Sterben hat seine Zeit
4. Stellungnahme
Diese Stellungnahme zur gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen stellt allgemeine Grundsätze und Haltungen aus evangelischer Sicht dar. Sie geht nicht auf die rechtlichen Details der Regelungen ein.
4.1 Warten auf den Tod
Nach christlichem Verständnis darf der Tod eines Menschen nicht herbeigeführt, sondern muss abgewartet werden. Denn Christen sehen sich selbst als Geschöpfe Gottes. Geburt und Tod liegen somit in Gottes Hand, der Tod wird (ebenso wie die Geburt) als ein Geschick verstanden. Geschöpflichkeit bedeutet jedoch nicht, dass Menschen im Hinblick auf den Tod gar nicht handeln dürften. Denn geschöpfliches Leben ist immer zu gestaltendes Leben. Das Ende des Lebens ist in diese Gestaltungsaufgabe eingeschlossen. Aber Freiheit und Selbstbestimmung sind im Horizont der Geschöpflichkeit keine absoluten Werte. Freiheit ist aus christlicher Sicht stets als gestaltete Abhängigkeit (von Gott, vom eigenen Geschick oder von anderen Menschen) zu verstehen und Selbstbestimmung als persönlicher Umgang mit dem eigenen Bestimmtsein (z.B. durch die Lebensgeschichte oder tief greifende Überzeugungen).
Sterben hat seine Zeit (Koh 3,2). Nach biblischer Sicht ist diese Zeit nicht in die Verfügung des Menschen gegeben, sondern Gott hat allen Dingen ihre Zeit bestimmt. Der Mensch steht vor der Aufgabe, zu erkennen und zu wissen, wann was an der Zeit ist. Zwar beziehen sich die biblischen Stellen, in denen vom Er-kennen und Wissen der Zeit die Rede ist, nicht unmittelbar auf das Ende menschlichen Lebens. Der Mensch ist aber der Zeit nicht einfach passiv ausgeliefert. Es gehört zur Aufgabe und verantwortlichen Führung menschlichen Lebens, je und je die Zeit zu erkennen, auf die es sich im eigenen Lebensvollzug und Handeln einzustellen gilt. Davon ist das Ende menschlichen Lebens nicht ausgenommen. Auch hier gilt es zu erkennen, wann was an der Zeit ist.
Im Blick auf die Rede vom Wissen um die Zeit ist zu unterscheiden zwischen der inneren oder erlebten Zeit, die als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft präsent ist, und der gemessenen und prognostizierbaren Zeit, die sich nach Stunden, Tagen, Monaten und Jahren bemisst. Die biblische Rede vom Wissen um die Zeit, auf die es sich einzustellen gilt, betrifft die Perspektive der erlebten Zeit und deren Zukunftshorizont. Dieses Wissen kann durch eine medizinische Prognose in der Perspektive der gemessenen Zeit veranlasst sein. Aber es darf nicht mit prognostischem Wissen verwechselt werden. Es ist ein Wissen um den je eigenen Lebenshorizont mit seinen verbleibenden Zukunftsperspektiven. Nach biblischer Sicht ist dem Menschen zugedacht, in dieser Weise um die Zeit seines eigenen Lebens zu wissen, um sich darauf einzustellen.
So gesehen ist eine Patientenverfügung Ausdruck der Erkenntnis eines Menschen, dass auch dem Sterben seine Zeit gesetzt ist, in der es darauf ankommen kann, den Tod zuzulassen und seinem Kommen nichts mehr entgegenzusetzen. Diese Erkenntnis kann niemand stellvertretend für einen Anderen haben. Jeder muss sie für sich selbst gewinnen und vor Gott verantworten. Daher ist grundsätzlich die in einer Patientenverfügung niedergelegte Sicht eines Menschen zu achten in bezug darauf, wann im Blick auf sein Sterben was für ihn an der Zeit sein wird. Das Postulat der Selbstbestimmung ist in diesem Kontext zu sehen. In ihm artikuliert sich der Wille eines Menschen, von Anderen gemäss seiner Erkenntnis und Sicht in Bezug auf sein Sterben behandelt zu werden.
4.2 Leben und Sterben in Beziehung zu Anderen
Wie das ganze Leben, so können aus christlicher Sicht auch Krankheit, Sterben und Tod eines Menschen nicht ohne ihre soziale Einbettung verstanden werden. Dazu gehören insbesondere die Angehörigen und Freunde des Sterbenden sowie die behandelnden Ärzte, die Seelsorger und die Pflegenden. Unter ihnen bedarf es einer offenen, ehrlichen und angemessenen Kommunikation.
