Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt
Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. April 2015, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05977-8
4.2 Bewertung der Arbeitswelten
Thesen Kapitel 4.2:
Evangelische Sozialethik wird konkret, indem sie ethische Kriterien benennt, an denen sie die Arbeitswelten in ihren Umbrüchen misst. Die Ansprüche der Beschäftigten an Arbeitsinhalt, -Organisation und -bedingungen sind dabei grundlegend. Ins rechte Verhältnis zu den unternehmerischen Möglichkeiten gesetzt, ergeben sich Standards guter Beschäftigung. Bei Konflikten ist die sozial verantwortliche Partnerschaft der Tarifparteien so zur Geltung zu bringen, dass konstruktive Lösungen gefunden werden. Diese müssen auch auf Menschen ausstrahlen, die »außerhalb« unseres Arbeitsmarktes stehen. Maßstab ist die Balance zwischen Selbstbestimmung und Solidarität.
Arbeit und ihre Organisation müssen sich neben ökonomischem Erfolg und »gerechtem« Lohn an den Ansprüchen der Beschäftigten messen lassen. Diese sind ins Verhältnis zu den Möglichkeiten des Unternehmens zu setzen, woraus Standards gewonnen werden können, die sich zu Maximen einer produktiven Unternehmenskultur weiterentwickeln lassen. Mit dem Verfahren »ARBEIT PLUS« hat die evangelische Kirche in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Arbeitgebern ein Instrument entwickelt, um Beispiele guter Praxis zu entdecken, zu fördern und öffentlich anzuerkennen. Zu Standards ansprechender Gestaltung von Arbeitsverhältnissen gehören die Sicherheit von Arbeit und die Qualität von Beschäftigung, Autonomie und Kooperation, Einkommen und Arbeitsinhalte, Ex- und Intensivierung der Arbeit, körperliche und andere Belastungen, Karrieremöglichkeiten und ganz allgemein das Betriebsklima.
4.2.1 Die individuelle Ebene: Beruflichkeit
In christlicher Perspektive steht der einzelne Mensch im Zentrum der Arbeitsorganisation, Individualität muss sich entfalten können, Partizipation erlebbar sein. Produktiv sind Menschen dann, wenn sie sich selbst in der Arbeit entfalten und darin Sinn erkennen können, auch wenn die eigene Arbeit in hoch differenzierten Wertschöpfungsketten kleinteilig gestaltet ist. Entscheidend ist, dass Unternehmenszweck und Arbeitnehmerbedürfnisse aufeinander bezogen werden. Wichtigstes Medium der Wertschöpfung bleibt der Mensch in seiner unauflöslichen Beziehung zu den natürlichen Lebensgrundlagen.
Dabei haben sich vielfältige neue Möglichkeiten entwickelt: Bildungs- und Berufswege sind durchlässiger geworden, die technischen Rahmenbedingungen haben die Unabhängigkeit von Arbeitsort und -zeit erhöht. Mit der Freiheit sind die Chancen gewachsen, eigene Ideen einzubringen und zu verwirklichen. Flache Hierarchien und neue Netzwerke ermöglichen selbstbestimmte Kooperation. Nicht nur in der Medien- und IT-Branche finden sich selbstbewusste Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihre Kreativität entwickeln und einsetzen können. Wo das gelingt, finden Menschen eine Erfüllung in der Arbeit, die ihrer inneren Berufung nahe kommen kann. Für viele Menschen ist Arbeit heute weit mehr als eine entfremdete Tätigkeit - für noch mehr könnte und sollte sie es sein.
Im Verständnis von Arbeit als Beruf drückt sich aus, dass Arbeit mehr ist als die Verfügung über ein technisches Machbarkeitswissen. Aber der Beruf unterliegt bis heute vielfältigen Entwicklungen - manche Berufe verschwinden, andere entstehen neu. Viele Menschen erlernen im Laufe ihres Lebens mehrere Berufe, manches Mal aus freier Entscheidung, manches Mal, weil ihr Ausbildungsberuf vom Markt verschwindet. Andere Berufstätige üben in einem Ursprungsberuf sehr unterschiedliche Tätigkeiten aus und erleben das als Bereicherung. Entscheidend ist, dass Berufstätige Unterstützung bekommen, damit sie beim Wechsel von Arbeitsaufgaben, von Arbeitsplatz oder Beruf ihre Professionalität und Beschäftigungsfähigkeit (Employability) unter veränderten Anforderungen aufrechterhalten und weiterentwickeln.
