und Beitragssteigerungen zu beobachten, die zum Teil eigene, zum Teil gleiche Gründe haben. Während einige dieser Entwicklungen nur reaktive Maßnahmen ermöglichen, lassen sich andere steuern und stehen im Zentrum gesundheitspolitischer Maßnahmen.
4. Vermarktlichung des Gesundheitssystems
4.1. Zunehmende ökonomische Programmatik
Seit Beginn der 1990er Jahre ist der Gesundheitssektor zunehmend für den Wettbewerb geöffnet worden. Diese Entwicklung steht in einem Spannungsverhältnis zu traditionellen Erwartungen an das Gesundheitssystem, gelegentlich aber auch zum Selbstverständnis der dort tätigen Akteure.
4.2. Zweiter Gesundheitsmarkt
Der Markt individueller Gesundheitsleistungen ("IGeL") erlangt eine zunehmende Bedeutung. Aus Sicht von Ärzten ermöglicht er ein zusätzliches Einkommen jenseits der - häufig gedeckelten - Leistungsvergütungen gesetzlicher Krankenversicherungen. Aus Sicht der Patienten als Nachfrager ist kritisch zu sehen, dass für die hier angebotenen Untersuchungen und Behandlungen häufig keine überzeugende Nutzen-Evidenz vorliegt. Sowohl das Informationsgefälle zwischen Ärzten und Patienten als auch die Belastung des Patienten durch die Krankheit bergen die Gefahr, dass diese Leistungen nicht im Interesse der Nachfrager, sondern zur Einkommensgenerierung der Anbieter erbracht werden.
4.3. Wettbewerb im Versicherungssystem
Die Einführung der Kassenwahlfreiheit im Jahr 1996 und die Ausweitung der Wettbewerbsparameter der Krankenkassen in jüngeren Gesundheitsreformen haben zu einer schärferen Konkurrenz innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung geführt. Ihr Angebot ist seither stärker auf die Versichertenpräferenzen ausgerichtet; auch konnten zum Teil Wirtschaftlichkeitsreserven erschlossen werden. Allerdings besteht die Gefahr, dass der Kassenwettbewerb nicht um die kundenfreundlichsten und effizientesten Verfahren, sondern um die Gewinnung der jüngsten und gesündesten Versicherten geführt wird. Kritisch ist auch zu sehen, dass in Deutschland weiterhin an einem Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung festgehalten wird, obwohl sie nur begrenzt und in problematischer Weise miteinander im Wettbewerb stehen. Es widerspricht der Gerechtigkeit und dem Grundsatz der Wahlfreiheit, dass nur ein Teil der Bevölkerung ein Wahlrecht zwischen beiden Systemen hat. Auch bringt das Nebeneinander beider Systeme eine Vielzahl schwerwiegender Ineffizienzen mit sich.
5. Soziale Ressourcen im Gesundheitssystem
5.1. Entwicklung der Professionen
Mit dem Begriff Profession werden Berufsgruppen bezeichnet, die einen ausgeprägten gesellschaftlichen Status besitzen, von denen aber bei der Leistungserbringung auch ein besonderes Ethos und die Befolgung spezifischer Regeln erwartet werden. Traditionell sind dies im Gesundheitssystem Ärzte und Ärztinnen, seit den 1970er Jahren strebt auch die Berufsgruppe der Pflegenden professionellen Status an. Beide Gruppen erleben - wie andere Berufsgruppen auch - zunehmende ökonomische Zwänge als eine Restriktion ihrer professionellen Verantwortung. Während Mediziner ihr bisheriges professionelles Selbstverständnis bedroht sehen, ist die aktuelle Entwicklung der Versorgungsstrukturen aus Sicht der Pflegenden ein Hemmnis für den noch in den Anfängen steckenden Professionalisierungsprozess der Pflege.
5.2. Soziale Netze und spirituelle Ressourcen
Zwischen verschiedenen institutionellen Leistungserbringern, aber auch zwischen den Professionen und zwischen professioneller und lebensweltlicher Hilfe wird Vernetzung immer wichtiger. Das gilt für die palliative Versorgung wie für neue Wohn- und Hilfeformen für pflegebedürftige oder behinderte Menschen, aber auch für Organisationen der Nachbarschaftshilfe und die Zusammenarbeit von Selbsthilfegruppen mit professionellen Kräften. Selbstbestimmung, Gemeinwohlorientierung und spirituelle Angebote spielen für die Entwicklung des Gesundheitssystems eine zunehmend bedeutsame Rolle. Empathie und Intuition der Behandelnden, Helfenden und Pflegenden bleibt dabei eine zentrale Ressource. Die neuerdings auch aus ökonomischen Gründen immer stärker standardisierten Behandlungsprozesse können durchaus in einem Spannungsverhältnis zum notwendigerweise personalen Hilfeprozess stehen.
