"Und unsern kranken Nachbarn auch!"
Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik. Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2011, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05964-8
A.III. Leistungssteigerung oder Kostenexplosion in Kranken- und Pflegeversicherung?
- Die meisten Bürgerinnen und Bürger sind überzeugt, dass die Probleme des Gesundheitssystems vor allem auf der Kostenseite zu suchen sind. Richtig ist, dass die Gesundheitsausgaben in Deutschland in den letzten Jahren überproportional zum Sozialprodukt angestiegen sind. Zwischen 2000 und 2008 nahmen sie im Durchschnitt um 2,7 Prozent zu, 2009 sogar um 5,2 Prozent. Allerdings hat diese starke Steigerung womöglich mit den Auswirkungen der Finanzkrise zu tun. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt stieg daher in diesem Zeitraum von 10,3 Prozent auf 11,6 Prozent. Kostenentwicklungen im Gesundheitssystem betreffen in der Wahrnehmung vor allem die Bereiche der Gesetzlichen Kranken- und Sozialen Pflegeversicherung, deren Gesundheitsausgaben seit 2000 um beinahe 29 Prozent gestiegen sind. In der Folge stiegen auch die Beitragssätze an, in der Gesetzlichen Krankenversicherung seit 2000 um zwei Beitragspunkte. Aber auch die Ausgaben der Privaten Krankenversicherung haben deutlich zugenommen, seit 2000 um über 47 Prozent. Auch hier müssen Versicherte einen wesentlich höheren Preis für ihren Versicherungsschutz zahlen als noch vor zehn Jahren. Hinzu kommt, dass private Haushalte einen immer größeren Teil der Gesundheitsausgaben selbst tragen müssen - seit 2000 hat ihr Anteil an den gesamten Ausgaben von 11,6 Prozent auf 14,5 Prozent zugenommen. Diese spürbaren Ausgabensteigerungen geben zu Befürchtungen Anlass, ein hochwertiges Gesundheitssystem, zu dem alle Bevölkerungsteile Zugang haben, könne im Laufe der Zeit unfinanzierbar werden. Hinter den Kosten- und Beitragssteigerungen verbergen sich jedoch sehr verschiedene Ursachen, die eine differenzierte Betrachtung erforderlich machen.
- Sowohl in der GKV als auch in der PKV existieren spezifische, der jeweiligen Systemlogik geschuldete Probleme. Ein erstes Problem ergibt sich aus der Koppelung der GKV-Finanzierung an die Lohneinkommen abhängig Beschäftigter und bestimmte Transfereinkommen (z.B. Rente). Sie hat zum einen eine hohe Abhängigkeit des Beitragsvolumens von kurzfristigen Konjunkturschwankungen zur Folge, zum anderen kann sie zu einem langfristigen Einnahmeproblem führen, wenn die Einkommen - z.B. aufgrund veränderter Erwerbsstrukturen und des demografischen Wandels - schwächer wachsen als die Ausgaben. Mögliche Beitragssatzsteigerungen, die daraus folgen, erhöhen die Lohnnebenkosten und können so negative Effekte auf den Arbeitsmarkt - und damit wiederum auf die Beitragsgrundlage der GKV - haben. Ein weiteres Problem ist die mangelnde Zielgenauigkeit der Einkommenssolidarität innerhalb der GKV. Mit den an die Lohneinkommen gekoppelten Beitragsverpflichtungen soll eine Belastung der Versicherten nach ihrer individuellen Leistungsfähigkeit erreicht werden. Die finanzielle Belastung der einkommensstarken Haushalte wird jedoch durch die Beitragsbemessungsgrenze gedeckelt. Es ist zudem problematisch, dass andere individuelle Einkommen als die Lohneinkommen außer Acht gelassen werden. Versicherte mit Erträgen aus Privatvermögen werden auf diese Weise bevorzugt.