Der Transfer beruflicher Qualifikationen ist in diesem Prozess von besonderer Bedeutung. Während klassische Professionen und Ausbildungsberufe ständisch oder in Verbänden organisiert sind und damit einen institutionellen Rückhalt auch in Veränderungen haben, tragen geringer qualifizierte Menschen ein höheres Risiko, bei einem Strukturwandel ihre Beschäftigungsfähigkeit zu verlieren. Dieses Risiko erhöht sich noch bei jenen, die in ihrer Berufsbiografie befristet beschäftigt sind, die längere Phasen von Arbeitslosigkeit aufweisen oder ein Arbeitsverhältnis in der Zeitarbeit haben. Es ist wünschenswert, dass Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sich noch stärker für diese Menschen engagieren.
Frustrationserfahrungen angesichts ungenutzter eigener Potenziale, Überforderung oder übermäßiger Leistungserwartung wirken häufig so demotivierend auf die Beschäftigten, dass aus mangelnder Identifikation mit Beruf, Aufgabe und Unternehmen mangelnde Qualität der Produkte und Dienstleistungen entsteht. Solche Frustration braucht ein Gegenüber; Betriebs- und Personalräte wie auch Gewerkschaften sind wichtige Ansprechpartner und können zu tragfähigen Lösungen beitragen, die die Würde der Arbeit und der Person sichern.
4.2.1.1 Aus- und Weiterbildung
Zur beruflichen Entwicklung gehören Angebote der Aus- und Weiterbildung, um den Anforderungen jetzt und auf Dauer gerecht zu werden. Eine solide Ausbildung bietet die beste Basis, möglichst lange im gewählten Beruf zu verbleiben oder auf dem erworbenen Qualifikationsniveau wechseln zu können. Trotz allen Wandels und aller Dynamik gewährleistet der gegenwärtige Arbeitsmarkt eine hohe berufliche Stabilität für Hochqualifizierte. Dies wird auch an der zuletzt deutlich gestiegenen Verweildauer von Beschäftigten in einem Unternehmen deutlich; aktuell beträgt sie durchschnittlich 11,2 Jahre.
Ein großes Problem bleibt jedoch die Tatsache, dass nach wie vor Bildungschancen vom sozialen Stand der Eltern abhängen und viele Jugendliche ohne eine Ausbildung bleiben, die für einen Arbeitsplatz qualifiziert. 2013 verließen 5,2% der Schüler die Schule ohne einen Hauptschulabschluss. Zudem befanden sich zu dieser Zeit 257.600 Schüler im »Übergangsystem«. Ohne anerkannte Abschlüsse finden sie aber zu selten Anschlüsse, die sie dauerhaft in angemessen vergütete Erwerbstätigkeit bringen. Aus diesem Grund ist besonderes Augenmerk darauf zu richten, dass und wie diese Personen qualifizierende Schulabschlüsse erlangen. Besonderer Anstrengungen bedarf es auch für die Jugendlichen, die Förderschulen besuchen.
Das duale Bildungssystem hat sich in der nationalen Bildungslandschaft als eine feste Größe etabliert und leistet einen umfassenden Beitrag zu Wohlstand, sozialer Stabilität und zur internationalen Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Vor allem aber hat das duale Ausbildungssystem einen wesentlichen Anteil am hohen Bildungsniveau in
Deutschland. Rund 80% der Deutschen im erwerbsfähigen Alter haben mindestens einen Abschluss der Sekundarstufe II und verfügen damit über Hochschulreife oder abgeschlossene Berufsausbildung. Wie erfolgreich diese Struktur ist, zeigen auch internationale Vergleichsstudien zur Jugendarbeitslosigkeit. Das hiesige duale Berufsbildungssystem ist danach europaweit vorbildlich, da in Deutschland die Integration von Jugendlichen mit einer abgeschlossenen Ausbildung in den Arbeitsmarkt besonders gut gelingt. Derzeit befinden sich in Deutschland 1,4 Millionen Jugendliche in einer Berufsausbildung im dualen System in Handwerk, Industrie, Handel, Banken und Versicherungen. Allein das Handwerk bildet gegenwärtig 400.000 Jugendliche aus, mehr als die Hälfte von ihnen waren »Hauptschüler«. Die Unternehmen benötigen aber zunehmend mehr ausbildungsstarke Jugendliche. So entdecken Handwerk und Unternehmen anderer Wirtschaftsbereiche in Zusammenarbeit mit Universitäten und Hochschulen auch Studienabbrecher als neue Zielgruppe und informieren sie über die Chancen der beruflichen Bildungswege. Handwerk, Industrie und andere Bereiche der Wirtschaft bieten zusätzlich zum klassischen Modell auch längst duale oder gar triale Studiengänge mit beruflichen und akademischen Abschlüssen.
