Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt
Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. April 2015, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05977-8
3.5 Der deutsche Arbeitsmarkt zwischen Konflikt und Konsens
Grundthesen Kapitel 3.5:
In Deutschland werden Konflikte in der Arbeitswelt durch politische Rahmensetzung und durch die Tarif- und Sozialpartner gelöst. Der Wandel zwingt auch die Gewerkschaften und Betriebs- und Personalräte zur ständigen Anpassung und Weiterentwicklung. Zur Lösung gegenwärtiger und künftiger Probleme in der Arbeitswelt bietet die Sozialpartnerschaft ein etabliertes und zukunftsfähiges Konzept, das es zu erhalten und weiterzuentwickeln lohnt. Die Bindungskräfte zu stärken ist das Gebot der Stunde, um im Konsens zum Wohl der ganzen Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.
In der jüngeren Vergangenheit hat es in der deutschen Arbeitsmarktpolitik Phasen prägnanter Konflikte, aber auch des Konsenses gegeben. Deutschland litt um die Wende zum 21. Jh. unter einer drückenden Last hoher Arbeitslosigkeit. Während in den meisten Volkswirtschaften die Arbeitslosigkeit mit dem Abklingen der Rezession wieder zurückging, stagnierte damals in Deutschland die Wirtschaft, und die Arbeitslosigkeit blieb hoch. Erst ab 2005 stieg die Zahl der Beschäftigten und sank die Arbeitslosigkeit bis 2008. Die Folgen der Finanzmarktkrise ab 2008 auf dem Arbeitsmarkt wurden im Konsens zwischen Regierungen und Sozialpartnern überwunden. Es gelang, den üblichen und erwartbaren Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Krise zu vermeiden. Eine im internationalen Vergleich überdurchschnittlich günstige Beschäftigungsentwicklung erreichte die deutsche Wirtschaft im nachfolgenden Aufschwung. Besonders wesentlich für die wirtschaftliche Entwicklung waren die Veränderungen in der Tarifpolitik. Zum einen vereinbarten die Tarifpartner in vielen Tarifverträgen neue flexible Regelungen und betriebliche Öffnungsklauseln, um betriebsnähere Regelungen zu ermöglichen. Ferner erfolgten produktivitätsorientierte, maßvolle Lohnsteigerungen, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu verbessern.
Die Wirtschaft- und Finanzkrise 2008 und 2009 und der Aufschwung danach waren also anders als die Phase der Reformen zuvor durch die Ergebnisse einer Konsensbildung, vor allem auf Unternehmensebene, geprägt. Schon während der Phase harter wirtschaftspolitischer Auseinandersetzungen über die Agenda 2010 wurden von den Tarifparteien Abkommen über flexible Arbeitszeiten geschlossen. Deren Umsetzung geschah auf der Basis betrieblicher Mitbestimmung. Sie zeigt sich primär an der Flexibilisierung der Arbeitszeiten in den Unternehmen als Resultat von Verhandlungen zwischen Unternehmensleitung und Gewerkschaften bzw. Betriebsräten.
Mit diesem Modell der Arbeitszeitflexibilisierung konnten die Unternehmen die Arbeitszeit im Aufschwung ausweiten. Im Abschwung zuvor hatten als Gegenleistung die Beschäftigten ihre Arbeitsplätze bei nahezu unverändertem Einkommen behalten, was dann zu Lasten der Unternehmensgewinne ging. Die Arbeitslosenversicherung sorgte mit dem Kurzarbeitergeld zudem dafür, dass die durch Kurzarbeit reduzierten Löhne zum Teil ausgeglichen wurden. Einkommen und Beschäftigung verstetigten sich so im Abschwung wie im Aufschwung [8].
Die stabilen Einkommen der Beschäftigten, vor allem in der Industrie, leisteten neben staatlichen Konjunkturprogrammen auch einen erheblichen Beitrag dazu, die Krisenfolgen in Deutschland zu begrenzen. Auf diese Weise blieb im Unterschied zu anderen Volkswirtschaften die Konsumnachfrage in Deutschland robust, was erheblich zu der relativ und absolut bemerkenswert günstigen Beschäftigungsentwicklung in Deutschland beigetragen hat.
3.5.1 Tarif- und Sozialpartnerschaft im Wandel
3.5.1.1 Rolle der Gewerkschaften zwischen Konflikt und Konsens
Ohne Gewerkschaften hätte es viele soziale Verbesserungen und vor allem die Teilhabe der Beschäftigten am wirtschaftlichen Erfolg nicht gegeben. Die Gewerkschaften sorgten durch Tarifverhandlungen, Mitbestimmung und politische Einflussnahme lange Zeit dafür, dass das deutsche Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg auch bei den Arbeitnehmern ankam. Gerade die betriebliche und die Unternehmensmitbestimmung ermöglichten, dass die abhängig Beschäftigten gleichsam als »Bürger im Betrieb« gelten konnten.
