Sterben hat seine Zeit

Zusammenfassung

Viele Menschen beschäftigt die Sorge oder Angst, sie könnten am Ende ihres Lebens entscheidungsunfähig, hilflos und einsam werden. Die Ausstellung einer Patientenverfügung ist eine Möglichkeit, rechtzeitig und bei klarem Bewusstsein für diese letzte Phase Vorsorge zu treffen, soweit das möglich ist. Die meisten Menschen leitet dabei der Wunsch, menschenwürdig zu sterben und ihre Angehörigen von schwierigsten Entscheidungen zu entlasten.

Seit 1999 ist die „Christliche Patientenverfügung“ der evangelischen und katholischen Kirche mehr als 1,5 Millionen mal angefordert worden. Das zeigt, welches Interesse und welcher Orientierungsbedarf in diesem Bereich besteht.

Im Jahr 2004 haben sich sowohl eine vom Bundesjustizministerium eingesetzte Arbeitsgruppe als auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Ethik und Recht der modernen Medizin“ zum Thema „Patientenverfügung“ – kontrovers – geäußert. Nachdem das Bundesjustizministerium seinen Gesetzentwurf zur Patientenverfügung zurückgezogen hat, liegt das Thema wieder beim Parlament. Die evangelische Kirche möchte in dieser Situation unter dem biblischen Motto „Sterben hat seine Zeit“ (Koh 3,2) aus ihrer Sicht Orientierungspunkte und Leitlinien für die anstehenden Beratungen anbieten.

Leben und Sterben der Menschen liegen nach christlichem Verständnis in Gottes Hand. Deshalb ist das Abwarten des Todes die angemessene Haltung im Blick auf das – eigene und fremde – Sterben. Das heißt nicht, dass Menschen im Blick auf den Tod nicht handeln dürften. Es zeichnet den Menschen aus, dass er auch dazu bestimmt ist, sein Sterben zu bedenken und zu gestalten. Das kann für die Situation der Einwilligungsunfähigkeit vorausschauend durch eine Vorsorgevollmacht oder eine Patientenverfügung geschehen.

Das Sterben eines Menschen lässt sich aber nicht planen. Und die Erfahrung zeigt, dass auch durch eine Patientenverfügung das Sterben nicht in allen Einzelheiten geregelt werden kann. Deshalb ist daran zu erinnern, dass in das Sterben des einzelnen immer andere Menschen eingebunden sind: Angehörige, Freunde, Pflegende, Ärzte, Seelsorger. Selbstbestimmung und Fürsorge durchdringen und bedingen sich auch im Blick auf das Lebensende gegenseitig.

1 In welcher Form ist eine Patientenverfügung verbindlich?

Die evangelische Kirche empfiehlt eine schriftliche – oder anders dokumentierte (z.B. Ton- oder Videoaufnahme) – Form als Regel. Dafür spricht, dass die meisten Menschen ihre Entscheidungen und Worte besonders genau abwägen, wenn sie sich schriftlich äußern. Aber auch mündliche Äußerungen, die verlässlich belegt sind, müssen berücksichtigt werden. Jede Patientenverfügung bedarf für ihre Anwendung einer sorgfältigen Interpretation. Mündliche Verfügungen müssen zum Schutz der Patienten besonders behutsam gehandhabt werden.

2 Welche Bedeutung hat eine Patientenverfügung?

Wer heute eine Patientenverfügung erlässt, trifft damit eine Entscheidung für eine spätere Situation, die er jetzt nicht kennen kann. Er kann zwar vermuten, aber nicht wissen, was er dann wirklich für sich wünscht. Der Wille eines Menschen kann sich immer wieder ändern, auch dann, wenn er ihn nicht mehr aussprechen kann. Deshalb verdienen nonverbale Äußerungen ebenfalls Beachtung. Subjekt der Selbstbestimmung und Adressat der Fürsorge ist stets der Mensch in seiner gegenwärtigen Verfassung. Dabei verdient die Erfahrung Berücksichtigung, dass Gesunde den Wert eines Lebens mit massiven Einschränkungen wesentlich geringer einschätzen, als es die Betroffenen selbst tun. Deshalb gilt auch hier: Im Zweifel für das Leben.