4.2.1.2 Entgrenzung und Autonomie
Die Selbstbestimmung, die heute an vielen Arbeitsplätzen gewonnen wurde, sollte weiter ausgebaut werden. Deswegen gilt es, alle Möglichkeiten des Sich-Einbringens und der Verwirklichung eigener Fähigkeiten im Unternehmen zu fördern und zu nutzen. Selbststeuerungskompetenzen sind unverzichtbar, wenn die neuen Freiheiten nicht zum Schaden führen sollen. Hier liegen große Aufgaben für Unternehmen, Gewerkschaften, aber auch für die entsprechenden Einrichtungen der Kirchen.
4.2.1.3 Haus- und Sorgearbeit
Volkswirtschaftlich gesehen übertrifft der zeitliche Umfang der Haus- und Sorgearbeit bei Weitem den der Erwerbsarbeit. Obwohl Haus- und Sorgearbeit für das Leben der Menschen fundamental sind, sind sie deutlich geringer bewertet als produzierende Tätigkeiten, nicht nur finanziell. Sie bedürfen dringend der gesellschaftlichen Aufwertung. Bei Familienarbeit, Erziehung und Pflege geht es im Privaten wie im Dienstleistungssektor um eine »Koproduktion zwischen Arbeitnehmer und Klient«, die von der konkreten Situation und Person nicht ablösbar sind. Diese Arbeit erfordert grundsätzlich Empathie und setzt daher eine höhere Identifikation der Beschäftigten mit ihrer Arbeit voraus. Weil hier die ganze Person in Anspruch genommen wird, sollte auch in der Haus- und Sorgearbeit durchgängig von Berufen gesprochen werden. Eine bessere gesellschaftliche Anerkennung der Sorge-Berufe muss aktiv von allen gesellschaftlichen Akteuren gefördert werden, auch damit die mangelnde Wertschätzung im materiellen wie immateriellen Bereich endlich beendet wird.
4.2.2 Die kooperative Ebene: Arbeit als Gemeinschaftswerk
Die verstärkte Individualisierung und Selbststeuerung der Arbeit vollzieht sich im Kontext des weltweit verschärften Wettbewerbs und erfordert die Flexibilisierung von Arbeitsbeziehungen. Dauerhaft gefährdet sind allerdings eingespielte Routinen der Kooperation, weswegen die Fähigkeit zum Wandel für den Verbleib von Unternehmen und Beschäftigten am Markt entscheidend ist. Gerade weil Arbeit aber nur als Kooperation funktioniert, müssen die Beteiligten bei Anpassungs- und Umstrukturierungsprozessen in einer fairen und kommunikativen Weise einbezogen sein. Mitbestimmungs- und Partizipationsverfahren sollten in diesen Fällen auch im globalen Maßstab als hilfreich und nicht als störend verstanden werden.
4.2.2.1 Niedriglohnsektor, Leiharbeit und Befristungen
Der auf hohem Niveau verharrende Niedriglohnsektor stellt in Deutschland eine große politische Herausforderung dar. Vereinzelte Entwicklungen bedrohen Würde und Wert der Arbeit insgesamt: Berufliche Qualifikationen werden durch Beschäftigung unter Wert beeinträchtigt und solidarische Kooperationen abgewertet. Ob die Reform des SGB II zu dieser Entwicklung beigetragen hat, indem der Druck zur Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses auch unterhalb der erworbenen Qualifikation erhöht wurde, ist nach wie vor strittig. Vielen gelingt zwar der berufliche Einstieg besser als zuvor, nicht wenige aber verbleiben mit geringen Aufstiegschancen in unsicherer Beschäftigung. Insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Kindern bedürfen oft weiterhin staatlicher Unterstützung, speziell Alleinerziehende. Die Aufstockung von Einkommen durch die staatliche Grundsicherung erfolgt vor allem zur Unterstützung von Familien. Aufstockung verhindert damit Armut trotz Arbeit. Selbstverständliches Ziel muss dabei bleiben, dass jeder Vollzeitbeschäftigte von seinem Einkommen auch seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Der gesetzliche Mindestlohn seit Januar 2015 kann vielen Beschäftigten im Niedriglohnbereich ein höheres Erwerbseinkommen ermöglichen. Ob und in welchen Bereichen dadurch gerade für gering Qualifizierte Arbeitsplätze entfallen, ist umstritten und wird sich in den nächsten Jahren zeigen.