Ab Mitte der 80er Jahre und verstärkt nach der deutschen Wiedervereinigung geriet der traditionelle deutsche Korporatismus, der den Verbänden ein hohes Maß an Mitgestaltung der Gesellschaft im Konflikt wie Konsens ermöglicht, zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Das Modell der Sozialen Marktwirtschaft mit sozialstaatlichen Leistungen, Mitbestimmung und Tarifautonomie wurde in Teilen zum Sündenbock für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland gemacht. Doch haben die Tarifpartner in den letzten Jahren die Tarifverträge modernisiert und die betrieblichen Möglichkeiten zur Mitgestaltung der Arbeitsbedingungen im Rahmen der Flächentarifverträge durch Öffnungsklauseln verstärkt. So wurde die Sozial- und Tarifpartnerschaft neu als gesellschaftlicher Stabilitätsanker anerkannt, weil sie durch ihr verantwortungsvolles Krisenmanagement wesentlich zur erfolgreichen Bewältigung der Wirtschaftskrise 2008/2009 im Konsens zwischen Politik, Arbeitgebern und Gewerkschaften beigetragen hat. Die Tarifautonomie und das verantwortliche gemeinsame Handeln von Gewerkschaften und Arbeitgebern sind entscheidende Ursache dafür, dass Deutschland wesentlich besser aus der Krise hervorgegangen ist als die anderen Wirtschafts- und Industrieländer.
3.5.1.2 Konstruktionsprinzipien deutscher Gewerkschaften
Gewerkschaften haben, basierend auf den Werten Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität, wesentlich dazu beigetragen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten kontinuierlich zu verbessern. Als Mischung aus Wertegemeinschaft, Ordnungsfaktor und Interessenverband fördern sie gerechtere Strukturen, sorgen für einen angemessenen Anteil der Arbeitnehmerschaft an den Unternehmens- und Kapitalgewinnen und verhindern so ein zu starkes Auseinanderdriften der Gesellschaft. Ihr Ideal der sozialen Gerechtigkeit und der Partizipation der Beschäftigten war und ist ein starkes Antriebsmoment, sich auch außerhalb von Lohnbewegungen gesellschaftspolitisch einzumischen.
Der heutige Aufbau des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seiner acht Mitgliedsgewerkschaften ist eine Konsequenz aus der verheerenden Niederlage der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1933, in der die Gewerkschaften aufgrund ihrer politischen, konfessionellen und berufsständischen Ausrichtung untereinander konkurrierten. Der Wiederaufbau der deutschen Gewerkschaftsbewegung nach 1945 führte zwar die deutsche Tradition mit ihrer charakteristischen Dualität gewerkschaftlicher wie betriebsrätlicher Interessenvertretung weiter, ergänzte sie aber um das neue Modell der Einheitsgewerkschaft über Parteien, Konfessionen und Berufsstände hinweg.
Auch wenn es für die Arbeitswelt ein Bündel unterschiedlichster Gesetze gibt, existiert kein gesondertes Gewerkschafts- oder Verbändegesetz. Die deutschen Gewerkschaften als freiwilliger Zusammenschluss von Arbeitnehmern auf überbetrieblicher Ebene leiten sich ebenso wie die Arbeitgeberverbände aus der Koalitionsfreiheit ab (Grundgesetz Art. 9). In ihrer Struktur und ihrer Willensbildung müssen sie demokratischen Erfordernissen entsprechen.
Die Tarifpartner agieren auf verschiedenen Handlungsebenen. Neben ihrer politischen Artikulationsfunktion als Interessenverband wirken sie gleichzeitig über Tarifverträge normsetzend. Sie sind, darin wesentlich unterschieden von anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren, verantwortlicher Vertragspartner. Durch ihre Einbindung in Betriebs-, Personal- und Aufsichtsräte übernehmen sie Mitverantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung in Unternehmen. Daher ist eine gewerkschaftliche Fundamentalopposition, wie sie in Teilen des Auslandes anzutreffen ist, in Deutschland eher die Ausnahme. Die Soziale Marktwirtschaft mit ihren konstitutiven Elementen überbetrieblicher wie betrieblicher Mitbestimmung, Tarifautonomie und den ergänzenden Regelungen des Sozialstaats weist den Tarifpartnern eine verantwortliche und damit kooperative Rolle sowie einen spezifischen Gestaltungsauftrag zu. Es ist dieses rechtliche und institutionelle Fundament, das zur erfolgreichen Ausprägung der Sozialpartnerschaft führte.
3.5.1.3 Gewerkschaften im Wandel
Die Folgen von Globalisierung, Europäisierung, Deregulierung und Flexibilisierung, technischem Fortschritt und sozialem Wandel führten in den letzten zwanzig Jahren zu massiven Herausforderungen für das traditionelle gewerkschaftliche Selbstverständnis. Die sich permanent transformierende Industriegesellschaft und der stetig wachsende Anteil des Dienstleistungssektors verändern die Bezugspunkte der Gewerkschaften und verschieben die Fundamente der Gewerkschaftsbewegung. Der industrielle Sektor in Deutschland ist jenseits aller Debatten um die Entwicklung zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft nach wie vor Basis der ökonomischen Entwicklung und Hort gewerkschaftlicher Stärke, doch verändern technologische Innovationen und Rationalisierungsschübe die Industriearbeit grundlegend.