3 Wie sind Patientenverfügungen sinnvoll zu begrenzen?

In der öffentlichen Diskussion wird einerseits die Auffassung vertreten, dass sich Patientenverfügungen, sofern sie eine Therapiebegrenzung zum Inhalt haben, nur auf tödlich verlaufende Erkrankungen beziehen können. Das heißt: Nur für Erkrankungen, die nach ärztlicher Erkenntnis trotz medizinischer Behandlung zum Tode führen werden, kann der Patient eine Unterlassung oder Beendigung von Behandlungen wirksam festlegen. Hierdurch soll daran festgehalten werden, dass es die Krankheit ist, die zum Tode führt, und nicht eine willkürliche menschliche Entscheidung.

Andererseits wird die Auffassung vertreten, dass eine Patientenverfügung auch für Krankheiten gelten müsse, die nicht zum Tode führen, damit Menschen nicht gegen ihren erklärten Willen medizinisch behandelt werden – so z. B. bei einem stabilen Wachkoma, das keine tödlich verlaufende Erkrankung ist, sondern sich bei guter medizinischer Betreuung über Jahre hinziehen kann, bis der Patient an einer anderen Ursache stirbt.

Kritiker der ersten Position sind der Ansicht, dass durch eine Reichweitenbegrenzung die Sicht des Patienten, wann für ihn die Situation des Wartens auf den Tod gegeben ist, missachtet werde. Kritiker der zweiten Position befürchten, dass ohne Reichweitenbegrenzung die Grenze zur aktiven Sterbehilfe bzw. zur Tötung auf Verlangen durchlässig werden könnte.

Die evangelische Kirche will die berechtigten Anliegen beider Positionen aufnehmen und so weit wie möglich miteinander verbinden. Sie befürwortet deshalb ein Verfahren der Entscheidungsfindung, bei dem die grundlegenden ethischen Regeln in einer Ermessensentscheidung dem Einzelfall entsprechend angewandt werden. Die Frage, wie mit dem vorab erklärten Willen des Patienten umzugehen ist, soll der Arzt im gemeinsamen Gespräch (Konsil) mit Angehörigen, Pflegepersonen, Seelsorgern und Betreuern möglichst einvernehmlich klären.

4 Welche ethischen Regeln sind dabei zu beachten?

Aus den beiden Geboten der Fürsorge und des Respekts vor der Selbstbestimmung von Patienten ergeben sich aus evangelischer Sicht folgende Regeln, wie im Sinne und zum Wohle des Patienten mit Patientenverfügungen verfahren werden sollte:

a. Wenn es nach medizinischer Einschätzung therapeutische Möglichkeiten gibt, die dem Patienten neue Lebensperspektiven eröffnen, dann kann sein vorgreifend geäußerter oder in einer Verfügung hinterlegter Sterbewunsch nicht maßgebend sein, und es ist alles zu tun, um sein Leben zu erhalten.

b. Wenn aufgrund von vorhandenen medizinischen Möglichkeiten gute Aussichten bestehen, dass der Patient das Bewusstsein und die Urteilsfähigkeit wiedererlangen und dann selbst Entscheidungen treffen kann, die sein Leben oder Sterben betreffen, dann sollten diese medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden.

c. Patientenverfügungen, die im Blick auf Krankheitszustände formuliert sind, bei denen der Patient zwar urteilsunfähig ist, aber Wünsche, Bedürfnisse und einen Lebenswillen haben und – wenn auch nur mit Einschränkungen – am sozialen Leben teilhaben kann, können nur unter Einschränkungen für den Arzt handlungsleitend sein.

d. In Fällen, in denen der Patient ohne Bewusstsein ist und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit trotz Ausschöpfung aller medizinischen Möglichkeiten das Bewusstsein niemals wiedererlangen wird, ist gemäß dem voraus verfügten Willen des Patienten zu handeln, was auch heißen kann, dass man auf therapeutische Interventionen verzichtet und ihn sterben lässt.

All diesen Überlegungen und Regeln liegt die christliche Einsicht zugrunde, dass der Mensch eine Bestimmung hat, die über dieses Leben und diese Zeit hinausreicht in Gottes Ewigkeit. Das verleiht dem begrenzten, sterblichen Menschen seine unantastbare Würde.

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