In diesen Zusammenhang gehören auch die Probleme bei befristeten Arbeitsverhältnissen und Leiharbeit. Die Erwartung, mit diesen Instrumenten den Einstieg in Arbeit zu ermöglichen und zu erleichtern, hat sich teilweise bestätigt. In einigen Unternehmen haben sich aber auch Konflikte in der Belegschaft entwickelt, die die Solidarität untergraben können. Eine positive ethische Bewertung hängt davon ab, ob es gelingt, den Schwächsten am Arbeitsmarkt, Langzeitarbeitslosen und gering Qualifizierten, den Einstieg in Arbeit zu ermöglichen, ohne ihnen höhere Risiken als anderen aufzuladen. Leiharbeit kann dazu dienen, Produktionsflexibilität zu gewährleisten. Dabei darf es keine weiteren Beeinträchtigungen der Beschäftigten, beispielsweise bei Service und Bildungsangeboten, geben. Leiharbeit, die feste Arbeitsplätze ersetzt, stellt einen Missbrauch dar. Deswegen unterstützt die evangelische Kirche die bestehenden flächendeckenden tarifvertraglichen Regelungen zur Leiharbeit und die bestehende gesetzliche Verankerung der gleichen Bezahlung (equal pay).
4.2.2.2 Werkverträge
Werkverträge sind ein bewährtes Instrument der Wirtschaft. Es gibt keinen Grund, dieses Instrument mit der Begründung in Frage zu stellen, weil es in jüngster Zeit missbraucht worden sei. So haben in der Fleischindustrie Werkunternehmen aus Rumänien Arbeiten in deutschen Betrieben ausgeführt, die unterdurchschnittlich, auch sittenwidrig, bezahlt und unter menschenrechtswidrigen Bedingungen durchgeführt wurden. Mittlerweile besteht in dieser Branche ein Mindestlohntarifvertrag, der nach den Bestimmungen des Arbeitnehmerentsendegesetzes allgemein verbindlich ist und auch für Arbeitnehmer aus dem Ausland gilt. Die Erbringung von Dienstleistungen und Zulieferungen durch Firmen und Arbeitnehmer aus dem europäischen Ausland ist bei einer zunehmenden Arbeitsteilung wirtschaftlich sinnvoll und darf nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. Gerade deshalb ist es wichtig, beim Einsatz von Arbeitnehmern im Rahmen von Werkverträgen sicherzustellen, dass die Betriebsräte der Auftraggeber gemäß geltendem Recht informiert werden. Entsprechende Informationsrechte der Betriebsräte und die bereits nach geltendem Recht möglichen Kontrollen durch die zuständigen Behörden sind erforderlich, um einem Missbrauch entgegenzuwirken.
4.2.2.3 Männer und Frauen
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist mittlerweile zum »Normalfall« geworden. In den westlichen Ländern liegt die Erwerbsbeteiligungsquote von Frauen mittlerweile zwischen 65 und 75%, die der Männer zwischen 75 und 85%, in Deutschland bei 72,3% (Frauen) bzw. 81,9% (Männer). Allerdings sind sehr viel mehr Frauen als Männer teilzeitbeschäftigt, ein hoher Anteil von ihnen mit nur relativ wenigen Stunden. Die Zugewinne der Frauen übersetzen sich also noch nicht in eine insgesamt gendergerechte Verteilung der Arbeit. Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleibt deshalb auf der unternehmerischen wie politischen Tagesordnung.