6. Zunehmende Relevanz von Schnittstellenproblemen
Das ausdifferenzierte deutsche Sozialsystem besitzt den Vorteil, Leistungen auf die Bedarfe des Einzelfalls zuschneiden zu können. Es kann jedoch zu Schnittstellenproblemen zwischen den einzelnen Systemen und darüber zu Ungleichbehandlungen von Menschen mit gleicher Bedürfnislage führen. Diese Problematik lässt sich vor allem im Bereich der Pflegeversicherung beobachten, die mit dem Ziel eingeführt wurde, die mangelhafte Verzahnung der verschiedenen für Pflegebedürftige zuständigen Sozialsysteme zu überwinden. Neben der angestrebten Schließung von bis dahin bestehenden Regelungslücken wurden neue Abgrenzungsprobleme erzeugt.
Teil B Ethische Kriterien für die Gesundheitspolitik
1. Allgemein-ethische Kriterien und theologische Ethik
Der christliche Glaube bezeugt die Menschenfreundlichkeit Gottes und erinnert an das heilende und versöhnende Handeln Jesu. Diakonie und Caritas haben die Sozialkultur unseres Landes wesentlich geprägt. Auch heute dient es einer guten und menschengerechten Gesundheitspolitik, wenn Perspektiven und Impulse aus dem christlichen Glauben mit dem Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft verbunden werden.
2. Theologisch-biblische Kriterien
Aus der Würdigung eines jeden Menschen als Ebenbild Gottes und den biblisch bezeugten Befreiungserfahrungen des Volkes Gottes aus Unterdrückung und Ausgrenzung sowie aus dem zeichenhaften Handeln Jesu, der den Anbruch des Reiches Gottes bezeugte, indem er kranke und behinderte Menschen heilte und in die Gemeinschaft zurückholte, leitet die Kirche eine Verpflichtung zur Humanität und zur Ermöglichung sozialer Teilhabe ab. Die Zuwendung zu Menschen, deren Freiheit und Teilhabe durch Krankheit und Behinderung bedroht ist, wird daher als Liebesdienst verstanden, der darauf hinweist, wie die Welt nach Gottes Willen aussehen soll. Wenn eine Gesellschaft, die sich zu Gemeinwohlzielen und Menschlichkeit bekennt, Anerkennung, Gerechtigkeit und Solidarität zur Unterstützung von Schwächeren beachtet, dann wird allen Menschen eine "humane Gesundheitsversorgung" ermöglicht, wie es das Sozialgesetzbuch in Deutschland als Grundsatz festhält [1]. Diese schließt ein, dass über die medizinische Versorgung des Körpers hinaus die menschliche Zuwendung zu den Patienten zentrale Bedeutung behält. Auch das Interesse für die Arbeitsbedingungen derer, die im Gesundheitswesen tätig sind, muss, wenn man dem Grundsatz der "humanen Gesundheitsversorgung" folgt, beachtet werden.
3. Andere sozialethisch bedeutsame Kriterien
3.1. Rechtliche Kriterien
In der Tradition des christlichen Glaubens und der Philosophie seit der Aufklärung leitet das Grundgesetz - und auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union - das Recht auf das Existenzminimum aus der Würde des Menschen ab. Das Sozialstaatsprinzip sieht vor, dass unsere Gesellschaft die soziale Sicherung und Teilhabe, u.a. im Krankheitsfalle oder bei Behinderung, ermöglicht. Sie hat dafür rechtliche Regelungen und Organisationsformen geschaffen, die allerdings immer wieder gefährdet sind und auf ihre Angemessenheit überprüft werden müssen.
3.2. Medizinische Kriterien
Eine gerechte und gute Gesundheitsversorgung hat vor allem die Probleme und Risiken ("Not") der Kranken und Gefährdeten, ihre Bedarfe sowie die Nutzenchancen und Schadensrisiken der infrage kommenden medizinischen Interventionen in den Blick zu nehmen. Darüber, wie diese Kriterien zu bestimmen und abzuwägen sind - zum Beispiel über medizinisch-orientierte Priorisierungsverfahren -, gilt es nachvollziehbar Rechenschaft abzulegen.