Aufgrund steigender Qualifikationsanforderungen verändern sich die Berufsbilder und die Zusammensetzung der Belegschaften. Der Anteil der einstmals dominierenden männlichen Industriearbeiter schrumpfte zusehends, andere Beschäftigungsgruppen drängten nach vorne: Ende der 80er Jahre übertraf der Angestelltenanteil erstmals den der gewerblich Beschäftigten. Gerade in den industriellen Großbetrieben, traditionell gewerkschaftlichen Hochburgen, ist ein Trend zur Akademisierung zu beobachten. Dies stellt für die Gewerkschaften eine große Herausforderung dar. Im Gegensatz zum klassischen Facharbeiter gehören hoch qualifizierte Beschäftigte nicht zur gewerkschaftlichen Stammklientel. Bei ihnen ist das Autonomiegefühl und das Vertrauen in die eigene Stärke besonders ausgeprägt, Gewerkschaften und Betriebsräte haben hier keine selbstverständliche Plausibilität. Doch mit der steigenden Zahl von Akademikern geht vielfach eine Nivellierung ihres beruflichen Status einher, sie gleichen sich in Status und Einkommen Facharbeitern an. Dies erzeugt auch bei Akademikern den Anreiz, ihre Interessen gewerkschaftlich, also gemeinsam, zu vertreten. Umgekehrt erfordert es von Gewerkschaften, sich den Interessen von akademisch ausgebildeten Beschäftigten zu öffnen.
Nach wie vor sind die Normalarbeitsverhältnisse in den meisten Betrieben vorherrschend. Gleichwohl haben Beschäftigungsformen wie Zeitarbeit, Werkverträge, Mini- und Midijobs in den Betrieben zum Teil erhebliche Bedeutung. Die daraus resultierende Heterogenität der Belegschaften erschwert eine einheitliche Interessenvertretung durch Betriebsräte und Gewerkschaften, da widerstrebende Partikularinteressen zunehmen. Eine besondere Herausforderung bedeutet die Situation in den neuen Bundesländern. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer streckten die deutschen Gewerkschaften ihre Fühler in die sich wandelnde DDR aus und begannen informelle Kontakte zu knüpfen. Der streng zentralistisch geführte FDGB war als Teil des Herrschaftssystems der DDR nicht mit einem freien Gewerkschaftsbund wie dem westdeutschen DGB zu vergleichen. Die Arbeitnehmer misstrauten ihm vielfach. Das SED-Regime ließ weder Betriebsräte noch ein Streikrecht zu. Im Jahr 1990 eröffneten die DGB-Gewerkschaften Verbindungsbüros in Ostdeutschland und schufen damit die Grundlagen für einen späteren organisatorischen Zusammenschluss. Die westdeutschen Gewerkschaften hatten schon sehr früh Personal aus der Bundesrepublik in die DDR geschickt, um vor der anstehenden Wiedervereinigung die nach bundesdeutschem Recht zu wählenden Betriebsräte über die Besonderheiten des deutschen Arbeitsrechts zu informieren, und leisteten organisatorische Hilfe beim Aufbau demokratischer Gewerkschaften. Durch ihr oftmals improvisiertes Handeln konnten die DGB-Gewerkschaften den Schock des wirtschaftlichen Umbruchs in politischer und sozialer Hinsicht abdämpfen. Die anfänglich große Zahl von Gewerkschaftsmitgliedern in Ostdeutschland schrumpfte jedoch nach der Wiedervereinigung. Externe Faktoren wie Werkschließungen, Abweichungen vom System des Flächentarifvertrags durch OT-Mitgliedschaften [9] in den Arbeitgeberverbänden sowie die Verselbstständigung der betrieblichen Basis gerade in der dominierenden kleinbetrieblichen Landschaft der neuen Bundesländer können als Ursachen herangezogen werden. Aber auch die durch die Deindustrialisierung bedingte hohe Arbeitslosigkeit tat ihr Übriges, um den gewerkschaftlichen Organisationsgrad in Ostdeutschland zu verkleinern. Der beschwerliche Weg zur Erlangung eines gleichen Gehaltsniveaus in Ost und West ist für die Gewerkschaften trotz vieler kleiner Schritte Richtung Niveauanpassung eine bleibende Herausforderung, die sich aber je nach Region und Branche höchst unterschiedlich darstellt.
Auch Veränderungen in der Betriebsorganisation führen zu neuen Handlungsfeldern für Mitarbeitervertretungen. In der heutigen technologisch anspruchsvollen, häufig arbeitsteiligen Produktion mit ihren komplexen digitalisierten Prozessen und ihrer dezentralen Organisation müssen die Beschäftigten häufig mehr Verantwortung übernehmen. Grundsätzlich führt dies zu einer größeren Souveränität der Beschäftigten und zu verstärkter Projekt- und Teamarbeit. Hinzu kommt, dass mit der höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie der räumlichen und zeitlichen Entgrenzung der Arbeit auch die veränderte Arbeitsteilung innerhalb der Familie sowie zwischen Familien- und Erwerbsarbeit zu einem gewerkschaftlichen Thema wird. Gewerkschaften richten ihr Augenmerk immer stärker auf die Gestaltung der Arbeitswelt und der Arbeitsbedingungen mit ihren Auswirkungen auf die Balance von Erwerbs- mit Familien- und Sorgearbeit. So rücken für gewerkschaftliche Interessenvertretungen die Veränderungen in der Arbeitswelt und der Unternehmenskultur stärker in den Blick.