Nach wie vor gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Arbeitswelt. Frauen erzielen, gesamtwirtschaftlich betrachtet, im Durchschnitt 22% weniger Einkommen als Männer. Das so genannte »gender-gap« entsteht durch Berufswahl, Erwerbsverhalten und geringere Aufstiegschancen bei Teilzeit oder zeitweiligem Ausstieg aus der Erwerbsarbeit um der Familie willen. Zieht man diese Effekte ab, bleibt eine Gehaltsdifferenz von 8%. Zwar ist die unterschiedliche Bezahlung gleicher Arbeit diskriminierend und daher zu Recht verboten, doch werden so genannte Frauenberufe, vor allem im Bereich personaler Dienstleistungen, nach wie vor geringer geschätzt. Nicht nur in diesen Sektoren betreffen Niedriglohnarbeit und unsichere Beschäftigung zu zwei Dritteln Frauen. Um die gewünschte Angleichung der Einkommen zu erreichen, muss vor allem die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter verbessert werden, z.B. durch den Ausbau einer flächendeckenden und bedarfsangemessenen Kinderbetreuung. Auch frühkindliche und schulische Förderung sowie intensive Beratung bei Berufs- und Studienwahl sind entscheidend, um das Berufswahlspektrum von weiblichen und männlichen Jugendlichen anzugleichen und so die Einkommensungleichheit zwischen Männern und Frauen langfristig auszugleichen.
Im Blick auf gendergerechte Einkommen herrscht nach wie vor ein Defizit bei der Sorgearbeit, die traditionell überwiegend in von Frauen gewählten Berufen geleistet und deutlich niedriger entlohnt wird als die Arbeit in vorwiegend von Männern gewählten Berufen. Dies zeigt sich schon im Vergleich von Ausbildungsberufen in Handwerk und Pflege, setzt sich aber auch fort beim Vergleich von Entgelten von Managementtätigkeiten in Sozial- und Produktionswirtschaft. Erschwerend kommt hinzu, dass gerade in Deutschland die Erwerbsarbeit von Frauen familien- und wohlfahrtspolitisch als Zuverdienst und Teilzeitbeschäftigung neben der familiären Sorgearbeit verstanden wurde. Hier sind Korrekturen erforderlich (vgl. Orientierungshilfe Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken). Darüber hinaus bedarf es erheblicher sozialpolitischer Anstrengungen.
Ein weiterer Problemkreis betrifft die faire Aufteilung der Arbeitszeit. Umfragen machen deutlich, dass Männer gerne weniger und Frauen gerne mehr arbeiten würden, dies aber aufgrund der vielfach schlechteren Bezahlung von Frauen und der nach wie vor vorhandenen einseitigen Zurechnung der Familientätigkeit auf Frauen schwierig ist. Zwar ist die betriebliche Realität in vielen Unternehmen bereits von flexiblen Arbeitszeiten geprägt, vereinzelt werden dabei auch bereits familienabhängige Arbeitszeitregelungen vereinbart. Solche familiengerechten, flexiblen Arbeitszeiten lassen sich aber nicht in allen Betrieben verwirklichen. Ideal wäre, wenn Männer und Frauen in den Phasen von Erziehung, Pflege und Weiterbildung ihre Arbeitszeit reduzieren könnten. Wenn Frauen die Möglichkeit hätten, über den Lebensverlauf mehr Erwerbsarbeit zu erbringen, würde das gesamte Arbeitsvolumen nicht reduziert, aber die Zeit für die gemeinsamen Tätigkeiten in Erziehung und Familie besser aufgeteilt. Damit würde ernst genommen, dass die meisten Befragten sich mehr Kinder wünschen, als sie derzeit mit ihrer Erwerbstätigkeit vereinbaren können.
Für die heutige ungleiche Verteilung der Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen hat sich auch das so genannte Normalarbeitsverhältnis als überaus folgenreich erwiesen, weil auf diesem auch die sozialen Sicherungssysteme grundsätzlich aufgebaut sind. In Zukunft sollte die Finanzierung sozialer Sicherungssysteme auf einer geschlechtergerechten Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit aufbauen und im Ergebnis zu vergleichbaren Ansprüchen von Männern und Frauen aus sozialen Sicherungssystemen führen. Zudem sollten diese Systeme mit Blick auf die Veränderungen in den Erwerbsbiografien auch Brüche im Erwerbsleben besser absichern.