Deswegen werden Krankheits- und Sterbesituationen, in denen die Kommunikationsfähigkeit der Patienten stark eingeschränkt oder gar nicht mehr wahrnehmbar ist (wie z.B. bei Demenzpatienten im fortgeschrittenen Stadium oder bei Wachkoma-Patienten) von den Angehörigen in der Regel als besonders belastend erlebt. Familien, die sich in einer solchen Situation befinden, dürfen nicht allein gelassen werden mit ihren schweren menschlichen, seelischen und finanziellen Belastungen. Sie haben Anspruch auf die Solidarität und Hilfe der Gesellschaft und, sofern es sich um Christen handelt, der christlichen Gemeinde. Sie brauchen Unterstützung und Entlastung bei der Begleitung und Betreuung der Patienten. Dabei spielt die Seelsorge und geistliche Beratung eine wichtige Rolle, die ihnen helfen kann, in einem aussichtslos wirkenden, scheinbar sinnlosen Zustand Sinn und Zuversicht zu finden.
Wenn Menschen ihr Sterben vorsorglich bedenken wollen, sind wiederholte Gespräche mit nahe stehenden Menschen, Angehörigen, Seelsorgern und Ärzten wichtig für alle Beteiligten. Nur so kann später im Sinn des Betroffenen gehandelt werden.
Die Erfahrung zeigt, dass sich das Sterben eines Menschen im Allgemeinen nicht planen – und schon gar nicht im Detail in einer Patientenverfügung oder rechtlich regeln – lässt. Hier wird es immer um die Beziehung zwischen mehreren Menschen gehen, die das Geschehen fürsorglich begleiten und menschenwürdig für alle Beteiligten gestalten. Die Lösung liegt erfahrungsgemäß nicht in einer wortwörtlichen Interpretation einer Patientenverfügung, sondern im wiederholten gemeinsamen Gespräch aller Beteiligten. Es sind die Zwischentöne und die im Schriftlichen nicht erwähnten persönlichen Werte, die im Zweifelsfall wertvolle Hinweise auf die Wünsche eines Patienten geben, wenn die Patientenverfügung nicht klar genug auf die vorliegende Behandlungssituation angewendet werden kann. Zur Wahrnehmung der Selbstbestimmung des Patienten sollte deshalb das Gespräch gehören, möglichst auch mit den behandelnden Ärzten, denn diese werden voraussichtlich die medizinisch Begleitenden im Sterbeprozess sein.
Weil sich das Sterben nicht im Voraus regeln lässt, kann die angemessene Auslegung und Anwendung der – schriftlichen und/oder mündlichen – Äußerungen eines Patienten niemals rein mechanisch erfolgen, sondern erfordert einen verantwortlichen, auf den Einzelfall bezogenen Interpretations- und Abwägungsprozess. Vor wesentlichen Entscheidungen zum weiteren Behandlungsverlauf sollte das gemeinsame Gespräch unter Einbeziehung der behandelnden Ärzte, der Angehörigen des Patienten, Mitgliedern des Pflegepersonals sowie von Seelsorgern stattfinden. Die Entscheidungen sollten nach Möglichkeit im Einvernehmen mit dem Bevollmächtigten bzw. Betreuer getroffen werden. Jedoch trägt die letzte Verantwortung der behandelnde Arzt.
In diesem Prozess sind die Bereitschaft aller Beteiligten zum Gespräch und die Fähigkeit zum gegenseitigen respektvollen Zuhören unerlässlich. Darum ist die Erteilung einer Vorsorgevollmacht zu fördern. Auch hier gewinnt der Arzt einen Gesprächspartner: Anstelle des Patienten kann er mit diesem den häufig fluktuierenden Verlauf einer Erkrankung situationsgerecht besprechen. Wird durch eine Vorsorgevollmacht eine Person des besonderen Vertrauens benannt, so sollte man davon ausgehen, dass diese Vertrauensperson einschätzen kann, welche Einstellungen und Wünsche bei dem Patienten zum Zeitpunkt der Erteilung der Vorsorgevollmacht vorlagen, und man wird ihr zutrauen, eine Entscheidung im Sinne und zum Wohle des Patienten fällen zu können.
4.3 Selbstbestimmung und Fürsorge
In der Diskussion über Patientenverfügungen spielt häufig der Gegensatz zwischen der Selbstbestimmung des Patienten und der Fürsorge für den Patienten eine Rolle. Aus evangelischer Sicht hat der Mensch ein Selbstbestimmungsrecht, sogar einen Selbstbestimmungsauftrag im Blick auf sein eigenes Leben. Es besteht andererseits aber auch eine Fürsorgepflicht der Gemeinschaft für Menschen, die hilflos, krank, gebrechlich oder auch einwilligungsunfähig sind. Selbstbestimmung ist aus christlicher Sicht positiv zu werten, wenn sie die Abhängigkeit von der eigenen Leiblichkeit, von der Fürsorge anderer Menschen und von Gott impliziert und bejaht. Nur dann bleibt sie auf die Freiheit des Menschen bezogen und dient dieser Freiheit.