Die gewerkschaftliche Mitgliedschaft spiegelt zum Teil immer noch die Sozialstruktur einer männlich dominierten Facharbeiterschaft wider. Doch vollzieht sich gewerkschaftliches Engagement heute vor dem Aufbrechen klassischer Sozialmilieus. Die zunehmende Individualisierung führt zu einem Mentalitätswandel mit einer größeren Vielfalt an Lebensstilen und Wertorientierungen. Ein gewerkschaftliches Engagement ist heute nicht mehr selbstverständlich. Um handlungsfähig zu bleiben, wenden sich die Gewerkschaften vor allem in Dienstleistungsbereichen früher für sie untypischen Gruppen zu. So sind sie auch bestrebt, den Anteil weiblicher Mitglieder zu erhöhen. Dies entspricht der gewachsenen Bedeutung von Frauen in der Erwerbsarbeit und ist deshalb ein wichtiges gewerkschaftliches Anliegen.
Die Mitgliedergewinnung wurde zu einem wichtigen integralen Bestandteil gewerkschaftlicher Arbeit. Die Gewerkschaften müssen heute mehr denn je den Spagat leisten, für die traditionellen wie auch für die neuen Beschäftigtengruppen, insbesondere Frauen und junge Akademiker, attraktiv zu sein. Im Gegensatz zu industriellen Großbetrieben ist vor allem der Dienstleistungsbereich mit seiner kleinteiligen Unternehmensstruktur und seinen vielen atypischen Beschäftigungsverhältnissen wesentlich schwerer gewerkschaftlich zu organisieren. Trotz vieler Schwierigkeiten fruchten die gewerkschaftlichen Modernisierungsanstrengungen, die Krise und ihre Bewältigung zeigten den Wert von Solidarität und Gewerkschaft. Befördert durch den wirtschaftlichen Aufschwung nach der Krise, konnten einige DGB-Gewerkschaften wieder steigende Mitgliederzahlen vorweisen.
In unterschiedlichsten Formen und konzeptionellen Ansätzen suchten die DGB-Gewerkschaften seit Beginn der 90er Jahre nach neuen Wegen, um ihre Mitgliederbasis und ihre Handlungskraft zu stärken. Gewerkschaftsfusionen sollten den vor allem durch den Strukturwandel ausgelösten Mitgliederschwund stoppen und ihre politische Durchsetzungskraft erhalten. Eine behutsame Veränderung der über Jahrzehnte gewachsenen innergewerkschaftlichen Strukturen und Kulturen war notwendig geworden. Dabei wurde die klassische gewerkschaftliche Stellvertreterpolitik um Elemente direkter Partizipation ergänzt, Mitglieder wurden verstärkt und unmittelbarer eingebunden.
3.5.2 Das Tarifvertragssystem im Wandel
Der Flächentarifvertrag ist seit Jahrzehnten das prägende Merkmal der Arbeitsbeziehungen in der deutschen Wirtschaft. Im Rahmen der Tarifautonomie verhandeln deshalb Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ohne Einmischung Dritter. Allerdings befindet sich das deutsche Tarifvertragssystem seit zwei Jahrzehnten in einem schleichenden Erosionsprozess. Zwar existieren in Deutschland ca. 68.000 Tarifverträge, allerdings ist seit einigen Jahren eine leicht abnehmende Tarifbindung der Unternehmen zu beobachten. Derzeit gelten nach Feststellung des IAB für 80 % aller Beschäftigten unmittelbar oder mittelbar Tarifverträge. Die Ursachen für die abnehmende Tarifbindung sind vielfältig. Austritte von Betrieben aus der Tarifbindung werden oft mit angeblich nicht tragbaren Bedingungen der Tarifverträge, vor allem bei der Arbeitszeit, begründet. Zum anderen befürchten viele junge, noch nicht tarifgebundene Unternehmen, dass sich das wachsende Bedürfnis nach betrieblicher Flexibilität in einer schnelllebigen, arbeitsteiligen und globalen Wirtschaft nicht ausreichend mit Tarifverträgen vereinbaren lasse. Die Arbeitgeberverbände haben zum Teil für solche Betriebe eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung angeboten. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände treten mit der Modernisierung der Tarifverträge gemeinsam für eine stärkere Tarifbindung ein.
Grundsätzlich sind die Tarifverträge flexibler und innovativer geworden. Durch Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen kann notleidenden Unternehmen in einem geordneten Verfahren, etwa durch eine befristete Absenkung der Entgelte oder eine temporäre Anhebung der Arbeitszeiten, geholfen werden. Andererseits sind die Sozialpartner immer wieder in der Lage, mit innovativen Tarifwerken, wie zum Beispiel zum demografischen Wandel, maßgeschneiderte Lösungen für die Unternehmen einer Branche anzubieten. Sie sind also in der Lage, gesellschaftliche Veränderungen in den Tarifverträgen zu berücksichtigen.