4.2.2.4 Menschen mit Migrationshintergrund
Menschen mit Migrationshintergrund stellen eine Bereicherung für unsere Arbeitsmärkte und die Gesellschaft dar. Kamen zunächst über Anwerbeprogramme meist nur gering qualifizierte Menschen nach Deutschland, die durch ihren Einsatz in un- und angelernten Tätigkeiten deutschen Männern den Aufstieg in besser bezahlte Facharbeiterpositionen ermöglichten, finden mittlerweile viele Menschen mit guter Qualifizierung den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Man hat inzwischen begriffen, dass nicht nur Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt kamen, sondern Menschen nach Deutschland, und dass deswegen Integration eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Die Wirtschaft engagiert sich seit vielen Jahren flächendeckend und intensiv für die Integration von Migranten in Ausbildung, Beruf und Gesellschaft. So haben 18% der Auszubildenden im Handwerk, also etwa 72.000 Auszubildende, einen Migrationshintergrund. Die Integration in die Betriebe und Gewerkschaften gelingt zunehmend besser. Gewerkschaften und Betriebs- und Personalräte sind in ihren Integrationsbemühungen nachhaltig zu unterstützen und zu stärken.
4.2.2.5 Ältere in der Arbeitswelt
Nachdem noch vor nicht allzu langer Zeit ältere Arbeitnehmer häufig als nicht mehr voll leistungsfähig angesehen und entsprechend aus den Unternehmen hinausgedrängt oder nicht eingestellt wurden - auch mittels politisch institutionalisierter Regelungen wie Vorruhestand oder Altersteilzeit -, hat man im Zuge der demografischen Entwicklung mittlerweile auf breiter Linie die Potenziale der Älteren entdeckt. Unterstützt durch gerontologische Erkenntnisse, die die große Entwicklungsfähigkeit von Menschen bis ins hohe Alter unter der Voraussetzung fördernder Umweltbedingungen belegen, ist heute das Leitbild eines aktiven Alters breit verankert. Die Leistungsfähigkeit lässt mit dem Alter nicht pauschal nach, sondern verschiebt sich, sodass altersgemischte Gruppen in der Arbeitswelt immer beliebter werden. Gleichzeitig ist aber auch zu beobachten, dass das früher hoch geschätzte Erfahrungswissen durch die dynamische Entwicklung der Wissensbestände zunehmend entwertet wird.
Immerhin steigt seit Beginn des Jahrtausends die Zahl älterer Beschäftigter. Zwischen 2000 und 2013 stieg die Beschäftigtenquote der Männer im Alter von 60-64 Jahren von 37,2% auf 57,6%, die der Frauen von 12,1% auf 42%. Da jedoch alle Erkenntnisse darauf hinweisen, wie individuell und auch beruflich verschieden die Belastungssituationen für die Betreffenden jeweils sein können, müssen pauschale Altersgrenzen generell hinterfragt werden. Gefordert ist die Entwicklung von flexiblen Übergangsmöglichkeiten in den Ruhestand, für die aus Gründen der Gerechtigkeit und Verlässlichkeit jedoch weiterhin Referenzwerte wie Alter oder Beschäftigungsdauer festzusetzen sind, von der aus Zu- oder Abschläge bei der Rentenversicherung berechnet werden können. Zudem gilt es, mehr Aufmerksamkeit auf die Ausgestaltung altersgerechter Arbeitsplätze zu legen und die Bereitschaft und Fähigkeit älterer Beschäftigter zu erhöhen, sich der fortdauernden Veränderungsdynamik zu stellen und damit neues Wissen zu erwerben und in die eigene Arbeitsgestaltung zu integrieren.
4.2.2.6 Inklusive Arbeitswelten
Gemäß der in Deutschland ratifizierten Behindertenrechtskonvention der UNO haben Menschen mit Beeinträchtigungen das Recht zu einer vollkommen gleichberechtigten Teilhabe in allen Lebensbereichen, also auch in Erwerbsarbeit. Tatsächlich aber gibt es gravierende Benachteiligungen: Der Teilhabebericht der Bundesregierung (2013) weist eine signifikant niedrigere Erwerbsbeteiligung beeinträchtigter Menschen aus. So lag die Erwerbsquote von Menschen mit Beeinträchtigungen 2010 bei 58%, ohne Beeinträchtigungen jedoch bei 83%. Das Risiko, arbeitslos zu werden und zu bleiben, ist deutlich höher: Menschen mit Beeinträchtigungen waren im Durchschnitt 25,9 Monate arbeitslos, ohne Beeinträchtigungen 15,3 Monate. Hinzu kommt, dass Menschen mit Beeinträchtigungen eher in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen landen und häufiger als andere unter ihrem Qualifikationsniveau arbeiten. Die Zahl der Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen ist bis 2010 auf 252.644 angestiegen. Insgesamt bestreiten nur 62 % der Männer und 57 % der Frauen mit Beeinträchtigungen ihren Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen im Vergleich zu 86% bei Männern und 76% bei Frauen ohne Beeinträchtigungen.
