"Und unsern kranken Nachbarn auch!"
Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik. Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2011, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05964-8
C.IV. Weiterentwicklung der Pflegeversicherung: Schnittstellenproblematik
- Die Probleme der Sozialen Pflegeversicherung sind zum Teil ähnlich wie in der Krankenversicherung gelagert - so z.B. die mit dem demografischen Wandel zusammenhängenden Finanzierungsungleichgewichte und die schwer zu rechtfertigende Aufspaltung des Versicherungsmarktes und die damit einhergehenden Ineffizienzen und Entsolidarisierungstendenzen. Lösungsvorschläge können sich insofern teilweise an die Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Krankenversicherungssystems anlehnen. Eine Herausforderung eigener Art ist die Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung. Hier ist der Gesetzgeber gefordert, die Beiträge so zu gestalten, dass eine bedarfsgerechte Versorgung für alle realisierbar ist. Zum Abbau von Ineffizienzen sind darüber hinaus Schnittstellen zur Gesetzlichen Krankenversicherung und zur Sozialhilfe in den Blick zu nehmen. Gesetzgebungsschritte sollten hier in Richtung auf ein Gesamtkonzept zur Versorgung pflegebedürftiger, behinderter und alter Menschen erfolgen. Insbesondere die Erbringung von Teilhabeleistungen darf nicht weiterhin davon abhängig sein, zu welchem Sozialsystem ein hilfebedürftiger Mensch zugewiesen wird. Teilhabemöglichkeiten werden aber nicht nur durch die Sozialgesetze, sondern maßgeblich durch die Infrastrukturgestaltung der Kommunen geschaffen oder verhindert. Diese kommunalen Verantwortlichkeiten sind zu stärken, indem die Kommunen die dazu notwendigen finanziellen Gestaltungsspielräume erhalten.
- Ansatzpunkt einer schrittweisen Angleichung des Leistungszugangs und der Überwindung von Schnittstellenproblemen könnte die überfällige Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sein. Der Begriff der Pflegebedürftigkeit ist bislang eng und verrichtungsbezogen ausgelegt. Die in den letzten Jahren erfolgten Leistungsverbesserungen für demenzkranke Menschen haben hier Verbesserungen gebracht, von einem Paradigmenwechsel kann jedoch nicht die Rede sein. Bereits vor zwei Jahren hat ein vom Ministerium beauftragter "Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs" konzeptionelle Überlegungen zur Entwicklung eines neuen und erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines neuen bundesweit einheitlichen Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vorgelegt. Maßstab zur Einschätzung von Pflegebedürftigkeit soll demnach nicht mehr die erforderliche Pflegezeit, sondern der Grad der Selbstständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten und der Gestaltung von Lebensbereichen sein. Die Regierungskoalition hat den Bericht lediglich zur Kenntnis genommen. Die Umsetzung dieses Konzepts steht nun ausdrücklich unter dem Vorbehalt, dass zunächst eine Finanzierungsreform der Pflegeversicherung erfolgen soll. Zwar sind die Kostenaspekte der Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs wichtig. Sie rechtfertigen jedoch nicht, weiterhin insbesondere pflegebedürftige alte Menschen von Teilhabeleistungen auszuschließen, die ihnen ein Leben in der Gemeinschaft jenseits von Fremdbestimmung ermöglichen könnten.
- Auch die verschiedenen Bereiche der Rehabilitation müssen untereinander gleichgestellt werden. So muss die vorrangige geriatrische Rehabilitation, die aus der Krankenversicherung finanziert wird, tatsächlich ermöglicht werden, wenn damit Pflegebedürftigkeit, die aus der Pflegeversicherung getragen wird, verhindert werden kann. Eine Übertragung der pflegevermeidenden Rehabilitation an die Pflegekassen könnte das Problem lösen, dass es den Krankenkassen gegenwärtig an Anreizen fehlt, Pflegebedürftigkeit rechtzeitig zu vermeiden, weil sie die Folgekosten unterbliebener Rehabilitation nicht zu tragen haben. Die Sozialleistungsträger müssen ihre im SGB IX vorgesehene Ausrichtung an der Teilhabe und Pflicht zur übergreifenden Zusammenarbeit ernst nehmen, denn sie sind nicht Selbstzweck. Insbesondere gemeindenahe Dienste der Rehabilitation und Assistenz und selbstbestimmte Wohnformen außerhalb von Heimen sind zu stärken und weiterzuentwickeln. Auch pflegebedürftige behinderte Menschen müssen die gleichen Rechte haben wie andere, insbesondere das Recht, zu entscheiden, wo und mit wem sie leben (Art. 19 BRK). Die Einbeziehung der Pflegekassen in den Kreis der Rehabilitationsträger und damit das Verständnis von Pflegeleistungen als Leistungen zur Teilhabe wäre ein Lösungsweg.
- Die Kosten für die Pflegeversicherung werden in den kommenden Jahrzehnten steigen. Dieser Anstieg entspricht dem Bedarf einer Bevölkerung des langen Lebens und sollte in der öffentlichen Debatte nicht skandalisiert werden. Bei der Frage der Aufbringung der notwendigen Mittel ist analog zur Gesetzlichen Krankenversicherung an die Einbeziehung anderer Einkommensarten zu denken, die auch über einen Steuerzuschuss des Bundes erfolgen könnte. Daneben ist zu prüfen, ob der Anstieg der Beiträge in den Jahren zwischen 2025 und 2050 durch das vorherige Ansparen eines Kapitalvermögens bei den Pflegekassen oder einen gesonderten Fonds gemildert werden kann. Eine ergänzende individuelle kapitalbildende Pflichtversicherung kann die skizzierten Probleme kaum lösen, benachteiligt aber systematisch Erwerbstätige mit geringem Einkommen und entspricht gerade nicht dem Ziel; den notwendigen Bedarf für alle solidarisch zu decken.