Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt
Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. April 2015, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05977-8
4.3 Arbeit - nur ein Teil des Lebens
These 4.3:
Ungeachtet der zentralen Bedeutung der Arbeit für den Menschen ist Arbeit letztlich nur das Vorletzte! Der Mensch wird nicht durch die Arbeit zum Menschen - und auch nicht gerecht. Der Mensch gewinnt seine Identität als Geschenk und Gnade von Gott her und kann solchermaßen dann in der Arbeit Sinn und Erfüllung finden.
Protestantisches Arbeitsverständnis geht aus von einem Erlebnis erfüllter Existenz jenseits der Arbeit: Die im Glauben erlebte Teilhabe an Gottes Wirklichkeit, die unsere Erfahrungen, Anstrengungen und Kämpfe übersteigt, kann in die alltägliche Realität der Arbeit einfließen. Theologisch gesprochen geht es darum, dass Menschen auch in der Arbeit Anteil an Gottes Fülle und segnender Kraft erleben und gestalten können. Das Geschehen hat somit eine konsekutive Form: Die Kraft Gottes fließt in das Leben der Menschen ein, die, einer klassisch gewordenen Formulierung Luthers folgend, gleichsam Gefäße darstellen, durch die die Liebe Gottes weitergegeben wird, sodass sie auch anderen Menschen zum vollen Menschsein verhelfen. In der Begegnung mit Gottes Wirklichkeit entsteht ein Selbst der Person, das in der Arbeit einen konkreten Ausdruck findet. Gleichwohl gewinnt der Mensch seine Identität außerhalb der Arbeit, ja überhaupt außerhalb seiner selbst: Sie ist Geschenk und Gnade. So kann Arbeit geradezu paradox als »Kreative Passivität« (E. Jüngel) gedacht werden: Hier werden die empfangenen Charismen schöpferisch zur eigenen Tätigkeit und im Interesse aller entfaltet. Auch wenn christliches Arbeitsethos darauf beharrt, dass Menschen in ihrer - bezahlten oder unentgeltlichen - Arbeit ihre Berufung leben können: Die Arbeit ist nicht der Ort ihrer Begründung und auch nicht der wichtigste Lebensbereich eines Menschen. Der Sinn des Lebens fällt mir zu und ergreift mich. Er erwächst aus dem Geschenk der Freiheit im Glauben an Gottes Zuwendung. Auch wenn ich ihn nicht schaffen kann, will er von mir gestaltet werden. Insofern gilt immer noch der Grundsatz Martin Luthers: Lasst uns arbeiten, als hinge alles von uns allein ab. Lasst uns beten, als hinge alles allein von Gott ab.