3.3. Ökonomische Kriterien
Eine Verschwendung begrenzter Mittel in der Gesundheitsversorgung ist unethisch und gegenüber den Beitragszahlern nicht gerecht. Mit welchen Methoden die Effizienz berechnet wird, ist wiederum selbst strittig. Dieser Streit, insbesondere um die Rahmenordnung eines Gesundheitssystems, muss ausgetragen werden.
Teil C Empfehlungen
1. Herausforderung Eigenverantwortung
Der Begriff der Eigenverantwortung steht in der gesundheitspolitischen Diskussion häufig für die Verlagerung finanzieller Lasten von der Gemeinschaft der Versicherten auf den Einzelnen; er meint aber auch das Vermögen und die Verpflichtung, für die eigene Gesundheit zu sorgen. Gesundheitspolitik kann die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger für die eigene Gesundheit durch individuelle Anreize stärken; wirksamer ist aber die Beeinflussung der Rahmenbedingungen, unter denen Menschen leben und arbeiten - wie z.B. die Förderung gesunder Betriebe oder Schulen. Eine auf alle Mitglieder einer Gesellschaft zielende Gesundheitspolitik muss beides leisten und darüber hinaus zu einer Reduzierung sozialer Ungleichheit und zur Verbesserung der Bildungs- und Teilhabechancen beitragen. Dabei geht es letztlich darum, die Einzelnen in die Lage zu versetzen, für ihre Gesundheit vorzusorgen, sie zu erhalten und zu pflegen. Prävention und die Befähigung zu Eigenverantwortung sind auch eine Aufgaben der Anbieter von Gesundheitsleistungen. Der Wissensvorsprung der Leistungserbringer verpflichtet sie zu einem besonders verantwortlichen Handeln und zu einem partizipativen Umgang mit den Nutzern von Gesundheitsleistungen. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass zahlreiche gesundheitsrelevante Faktoren jenseits der persönlichen Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger liegen.
2. Professionen und soziale Netze
Die professionelle Verantwortung aller Berufsgruppen im Gesundheitssystem muss stärker als eine Ressource verstanden und genutzt werden. Die einzelnen Professionen sind eben nicht nur ökonomische Interessenvertreter, ihre Ausrichtung an ethischen Standards und vereinbarten Regeln, aber auch die Weiterentwicklung des beruflichen Selbstverständnisses müssen gesundheitspolitisch erneut in den Mittelpunkt gerückt werden. Insbesondere in der Pflege liegt darin eine grundlegende Voraussetzung zur Durchsetzung qualitativer Standards, die sowohl den Empfängern von Pflegeleistungen als auch den berechtigten Interessen der Beschäftigten dient. Hinzuarbeiten ist zudem auf eine verstärkte Zusammenarbeit der verschiedenen Professionen. Neben professioneller Verantwortung muss auch das bürgerschaftliche Engagement im Gesundheitssystem unterstützt und gestärkt werden, schon weil humane und monetäre Ressourcen nicht für eine vollständige Übernahme dieser Aufgabe durch formale Systeme ausreichen. Die Professionen des Gesundheitssektors sind dazu angehalten, mit Selbsthilfeorganisationen und bürgerschaftlichen Netzwerken zusammenzuarbeiten.
3. Wettbewerb im Versicherungssystem
Gesetzliche Krankenversicherung und soziale Pflegeversicherung sind so weiterzuentwickeln, dass sie von rein steuerfinanzierten und privaten Absicherungssystemen unterscheidbar bleiben und das Prinzip der Solidarität bewahren. Dabei muss die Einnahmebasis durch Einbeziehung anderer Einkommensarten verbreitert werden. Für ein staatliches Versicherungssystem, dessen Mitglieder zu einem hohen Anteil keine Ausstiegsoption haben, muss gelten, dass Leistungen möglichst effizient erbracht werden. Um dies zu erreichen, ist darauf zu achten, dass der zunehmende Wettbewerb nicht zulasten schwacher, kranker und behinderter Menschen oder der Leistungsqualität geht. Zu stärken sind zudem auch Qualitätsinformation und Transparenz des Leistungsangebots, sodass Versicherten die Möglichkeit gegeben wird, von ihren Wahlrechten eigenverantwortlich Gebrauch zu machen. Eine Weiterentwicklung des Krankenversicherungssystems sollte auch eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen gesetzlicher und privater Kranken- und Pflegeversicherungen beinhalten. Dass nur ein Teil der Bevölkerung zwischen gesetzlicher und privater Absicherung wählen kann, trägt zur Entsolidarisierung gerade der Bessergestellten bei und ist daher zu hinterfragen. Als langfristiges Ziel sollte es zu einer weitgehenden Konvergenz der Systeme kommen, sodass, orientiert am heutigen Leistungskatalog, eine (einkommens- und risiko-) solidarische Absicherung für alle angeboten werden kann.