Der »Teilhabebericht der Bundesregierung (2013)« konstatiert, dass in einer auf Leistung und Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft Menschen mit Beeinträchtigungen offensichtlich als Störfaktoren betrachtet werden. Dort heißt es: »Es ist somit Aufgabe der Gesellschaft und der staatlichen Gemeinschaft, im wirtschaftlichen Wettbewerb Bedingungen zu gestalten, die im Idealfall für alle Beteiligten am Markt gleiche Auswirkungen haben, sie also gleichstellen im Sinne fairer Bedingungen.« Dieser Satz gilt für die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen - aber er gilt auch darüber hinaus ganz grundsätzlich für die Gestaltung der Verhältnisse an den Arbeitsmärkten. Die vorhandenen Ansätze zur Inklusion müssen intensiviert, Möglichkeiten zur Vermeidung von Inklusion auf Betriebsebene abgebaut werden.
4.2.2.7 Langzeitarbeitslose
Der deutsche Arbeitsmarkt ist zweigeteilt: Während es in bestimmten Branchen und Berufen zu Fachkräfteengpässen kommt, sind mehr als eine Million Menschen seit mindestens einem Jahr arbeitslos und gelten deswegen als langzeitarbeitslos. Personen in Maßnahmen (wie z.B. Ein-Euro-Jobs), Personen, die am Tag der Erfassung arbeitsunfähig erkrankt waren, und über 58-Jährige, die seit einem Jahr kein Arbeitsangebot mehr erhalten haben, kommen faktisch zu dieser Gruppe hinzu. Von 2007 bis 2011 ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen von 1,7 Millionen kontinuierlich auf etwas mehr als eine Million zurückgegangen. Bis zu 500.000 Menschen gelten als »schwer vermittelbar«, da nicht wenige von ihnen »multiple Vermittlungshemmnisse« aufweisen, wie gesundheitliche Einschränkungen, fehlende sprachliche Kenntnisse, geringe Qualifikation, Migrationshintergrund, höheres Alter, allein erziehend zu sein, Angehörige zu pflegen, längerer Leistungsbezug. Sie sind erkennbar die Schwächsten auf den Arbeitsmärkten und erfahren Exklusion am eigenen Körper. Die Dauer der Arbeitslosigkeit verschärft die Probleme dieser Menschen weiter, sodass sie sich aus eigener Kraft nur selten aus ihrer Situation befreien und einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt erhalten können. Arbeitgeber, wie z.B. Zeitarbeitsunternehmen, versuchen zum Teil, Langzeitarbeitslosen den Einstieg in Arbeit zu ermöglichen. Lohnkostenzuschüsse tragen dazu vereinzelt bei. Trotz anhaltend hoher Arbeitslosigkeit wurden jedoch in den letzten Jahren die Förderung von Beschäftigungsmaßnahmen ebenso wie die finanziellen Mittel zur Eingliederung in Arbeit insgesamt stark reduziert.