Wesentlich für das Wirken der Gewerkschaften ist das rechtlich verankerte Streikrecht. In Situationen, in denen keine Einigung durch Gespräche allein zwischen den Tarifparteien erzielt werden kann, können die Gewerkschaften unter genau geregelten Bedingungen nach dem Scheitern einer Schlichtung ihre Mitglieder zum Streik aufrufen. Unter gewissen Umständen können darauf die Arbeitgeber mit Aussperrung antworten. Der Streik ist kein Selbstzweck. Er dient der Erzwingung einer Einigung, die sonst blockiert wäre. Insofern manifestiert sich im Streikrecht die Zivilisierung des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital. Sozialethisch ist das Streikrecht deswegen von hoher Dignität, da es die strukturell Schwächeren im Konflikt schützt. Es bleibt allerdings dem Ziel einer Einigung im Interesse beider Seiten untergeordnet. Wo sie gelingt, muss nicht gestreikt werden.
Dem Streikrecht der Gewerkschaften bzw. der Arbeitnehmer entspricht das Aussperrungsrecht der Arbeitgeber. Im internationalen Vergleich werden Konflikte zwischen den Tarifpartnern und in den Unternehmen nur selten durch Streik und Aussperrung gelöst. Die partnerschaftliche Lösung steht im Vordergrund. Dies liegt im ausgewogenen System der Arbeitsbeziehungen in Deutschland begründet, das über die starke institutionelle Einbettung der Gewerkschaften wie auch strenge rechtliche Vorgaben im Streikfalle eine dämpfende Wirkung entfaltet.
Der konsensorientierten und partnerschaftlichen Lösung von Arbeitsrechtskonflikten ist im kirchlichen und diakonischen Bereich das System des Dritten Weges verpflichtet, das auf dem Gedanken der kirchlichen Dienstgemeinschaft beruht. In den Arbeitsrechtsregelungsverfahren nach dem kirchlichen Dritten Weg stehen sich die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Absatz 3 GG) und das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen (Art. 140 GG i. V. m. Art 137 Absatz 3 WRV) gegenüber und müssen miteinander in Ausgleich gebracht werden. In der Auseinandersetzung darüber war das Urteil des BAG vom November 2012 weiterführend, in dem den Kirchen ein Streikausschluss für den Fall zugestanden wurde, dass sie im Dritten Weg den Gewerkschaften ausreichende Möglichkeiten der koalitionsmäßigen Betätigung bieten. Funktional kann das Streikrecht durch eine Schlichtungsregelung ersetzt werden, die für alle Beteiligten verbindlich ist.
Gegenwärtig geht es nach diesem Urteil des Bundesarbeitsgerichts darum, die Gewerkschaften als kollektive Interessenvertreter in Konfliktregelungen im Dritten Weg zu integrieren, und auf diese Weise die vom Gericht anerkannten Besonderheiten des kirchlichen Selbstverständnisses, wie beispielsweise den Verzicht auf Streiks, mit den gewerkschaftlichen Interessen in Einklang zu bringen. In einigen EKD-Gliedkirchen und deren Diakonie ist die Beteiligung der Gewerkschaften am Dritten Weg bereits seit Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts vorgesehen und hat phasenweise gut funktioniert. Das von der EKD-Synode 2013 verabschiedete Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz (ARGG) sieht nach dem Erfurter Urteil nun zwei Möglichkeiten der Arbeitsrechtsgestaltung vor: den Weg einer Novellierung des klassischen Dritten Weges mit erhöhten Rechten für die Gewerkschaften oder den Weg von kirchengemäßen Tarifverträgen, die sich näher an den Regelungen des säkularen Bereichs orientieren können. In beiden Fällen bleibt es jedoch dabei, dass Streiks ausgeschlossen sein sollen. Tatsächlich haben sich die meisten Landeskirchen für die erste Option entschieden.
Der Weg kirchengemäßer Tarifverträge hat Tradition in den Kirchen von Nordelbien und Berlin-Brandenburg. Inzwischen verhandeln aber auch die Landeskirchen in Niedersachsen über einen modifizierten, kirchengemäßen zweiten Weg; ein erster mit Ver.di ausgehandelter Tarifvertrag liegt vor. Dabei verzichtet die Gewerkschaft zwar nicht förmlich auf einen Streik, aber die Schlichtungsregelungen sind so gestaltet, dass ein Streik unwahrscheinlich wird. Zur Etablierung dieses Modells bedarf es eines erheblichen Vertrauens zwischen den Sozialpartnern. Eine gemeinsame Zielsetzung diakonischer Unternehmen und Arbeitnehmervertretungen in Niedersachsen ist der Abschluss eines Tarifvertrags Soziale Dienste. Auf diese Weise sollen der Sorgemarkt insgesamt stabilisiert, die Arbeitsbedingungen auf einem akzeptablen Mindestniveau gesichert und ein weiterer Verdrängungswettbewerb auf Kosten der Arbeitnehmer vermieden werden.