- Wie alle im Umlageverfahren finanzierten Sozialversicherungssysteme ist auch die GKV zunehmend mit dem Problem der intergenerationellen Gerechtigkeit konfrontiert. Der Finanzierungsdruck innerhalb der GKV kann dazu führen, dass junge Versicherte und zukünftige Generationen mit höheren Beiträgen bei geringeren Leistungen konfrontiert und somit relativ schlechter als die aktuell bereits älteren Versicherten gestellt werden. In diesem Zusammenhang ist zu überprüfen, ob die beitragsfreie Mitversicherung von nicht-erwerbstätigen Ehepartnern nicht an die Erziehung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen geknüpft werden muss; mehr als die Hälfte der beitragsfrei mitversicherten Ehepartner haben zurzeit keine solchen Verpflichtungen. Auf diese Weise erfahren erwerbstätige Alleinerziehende eine geringere Förderung als Alleinverdiener-Ehepaare.
- Auch im Bereich der PKV ist ein wachsender Problemdruck zu beobachten. So wird seit vielen Jahren der mangelnde Wettbewerb der PKV-Unternehmen um Bestandsversicherte bemängelt, der damit begründet wird, dass die Versicherer Alterungsrückstellungen in einer Weise bilden, die einen Versicherungswechsel unter Mitnahme der Alterungsrückstellung erschweren. Bis 2009 war der Wechsel zu einem anderen Versicherungsunternehmen mit einem vollständigen Verlust der Alterungsrückstellungen verbunden und ist es für ältere Krankenversicherungsverträge weiterhin. Da beim Abschluss eines neuen Versicherungsvertrages das - altersbedingt steigende - Krankheitsrisiko neu berechnet wird und Versicherte mit Vorerkrankungen, die sie während des vorherigen Versicherungsschutzes erworben haben, beim neuen Versicherer Risikozuschläge gegen sich gelten lassen müssen, sind die Prämien beim Wechsel im höheren Alter so hoch, dass ein Wechsel für den Versicherten ökonomisch inopportun ist. Seit 2009 müssen PKV-Unternehmen Neuversicherten bei einem Versicherungswechsel immerhin einen Teil der Alterungsrückstellungen mitgeben; die Mitgabe nur eines Bruchteils der Alterungsrückstellung lässt aber erwarten, dass auch der Wettbewerb um diese Bestandsversicherten nur in begrenztem Umfang möglich sein wird. Ein weiteres Problem der PKV sind die ausgeprägten Ausgabensteigerungen in den letzten Jahrzehnten, die sich in ebenso starken Prämienerhöhungen niederschlugen. Sie resultieren auch daraus, dass die Versicherungsunternehmen praktisch keinen Einfluss auf die Art, die Kosten und die Mengen der von ihren Versicherten in Anspruch genommenen Leistungen haben. Zwischen 1985 und 2005 kam es in der PKV im Durchschnitt zu einer Verdreifachung der Prämien, in der GKV war die Beitragssatzsteigerung im gleichen Zeitraum nur in etwa halb so hoch. Trotz der deutlichen Prämiensteigerungen ist es für Personen mit einem Wahlrecht zwischen PKV und GKV, die über ein gesichertes höheres Einkommen verfügen und keine oder wenige Kinder haben, häufig noch günstiger, eine Versicherung in der PKV abzuschließen. Mit zunehmendem Alter kann sich die Situation jedoch anders darstellen, denn Kostensteigerungen wirken sich überproportional auf die Prämien älterer Versicherter aus. Diesen bleibt dann nur die Wahl, die steigenden Prämien zu entrichten oder Einschränkungen im Versicherungsumfang in Kauf zu nehmen, etwa durch die Wahl eines Selbstbehaltstarifs, durch Leistungsausschlüsse oder durch einen Wechsel in den Basistarif. Prämienerhöhungen und Leistungsbegrenzungen treten somit gerade dann ein, wenn im Regelfall die finanziellen Mittel knapper und die gesundheitlichen Einschränkungen größer werden.
