Umkehr zum Leben
Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels, Denkschrift des Rates der EKD, 2009, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05909-9
1. Einleitung: Klimapolitik, Weltwirtschaftskrise und nachhaltige Entwicklung
Im Frühsommer 2008 verwüstete der Zyklon Nargis weite Teile der Küstenregion Burmas. Über einhunderttausend Menschen fanden den Tod. Millionen wurden obdachlos. Für die Zukunft ist mit einer Häufung von wetterbedingten Katastrophen - Stürme, Dürren, Überschwemmungen - zu rechnen. Niemand kann sicher sein, ihnen zu entgehen. Aber besonders gefährdet sind die Ärmsten der Armen in den Entwicklungsländern. Sie leben in den am stärksten exponierten Regionen und verfügen über die geringsten Möglichkeiten, sich zu schützen.
Die Befürchtungen für die Zukunft beruhen auf wissenschaftlichen Modellrechnungen und den Erfahrungen der vergangenen Jahre, in denen es bereits eine Häufung extremer Wetterereignisse gegeben hat. Es besteht heute kaum noch wissenschaftlich begründbarer Zweifel daran, dass sich in diesen Ereignissen ein weltweiter, durch menschliche Aktivitäten beschleunigter Klimawandel manifestiert. Aufgrund der erwartbaren Folgewirkungen für Natur, Wirtschaft und Gesellschaft aller Länder ist der Klimawandel in den vergangenen Jahren sehr weit oben auf die Tagesordnung der Weltpolitik gelangt. Das hat der Hoffnung auf einen längst überfälligen Kurswechsel im Umgang mit den natürlichen Ressourcen Auftrieb gegeben. In der gegenwärtigen Krise des Weltfinanz- und Weltwirtschaftssystems gerät dieser notwendige Kurswechsel in Gefahr. Gerade auf Seiten der politisch Verantwortlichen in den Industrieländern ist die Vorstellung weit verbreitet, dass die Stabilisierung und Wiederankurbelung der Wirtschaft Vorrang vor Fragen der ökologischen Umsteuerung von Wirtschaft und Gesellschaft habe. Dabei wird der Wiederbelebung und Ausweitung der weltweiten Nachfrage nach Wirtschaftsleistungen aller Art eine Schlüsselfunktion zugewiesen.
Solche Rettungsaktionen für die Wirtschaft propagieren jedoch eine Lösung, die das Problem, um das es hier geht, eher vertieft. Die Rede ist von einer Form des Wirtschaftens, die ihre eigenen ökologischen Grundlagen untergräbt und die daraus erwachsenden, nicht beabsichtigten Folgewirkungen auf Andere, Schwächere abzuwälzen versucht. Demgegenüber kommt es heute darauf an, die Krise des alten Systems für die Durchsetzung grundlegend neuer Weichenstellungen zu nutzen. In diesem Sinne besteht eine Chance, eine längst überfällige Neuorientierung unseres Umgangs mit den natürlichen Ressourcen endlich in Angriff zu nehmen. Die Regierung Roosevelt reagierte auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 mit der Einführung eines New Deal, der die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der USA auf eine ganz neue Grundlage stellte. Auf die Weltwirtschaft wurden die neuen Grundsätze aber nicht übertragen. Im Gegenteil: Ein Teil der Kosten für den inneren Aufbruch wurde mit Hilfe einer wirtschaftsnationalistischen Handelspolitik den schwächeren Handelspartnern aufgebürdet. Genau dies gilt es heute zu vermeiden. Darum fordert der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-Moon, einen globalen "New Deal", der auf die Förderung des weltgesellschaftlichen Gemeinwohls ausgerichtet ist. Diese Forderung muss politisch wirksam werden, denn eine die bisherige Entwicklung einfach umdrehende "De-Globalisierung" der Wirtschaft[1] kann die Fehlentwicklungen, die mit der Globalisierung einhergegangen sind, nicht beheben.