3.5.3 Die Rolle von Betriebs- und Personalräten
Zur Kultur der Sozialpartnerschaft gehören nicht nur Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände auf Spitzenebene, sondern auch Geschäftsführungen und Betriebsräte auf lokaler Ebene. Hierin manifestiert sich das deutsche Modell der Mitbestimmung. Ohne die Verankerung vor Ort bliebe Sozialpartnerschaft nur eine Worthülse ohne realen Bezug. In Deutschland engagieren sich Menschen in über 100.000 Gremien ehrenamtlich in den Betriebs- und Personalräten. Allerdings nehmen die weißen Flecken ohne eine betriebsrätliche Vertretung zu. Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen sowie in neuen Branchen sind Betriebsräte und Gewerkschaften vereinzelt nicht vorhanden, entweder weil die Belegschaften das nicht wollen, oder weil sie aktiv durch Arbeitgeber bekämpft werden. Zwar existieren auch gerade dort alternative Vertretungsorgane, die allerdings als freiwillige Einrichtungen der Unternehmen nicht die rechtlichen Möglichkeiten eines Betriebs- oder Personalrates haben; sie sind im Konfliktfall schlechter gestellt.
Formal sind die Betriebs- und Personalräte unabhängig von den Gewerkschaften. Sie sind als von der Belegschaft periodisch gewählte Vertreter legitimiert und agieren auf Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes bzw. der Personalvertretungsgesetze. Für Betriebsräte und Personalräte spricht, dass die alle vier Jahre stattfindenden Wahlen sich durch hohe Wahlbeteiligung auszeichnen. Neben den lokalen Betriebsräten existieren auf Unternehmens- bzw. Konzernebene oft Gesamt- und Konzernbetriebsräte. Seit den 90er Jahren können unter bestimmten Voraussetzungen auch Europäische Betriebsräte etabliert werden. Doch auch wenn die duale Interessenvertretung von Betriebsräten und Gewerkschaften durch eine hohe formale Trennung beider Sphären gekennzeichnet ist, sind Gewerkschaften und Betriebsräte in der Praxis vielfach miteinander verwoben. Es handelt sich hier um eine hochkomplexe Symbiose beider Säulen der Interessenvertretung. Einerseits haben die Gewerkschaften ihre Mitglieder in den Unternehmen und beraten die Betriebsratsgremien fachlich; andererseits ist das Gros der Betriebsräte gewerkschaftlich organisiert und übt dort oft ehrenamtliche Funktionen aus, wie etwa in Tarifkommissionen oder als Delegierte auf Gewerkschaftskongressen. Betriebsräte sind neben den eher in Großbetrieben vorzufindenden gewerkschaftlichen Vertrauensleuten diejenigen, die sich um die Ansprache potenzieller Gewerkschaftsmitglieder am Arbeitsplatz kümmern. Daher wird der Betriebsrat von der Belegschaft oft als der eigentliche Gewerkschaftsvertreter angesehen.
Das Betriebsverfassungsgesetz geht vom Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit von Betriebsrat und Geschäftsführung aus. Prinzipiell ist die Kultur der betrieblichen Arbeitsbeziehungen auf Ausgleich und Verständigung ausgelegt, was Konflikte von der Einigungsstelle bis hin zum Arbeitsgericht jedoch nicht ausschließt. Dabei ist die Verbindlichkeit des Arbeitsrechts ein hohes Gut bei der Konsensbildung, da die Partner unter diesen institutionellen Rahmenbedingungen auf die Verbindlichkeiten von Abmachungen vertrauen können. In jüngster Zeit sind die Konfliktfelder durch geänderte Produktionskonzepte, sich wandelnde Unternehmensstrukturen, Ausgliederungen, Flexibilisierungen der Arbeitszeiten, leistungsabhängige Entgelte und neue Managementsysteme im Zuge der Digitalisierung geprägt. Die Fragestellungen und Themen für die Betriebsratsgremien werden daher immer anspruchsvoller und zeitintensiver, sodass ein permanenter Weiterbildungs- und Beratungsbedarf besteht. Die Beratung und das Weiterbildungsangebot werden in der Mehrzahl der Fälle durch die Gewerkschaften bereitgestellt.
Die Wechselbeziehungen von Gewerkschaften und Betriebsräten haben in den letzten Jahren an Komplexität zugenommen. Auch durch die Flexibilisierung des Flächentarifvertrags mittels Öffnungsklauseln wurde die Rolle der Betriebsräte inhaltlich immer anspruchsvoller, da sie nun durch ihre zusätzlichen Regelungskompetenzen mehr Verantwortung tragen. Ob damit die Betriebsräte heute Co-Manager sind, ist durchaus umstritten und variiert von Fall zu Fall. Sicherlich müssen die Betriebsratsgremien immer höheren fachlichen Anforderungen und der immer stärkeren Ausdifferenzierung der Belegschaften Rechnung tragen. Innerhalb stark fraktionierter und selbstbewusster Belegschaften wird eine einheitliche Interessenvertretung für Betriebsräte wie auch Gewerkschaften schwieriger.