- Anders als in der Gesetzlichen Krankenversicherung sind die Beiträge und der Leistungsumfang der Sozialen Pflegeversicherung vom Gesetzgeber festgeschrieben. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind angesichts des Altersaufbaus der Bevölkerung von großer und steigender Bedeutung. Insofern müssen sie der Entwicklung der Löhne und Preise angepasst, d.h. dynamisiert werden. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind zwischen 1995 und 2008 unverändert geblieben. Mit der Pflegeversicherungsreform 2008 wurde erstmals zum 01.07.2008 die überwiegende Anzahl der Leistungen der Pflegeversicherung erhöht. Die zweite Stufe der Erhöhung erfolgte zum 01.01.2010, die dritte wird zum 01.01.2012 erfolgen. Diese bis zum Jahr 2008 fehlende Anpassung an die Preis- und Lohnentwicklung führt(e) zu einer deutlichen Kaufkraftreduktion und zu einem Verlust des Wertes der Pflegeleistungen für die pflegebedürftigen Menschen und damit zu Akzeptanzproblemen bei der Sozialen Pflegeversicherung. Nach dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz soll die Bundesregierung zukünftig alle drei Jahre, erstmals im Jahre 2014, die Notwendigkeit und Höhe einer Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung prüfen. Umso dringender stellt sich die Frage nach der nachhaltigen und generationengerechten Finanzierung der Pflegeversicherung.
- Das finanzielle Gleichgewicht der Sozialen Pflegeversicherung wird von drei Entwicklungen bestimmt: der Zahl der Leistungsempfänger, der von diesen in Anspruch genommenen Leistungsformen und der Einnahmebasis, d.h. der Zahl der Beitragszahler und der von diesen verdienten und der Beitragspflicht unterliegenden Einkommen. Die Zahl der Leistungsempfänger wird aufgrund des demografischen Wandels in den nächsten Jahren deutlich zunehmen. Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes gehen davon aus, dass die Zahl der Pflegebedürftigen bei konstanter altersspezifischer Pflegewahrscheinlichkeit von aktuell ca. 2,3 Mio. bis 2020 auf 2,8 Mio. und bis 2030 auf 3,3 Mio. steigen wird. Nimmt die altersspezifische Pflegewahrscheinlichkeit aufgrund des medizintechnischen Fortschritts sowie einer effizienteren Prävention und Rehabilitation ab, wird eine geringere, aber immer noch deutlich zunehmende Zahl an Pflegebedürftigen prognostiziert: Für 2020 werden dann 2,68 Mio., für 2030 2,95 Mio. Pflegebedürftige erwartet. Hinzu kommt, dass sich seit Einführung der Pflegeversicherung ein Trend zur relativ teureren stationären Pflege beobachten lässt [3]; von 1998 bis 2007 hat der Anteil der stationär versorgten Pflegebedürftigen an allen Leistungsempfängern von 29,4 Prozent auf 33,1 Prozent zugenommen. Ob sich dieser Trend fortsetzen wird, ist schwer abzuschätzen, die zunehmende Zahl von Single- und kinderlosen Paarhaushalten sowie die vermutlich weiter steigende Erwerbsquote von Frauen weisen in diese Richtung, sofern es nicht gelingt, die ambulante Versorgung weit besser als bisher mit Haushaltsdienstleistungen und einer verbesserten Wohninfrastruktur zu koppeln. Das finanzielle Gleichgewicht der Pflegeversicherung gerät jedoch - analog zur Krankenversicherung - auch durch eine proportional kleiner werdende Einnahmebasis unter Druck. Das relativ zu den Ausgaben schwache Wachstum der Einnahmen ist dabei bislang noch nicht auf demografische Effekte zurückzuführen, sondern Folge der in den letzten Jahren zu verzeichnenden Stagnation der Realeinkommen und des gleichzeitigen Trends zu nicht sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Ähnlich wie in der Gesetzlichen Krankenversicherung werden sich daher zukünftig verstärkt Probleme steigender Beitragssätze und damit verbundener zunehmender Belastungen des Faktors Arbeit mit Lohnnebenkosten ergeben. Die Ausgestaltung der Pflegeversicherung als Teilversicherung führt zusätzlich dazu, dass Kostensteigerungen die Pflegebedürftigen selbst und bei deren Überforderung die für die Hilfe zur Pflege verantwortlichen Kommunen betreffen. So ist zwischen 1998 und 2008 die Empfängerzahl der Hilfe zur Pflege bereits von 290.000 auf 322.000 gestiegen. Für die Zukunft lässt sich ein weit stärkerer Anstieg der Zahl armutsgefährdeter Pflegebedürftiger erwarten.