Die Kernfrage lautet, wie ökonomische Interessen, die grundlegenden Lebensbedürfnisse einer wachsenden Zahl von Menschen und die Erhaltung der natürlichen Ressourcen für die gegenwärtig Lebenden und für kommende Generationen miteinander in Einklang gebracht werden können. Schon in den 1980er Jahren wurde hierfür die Formel der nachhaltigen Entwicklung geprägt. Bei aller kritischen Auseinandersetzung mit diesem Begriff ist es doch entscheidend, ihn als eine Leitidee ernst zu nehmen, die die Chance bietet, aktuelle Entwicklungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft kritisch darauf hin zu befragen, was sie langfristig für die Wohlfahrt der Menschen und die Bewahrung der Schöpfung bedeuten. Der vorliegende Text soll dazu einen Beitrag leisten. Er soll darüber hinaus Ansatzpunkte für eine Politik der nachhaltigen Entwicklung, aber ebenso für ein an dieser Leitidee ausgerichtetes Verhalten der Kirchen und jedes Einzelnen benennen. Dabei geht diese Denkschrift von den folgenden Überlegungen und Vorstellungen aus:
Wenn vom Klimawandel gesprochen wird, ist damit ein globaler Wandel gemeint. Von ihm sind alle Menschen betroff en – aber offensichtlich nicht in gleicher Weise, und nicht alle haben den gleichen Anteil am Klimawandel. Verursacher sind überwiegend die bisherigen Zentren der Weltwirtschaft, die Länder der heutigen OECD. Die Folgen des Klimawandels bekommen jedoch als Erstes und in schärfster Form jene zu spüren, die in der bisherigen Peripherie der Weltwirtschaft leben und damit den geringsten Anteil am Klimawandel haben. Sie leben in den ökologisch sensibelsten Zonen und verfügen, wie schon angedeutet, über die geringsten Möglichkeiten, sich dem Klimawandel anzupassen.
Es ist also nur recht und billig, wenn die Hauptnutznießer bisheriger Wachstumsmuster auch die Hauptlast des Versuchs tragen, deren nicht beabsichtigte Folgewirkungen einzudämmen. Dieser Grundsatz ist denn auch auf der Weltumweltkonferenz von Rio de Janeiro im Jahre 1992 als Konsens der internationalen Gemeinschaft festgeschrieben worden. Heute tragen jedoch auch die großen Schwellenländer aufgrund ihres rapiden wirtschaftlichen Wachstums in erheblichem Umfang zum Ausstoß klimaschädlicher Gase bei. Der Übergang zu einer nachhaltigen Entwicklung hängt insofern in zunehmendem Maße auch von der Umweltpolitik der Entwicklungsländer selbst ab. Wenn die Gerechtigkeit gebietet, dass ihnen ein nachholender Umweltverbrauch zugestanden wird, so verlangt sie doch zugleich, dass Strategien eines Übergangs hin zur Nachhaltigkeit begonnen werden. Daraus ist jedoch keineswegs eine Entlastung der Industrieländer abzuleiten. Ihre Aufgabe bleibt es, die eigenen Wirtschaftssysteme auf Nachhaltigkeit umzustellen und darüber hinaus ihren Beitrag zur Schaffung weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu leisten, unter denen weltweit an die Stelle des bisher vorherrschenden Raubbaus eine langfristige Nutzung natürlicher Ressourcen treten kann.
Darüber hinaus ist auf Seiten der Industrieländer ein grundlegender Perspektivenwechsel geboten: Klimapolitik wird heute gerade in den Industrieländern oft als Gefahrenabwehr verstanden und begründet. Damit kann zwar aus dem "weichen" Umwelt- ein "hartes" Sicherheitsthema gemacht werden. Das kommt der öffentlichen Aufmerksamkeit für Fragen des Klimawandels zugute, schafft aber auch neue Risiken, weil starke Bedrohungsszenarien die Akzeptanz großtechnischer Gegenmaßnahmen trotz unüberschaubarer Folgewirkungen (Geo-Engineering)[2] oder militärischer Lösungen (und der dafür erforderlichen Vorbereitungen) erhöhen. Außerdem kann der Fokus auf Gefahrenabwehr bewirken, dass bei der Behandlung der Klimaproblematik der Schutz von Besitzständen gegenüber notwendigen Veränderungen in den Vordergrund rückt.