Gerade Langzeitarbeitslose benötigen aber eine qualifizierte, eingehende und sich auf ihre individuellen Probleme konzentrierende mittel- und langfristig angelegte Unterstützung. Kein Mensch darf als »nicht-aktivierungsfähig« abgeschrieben werden. Das Ziel einer nachhaltigen Arbeitsmarktintegration kann durch Qualifizierung und pädagogische Begleitung gefördert werden - aber es braucht einen langen Atem. Da es vor allem an Perspektiven für Langzeitarbeitslose mit mehreren Vermittlungshemmnissen mangelt, wäre für diesen Personenkreis eine gesetzlich verankerte, ausreichend finanzierte öffentliche Förderung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erforderlich, die nicht auf kurzfristige Übergänge in ungeförderte Arbeit zielt, sondern Menschen mittel- und längerfristig Perspektiven auf Teilhabe an Arbeit ermöglicht [10]
4.2.3 Konfliktregulierung in der Arbeitswelt
Konfliktregulierung in der Arbeitswelt erfolgt im Sinne der sozial verantwortlichen Partnerschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und deren Vertretungen und entspricht damit weitgehend der korporativ angelegten Struktur der bundesdeutschen Wirtschaft. Der für die Sozialpartnerschaft wesentliche Wille zur Verständigung und Einigung beruht auf einer Haltung, die der jeweils anderen Seite in einem Geist der Achtung und Partnerschaft begegnet. In diesem Sinn hat die evangelische Sozialethik absolutistische Führungsmuster in Unternehmen stets ebenso abgelehnt wie die Haltung eines kämpferischen Klassenbewusstseins. Partnerschaft meint dabei keine harmonische Sicht auf die ökonomischen und sozialen Verhältnisse, sondern setzt voraus, dass Konflikte aufgrund prinzipiell berechtigter und auch gegenläufiger Interessen zivilisiert und konstruktive Lösungen gesucht werden können. Dazu gehört neben der konsensorientierten Haltung der Beteiligten auch die Entwicklung institutioneller Ordnungen, die das Entstehen und Wachsen von Partnerschaft ermöglichen und fördern können. In diesem Sinn lassen sich die vielfältigen Institutionen der Mitbestimmung in der Bundesrepublik als konkreter Ausdruck eines partnerschaftlichen Verhältnisses von Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern verstehen.
4.2.4 Internationale Solidarität
Solidarität kennt keine nationalen Grenzen: Unternehmen, Konsumenten und Sozialpartner tragen Verantwortung für die Produktions- und Beschäftigungsbedingungen der gesamten Wertschöpfungskette, auch im Ausland. Gewerkschaften haben seit jeher globale Beschäftigungsbedingungen im Rahmen der internationalen gewerkschaftlichen Aktivitäten und Netzwerke im Blick. Ausdrücklich sind Bemühungen um Umwelt- und Arbeitsstandards, wie etwa der Global Compact [11], zu unterstützen und auszuweiten. Es muss gewährleistet und entsprechend kontrolliert werden, dass Vertragspartner auch im Ausland Menschenrechte und Mindeststandards bei der Beschäftigung einhalten, wie sie die ILO festgelegt hat. Koalitionsfreiheit und das Streikrecht für Gewerkschaften gehören zu diesen Mindeststandards. Kinderarbeit kann auf keinen Fall toleriert werden, wenn sie die in den ILO-Konventionen Nr. 138 und Nr. 182 getroffenen Vereinbarungen unterschreitet. Schul- und Ausbildung sollten Vorrang vor Beschäftigung haben. Die Entlohnung muss sich auf einem angemessenen Niveau in den betreffenden Ländern bewegen. Gesundheitliche Risiken für die Arbeitnehmer sind auszuschließen. Auf die Dauer sollten sich zudem die Arbeits- und Lebensbedingungen in den betreffenden Unternehmen und Ländern verbessern.
Letztlich bedarf es auf dieser Ebene durchsetzungsfähiger internationaler Abkommen über die Regulierung von Arbeitsbedingungen, wie sie u.a. bei der ILO oder der WHO, aber auch im Rahmen der Aktivitäten der Weltbank-Gruppe immer wieder verhandelt werden. Das schließt jedoch die konkrete unternehmerische Verantwortung für die je eigenen Produktionsketten nicht aus. Internationale Solidarität vollzieht sich auch und gerade auf dieser Ebene.
In diesem Zusammenhang stellen sich Fragen an die geplante transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP). Angestrebt wird eine Angleichung der Vorschriften, um den Handelsaustausch zu vereinfachen; eine bessere gegenseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen usw. Während grundsätzlich der Abbau von Barrieren begrüßt werden sollte, ist unbedingt darauf zu achten, dass in den Bereichen berufliche Qualifikationsanforderungen, Produktsicherheit, Soziales sowie dem Verbraucher- und Gesundheitsschutz keine bewährten Standards gesenkt werden. Die Verankerung des Ziellandprinzips ist von zentraler Bedeutung. Insbesondere darf es keine Ausnahmen von rechtsstaatlichen Zuständigkeiten geben.