3.5.4 Die Zukunft der Tarifpartnerschaft
Die Tarifparteien in Deutschland fühlen sich dem Modell einer Sozialpartnerschaft verpflichtet. Soll diese Partnerschaft auf Augenhöhe erfolgen, schließt dies die Fähigkeit und Bereitschaft beider Seiten zum Umgang mit Konflikten ein. Diese Konflikte, die aus den unvermeidbaren Interessengegensätzen von Arbeit und Kapital herrühren, sind aber im Rahmen der Sozialpartnerschaft »zivilisiert« worden, um ein Ausufern zum Schaden der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft zu vermeiden. Soziale Partnerschaft im engeren Sinne bezieht sich auf die Tarifparteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Eingebettet in die Idee einer sozialen Marktwirtschaft, prägt diese Haltung auch den Umgang der Tarifparteien mit der Politik, es herrscht eine Balance von Konflikt- und Kooperationsbereitschaft.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Sozialpartner und die Politik in zwei Schlüsselsituationen, Agenda 2010 und Finanzmarktkrise, unterschiedlich reagiert. So wurde die Debatte um die Deregulierung des Arbeitsmarktes im Zuge der Agenda 2010 im Konflikt entschieden. Entgegen den Wünschen der meisten Gewerkschaften und mehr im Sinne der Arbeitgeber wurde der Arbeitsmarkt in vielfältiger Weise dereguliert. Die Hoffnung war, dass auf diese Weise die Arbeitslosigkeit deutlich reduziert würde. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit seit dem Inkrafttreten der Agenda 2010 deutlich zurückgegangen und die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat deutlich zugenommen. Ob dies allerdings eine Folge der Agenda 2010 oder vielmehr das Resultat der Tarifpolitik der letzten Jahre sowie der konsensualen Überwindung der Finanzmarktkrise ist, bleibt sowohl wissenschaftlich als auch politisch nach wie vor heftig umstritten.
Das liegt auch daran, dass die Effekte der Agenda 2010 von der zweiten Schlüsselsituation des vergangenen Jahrzehnts überlagert wurden. Die Finanzmarktkrise wurde von Sozialpartnern und Politik in kooperativer Weise überwunden. Flexibilisierte Arbeitszeiten, Kurzarbeit, Abwrackprämie und diverse Konjunkturprogramme wurden im Konsens beschlossen. Inmitten der Krise begann sich die Beschäftigungsentwicklung in Deutschland zum Teil deutlich von jener in anderen Volkswirtschaften abzusetzen. Dies kann als Erfolg der Sozialpartnerschaft angesehen werden, die sich so unter schwierigen Umständen bewährt hat. Diese Entwicklung darf als Beispiel für die Produktivkraft einer Konsensbildung im Wirtschaftsgeschehen gelten.
Nach der erfolgreichen Bewältigung der Wirtschaftskrise gilt das Modell Deutschland als internationales Vorbild.
Die Krise hat bewiesen, dass das deutsche System der Mitbestimmung und Mitverantwortung in der Lage ist, sozialpartnerschaftliche Lösungen herbeizuführen, die in die Zukunft tragen. Den wirtschaftlichen Strukturwandel haben Gewerkschaften und Betriebsräte mitgestaltet und dazu beigetragen, dass Deutschland nicht wie andere europäische Staaten deindustrialisiert wurde. Als zukunftsfähig hat sich auch die Tarifpolitik der Tarifpartner in den letzten Jahren erwiesen, die in Deutschland praktizierte Tarifautonomie wird in vielen Ländern als vorbildlich angesehen.
In den letzten Jahren gab es aber zugleich Entwicklungen, die die Tarifautonomie beeinträchtigen. Dazu gehören neben der Erosion des Tarifsystems durch eine nachlassende Tarifbindung die Entwicklung von kleinen Berufs- und Spartengewerkschaften. Die etablierten DGB-Gewerkschaften kamen zum Teil in eine Sandwichposition, da sie von kleinen Gewerkschaften einem Unter- wie Überbietungswettbewerb ausgesetzt waren. Einerseits haben die »christlichen Gewerkschaften« mit niedrigen Tarifen, beispielsweise im Bereich der Zeitarbeit und der Logistik, einen Unterbietungswettbewerb betrieben, andererseits haben Spartengewerkschaften mit oft exorbitant hohen Tarifforderungen für einzelne Berufsgruppen und kleine Teile der Belegschaft agiert.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Abkehr vom lange gültigen Prinzip der Tarifeinheit durch eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes die Entwicklung von Spartengewerkschaften begünstigt. Damit sind konkurrierende Tarifverträge für kleine Teile der Belegschaft in einem Unternehmen möglich, obwohl mit der repräsentativen Gewerkschaft für den ganzen Betrieb und alle Arbeitnehmer dieses Betriebes Tarifverträge abgeschlossen sind. Diese Entwicklung ist für Gewerkschaften wie für Arbeitgeberverbände besorgniserregend, da kleine Spartengewerkschaften oftmals ein erhebliches Erpressungspotenzial zu Lasten der Gesamtbelegschaften einsetzen können. Zugleich können durch Berufsgruppengewerkschaften Tarifauseinandersetzungen radikalisierend wirken und die Balance zwischen Konflikt und Kooperation gefährden. Wenn ein Flächentarifvertrag, der für den ganzen Betrieb und alle Arbeitnehmer des Betriebes gilt, während seiner Laufzeit durch eine kleine Berufsgruppe des Betriebes jederzeit außer Kraft gesetzt werden kann, verliert die Tarifbindung für Arbeitgeber ihre Bindungskraft, weil sie trotz laufenden Tarifvertrages jederzeit in einen Arbeitskampf verwickelt werden können. Hinzu kommt, dass ein Überbietungswettbewerb der konkurrierenden Gewerkschaften die wirtschaftliche Existenz der Unternehmen gefährden kann. Ohne Tarifeinheit drohen Eigeninteressen von Berufsgruppen die betriebliche Solidarität auszuhöhlen, konkurrierende Gewerkschaften mit konkurrierenden Tarifverträgen in Betrieben und Branchen können zu schweren wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen führen. Ohne die gesetzliche Wiederherstellung der Tarifeinheit droht daher eine weitere Erosion des Tarifsystems.