Der Klimawandel wirft Fragen auf, die weit über Gefahrenabwehr und Risikominimierung hinausgehen. Die Kirchen haben in den 1980er Jahren diese Fragen im Rahmen des konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung aufgegriffen[3]. Die dramatische Situation, vor die uns der Klimawandel über die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise hinaus stellt, ist nicht nur eine politische und soziale, sondern auch eine theologische Herausforderung. Sie wirft drängende und zutiefst beunruhigende Fragen an den christlichen Glauben auf. Dürfen wir uns mit dem Gedanken beruhigen, dass Gott uns vor weiteren Sintfluten bewahren wird? Oder wird diese Zusage des Noahbundes dadurch gegenstandslos, dass wir erneut dem unersättlichen Streben nach Mehr verfallen sind? Überlässt uns Gott unserem Schicksal? Welche Botschaften sendet er uns heute? Was will Gott in diesem besonderen Kairos von uns als Christen und Christinnen? Können wir noch umkehren? Wohin müssen wir umkehren? Was gibt uns die Hoffnung und die Kraft für die nötigen Schritte der Umkehr?
Diesen Fragen müssen wir uns als Kirche ganz besonders stellen. Deshalb soll es in dieser Denkschrift nicht nur um eine fundierte Sach- und Problemanalyse gehen, die insbesondere den Zusammenhang von Klimawandel und Armutsbekämpfung thematisiert, unser Interesse gilt auch der Frage, inwieweit wir als Kirche aufgerufen sind, uns zu dieser Problematik zu äußern, und was uns bei der Suche nach Schritten der Umkehr in Politik und Gesellschaft leiten kann. Als evangelische Kirche maßen wir uns nicht an, über mehr Sachkompetenz und Glaubwürdigkeit zu verfügen als andere. Wir bekennen, dass die Kirche als Teil der Gesellschaft in die Lebens- und Wirtschaftsweise verwoben ist, die den Klimawandel mit verursacht hat, und deshalb selbst zu konkreten Schritten der Umkehr gerufen ist. Umso mehr fühlen wir uns in der Verantwortung, aus Sorge um die bedrohte Schöpfung und in Solidarität mit den Armen, zu der das Evangelium Jesu Christi uns ruft, unseren Beitrag zu der gesellschaftlichen Debatte über den Klimawandel zu leisten. Die vorliegende Denkschrift lässt sich dabei von der biblischen Zusage Gottes leiten, dass er das Leben will, aber auch von dem biblischen Anspruch, dass die Kirche als Institution und alle, die ihr angehören, für das Leben Verantwortung tragen. "Kehret um, und ihr werdet leben"[4] – das ist eine Verpflichtung und zugleich eine Verheißung.
Als Kirche und einzelne Christen und Christinnen wollen wir diesen Aufruf ernst nehmen und für das Leitbild einer Politik der Nachhaltigkeit eintreten, das auf die Bewahrung der Schöpfung und auf die Sicherung der Ernährung aller Menschen ausgerichtet ist. Eine Wende der Politik, die diesen Leitbildern folgt, muss einhergehen mit der Abkehr jedes Einzelnen von einem Lebensstil, der auf ständig weiterwachsenden Konsum fixiert ist. Deshalb benennt diese Denkschrift Konsequenzen für Kirche und Gesellschaft und macht Mut für eine Ethik des guten Lebens, die sich der Bewahrung der uns anvertrauten Schöpfung und dem Wohlergehen aller verpflichtet weiß.