4. Weiterentwicklung der Pflegeversicherung
Die Pflegeversicherung erhält angesichts des Altersaufbaus der Bevölkerung eine größere gesellschaftliche Bedeutung. Sie muss finanziell so dynamisiert werden, dass die gesetzlichen Leistungen bei steigenden Tariflöhnen und der allgemeinen Preisentwicklung verlässlich bereitgestellt werden können, und sie muss alle Einkommensarten einbeziehen. Die notwendige Aufstockung des Kapitalstocks der Pflegeversicherung muss solidarisch, gegebenenfalls auch aus Steuermitteln erfolgen. Neue Instrumente zur Ermittlung des Pflegebedarfs und der Qualitätssicherung sollten schrittweise eingeführt werden. Die Regelungen der Pflegeversicherung und Sozialhilfe für pflegebedürftige Menschen müssen so weiterentwickelt werden, dass sie sich nahtlos in das Sozialsystem einfügen. Künftige Gesetzgebungsschritte sollten eine gesamtkonzeptionelle Lösung der Versorgung pflegebedürftiger, behinderter und alter Menschen anstreben. Die Leistungserbringung muss zunehmend personenorientiert erfolgen und sich nach den Bedarfen der Leistungsempfänger, nicht nach den Zielen und Ansprüchen der Leistungsträger oder Leistungserbringer, ausrichten. Die im SGB IX vorgesehene Ausrichtung an Teilhabezielen ist auf alle Sozialleistungsträger auszuweiten, deren Zusammenarbeit ist zu stärken. Kommunen müssen finanziell so ausgestattet werden, dass sie ihrer zentralen Aufgabe bei der Schaffung einer generationengerechten und inklusiven Infrastruktur nachkommen können.
5. Markt für Gesundheitsleistungen regulieren, Leistungsangebot optimieren
Die Entwicklung des Marktes für Gesundheitsleistungen muss sozialstaatlich gerahmt werden. Sie darf nicht dazu führen, dass der Zugang zu notwendigen Gesundheitsleistungen von der Kaufkraft abhängt. Zudem muss transparent gemacht werden, ob auf dem zweiten Gesundheitsmarkt angebotene Leistungen einen nachgewiesenen medizinischen Nutzen haben. Anreize zu einer Risikoselektion nach Gesundheitszustand oder Kaufkraft unter Patienten sind strikt zu beseitigen; die Gesundheitsversorgung ist im Gegenteil auf jene Bevölkerungsgruppen auszurichten, die sie am stärksten benötigen.
6. Zur Verantwortung von Gemeinden
Spiritualität kann helfen, achtsamer mit Krankheiten, Leiden und Sterben umzugehen. Der christliche Glaube gibt Hoffnung und Trost in kritischen Situationen und stärkt die Kraft, auch da zugewandt zu bleiben, wo der medizinische Erfolg nicht mehr gegeben ist. Dabei geht es auch darum, zu akzeptieren oder sich zumindest innerlich damit auseinanderzusetzen, dass Gesundheit bei allem Bemühen um eine professionelle Behandlung und um gerechte Gesundheitspolitik letztlich ein Geschenk ist. Hier liegt - angesichts der verbreiteten, auch religiösen, Sehnsucht nach Heilung - eine zentrale Aufgabe für Seelsorger und Seelsorgerinnen, für Gemeinden und Gemeinschaften in Pflege und Gesundheitsberufen. Die heutige Trennung von wissenschaftlicher Medizin, ökonomisierter Gesundheitswirtschaft und dem geistlichen Leben der Gemeinschaften muss überwunden werden. Diakonische Einrichtungen und Dienste sollten sich in ihren Veröffentlichungen nicht nur der Sprache von Geschäfts- und Erfolgsberichten bedienen. Kirchengemeinden müssen ihre wichtige Rolle in den regionalen Netzen der Gesundheitsversorgung wahrnehmen. National wie international ist vor allem die Teilhabeorientierung des Gesundheitswesens zu stärken.