Insgesamt aber ist, wie oben dargestellt, die Tarifautonomie in Deutschland im Wesentlichen durch die Einheitsgewerkschaften geprägt. Spartengewerkschaften müssen in einer funktionierenden Tarifautonomie eine Ausnahme bleiben. Denn nur so kann die Suche nach konsensualen Lösungen im vertrauenswürdigen Umfeld der Sozialpartnerschaft umgesetzt werden und ihre positive Wirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung entfalten.
3.5.5 Fazit
Die Hauptfunktion von Gewerkschaften besteht in der Interessenvertretung und Sicherung der Teilhabe der abhängig Beschäftigten in der Wirtschaft. In diesem Sinn versuchen sie vornehmlich, für die materiellen Interessen der Arbeitnehmerschaft einzutreten und an einer sozial gerechten Verteilung der Einkommen aus Arbeit mitzuwirken. Die Handlungsmacht von Gewerkschaften wie auch ihre Legitimität aus Sicht der Mitglieder liegt wesentlich in der Solidarität begründet. Darüber hinaus leisten die Gewerkschaften als gesellschaftlicher Ordnungsfaktor einen wesentlichen Beitrag zum Gemeinwohl. Die Mitarbeit in den Gewerkschaften bietet Arbeitnehmern die Möglichkeit, sich vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Arbeit am Diskurs über das Verständnis von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu beteiligen und an der Weiterentwicklung dieser Wertvorstellungen sowie ihrer gesellschaftlichen Verwirklichung mitzuarbeiten. Insofern bieten die Gewerkschaften eine wichtige Plattform, um gesellschaftspolitisch aktiv zu werden und die gesellschaftliche Entwicklung gemeinsam mit Menschen anderer Denkvoraussetzungen und weltanschaulicher Prägung mitzubestimmen. Speziell die deutsche Tradition der Einheitsgewerkschaft bietet dafür seit 1945 besonders günstige Anknüpfungspunkte.
Indem die Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder auch in den sozialen Institutionen der Gesellschaft, wie der sozialen Selbstverwaltung, vertreten, haben sie sich gleichzeitig als bedeutender Ordnungsfaktor der bundesdeutschen Wirtschaft bewährt. Dass die Gewerkschaften diese Rolle angemessen spielen, beruht wesentlich auf ihrer Organisationsstärke, sodass sie nur vor dem Hintergrund einer angemessenen Repräsentation der Interessen ihrer Mitglieder als interessenpolitischer Machtfaktor im Zusammenspiel mit der Arbeitgeberseite verstanden werden können. In der Konsequenz der Orientierung an den Interessen der Mitglieder ist es daher auch notwendig, die Legitimität dieser Interessen im Sinne einer eigenen Wertekultur zu pflegen. Gewerkschaften tun dies, indem sie sich als Wertegemeinschaften verstehen. Dabei betonen sie in besonderer Weise die Wertetrias von Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit, wobei der Wert der Solidarität in historischer wie auch in systematischer Perspektive den Ausgangspunkt bildet. Gewerkschaftliche Solidarität ist wesentlich von dem Gedanken der wechselseitigen Unterstützung und Hilfe bestimmt und basiert auf einer gemeinsamen Identität, die gegenseitige Loyalität und im Notfall verlässliche Unterstützung garantiert.
Aus kirchlicher Sicht sind gewerkschaftliche Aktivitäten, die über eigene Mitglieder- und Gruppeninteressen hinaus auch die Anliegen schwächerer gesellschaftlicher Gruppen einschließen, ausdrücklich zu unterstützen. Diese Perspektive darf allerdings nicht gegen das legitime Eintreten für die eigenen Interessen, wie es für die Gewerkschaftsbewegung charakteristisch ist, ausgespielt werden. Die Ausgegrenzten, die keine reale Chance haben, ihre eigenen Interessen wirkungsvoll zu vertreten, bedürfen der Solidarität starker Gemeinschaften, wie der Gewerkschaften, aber auch der Kirchen und anderer Gruppen. Wettbewerbsfokussierte Globalisierungstendenzen einerseits und zunehmende Autarkie und Individualisierung andererseits stellen die Bemühungen um Solidarität außerhalb der Eigeninteressen gegenwärtig vor große Herausforderungen.