Einem urteilsfähigen Patienten wird das Recht zuerkannt, Therapien abzulehnen, auch wenn sein Leben dadurch auf unbestimmte Zeit erhalten werden könnte. Es gibt Krankheitsverläufe, bei denen Patienten schon vor der Sterbephase einer unheilbaren Krankheit auf die Weiterführung einer Therapie verzichten und dem Tod nichts mehr entgegensetzen wollen (z.B. nach sehr belastenden Therapien, wenn der Tod zwar noch hinausgezögert werden kann, aber medizinisch keine Hoffnung mehr auf Besserung besteht). Grundsätzlich gilt dies auch dann, wenn in einer Patientenverfügung für den Fall der Urteilsunfähigkeit bestimmt wird, dass bei Eintreten bestimmter Krankheitsumstände auf weitere Therapien verzichtet werden soll, selbst wenn das Leben noch auf unbestimmte Frist verlängert werden könnte.
Aber zwischen beiden Fällen besteht der wesentliche Unterschied, dass im zweiten Fall Andere für den Patienten entscheiden und handeln müssen. Für sie kann nicht allein der Patientenwille maßgebend sein, sondern sie haben dem Patienten gegenüber auch Fürsorgepflichten. Das betrifft z.B. den Fall, dass in einer Patientenverfügung ein Therapieverzicht im Blick auf einen Krankheitsverlauf verfügt wird, bei dem bei Einsatz der Therapie gute Heilungschancen bestehen. Im Zentrum der Auseinandersetzungen um die Patientenverfügung steht daher die Frage, wie die Selbstbestimmung des Patienten und die Fürsorge für ihn in ein angemessenes Verhältnis zu bringen sind. Eine gesetzliche Regelung sollte eine angemessene Balance zwischen beiden Prinzipien ermöglichen.
Vor dem Hintergrund der medizinischen Entwicklung ist die stärkere Beachtung der Selbstbestimmung von Patienten notwendig und wichtig für die Lebensgestaltung des Einzelnen. Der Einzelne soll grundsätzlich selbst bestimmen können, ob und wann bei einer unheilbaren Erkrankung die Zeit der Erwartung des Todes gekommen ist, damit nicht Andere diesbezüglich über ihn verfügen können. Der Respekt vor der Selbstbestimmung des Anderen schließt den Respekt vor seiner Sicht seiner Lebenssituation ein.
Andererseits gibt es jedoch vor dem Hintergrund des Kostendrucks im Gesundheitswesen und möglichen fragwürdigen Interessen von Angehörigen eine Fürsorgepflicht, Situationen zu vermeiden, in denen Druck auf alte und kranke Menschen ausgeübt werden könnte, ihr Leben zu verkürzen. Das könnte bereits dort beginnen, wo die Ausstellung einer Patientenverfügung zur Bedingung für die Aufnahme in ein Alten- oder Pflegeheim gemacht wird. Eine solche Praxis müsste durch den Gesetzgeber verhindert werden.
Bei Sterbenden handelt es sich häufig nicht um selbstbestimmt entscheidende, sondern um einwilligungsunfähige Patienten. Zusätzlich wird es auch bei vielseitigen Gesprächsangeboten immer eine beträchtliche Anzahl von Patienten geben, die keine Patientenverfügung ausfüllen wollen oder können. Es gilt also, auf diejenigen Patienten zu achten, die der gesellschaftlichen und ärztlichen Fürsorge ganz besonders bedürfen – mitunter nur für eine kurze Zeit, manchmal bis zum Tod. Respekt vor der Selbstbestimmung der Patienten und Fürsorge müssen im Einzelfall sorgfältig abgewogen werden.
Die Prüfung der Angemessenheit eines Sterbewunsches in Relation zum Krankheitszustand eines Patienten erfolgt unter dem Gesichtspunkt der Fürsorge. Insofern können hier die Selbstbestimmung eines sterbewilligen Patienten und die Fürsorge derer, die für ihn verantwortlich sind und nun seinen Tod zulassen sollen, in Spannung geraten.
Das Postulat der Respektierung der Selbstbestimmung der Patienten wurde im Rahmen der neueren Medizinethik gegen eine im schlechten Sinne paternalistische ärztliche Fürsorge erhoben, die auf den Willen des Patienten keine Rücksicht nimmt. In der Regel wird die Selbstbestimmung des Patienten in der wortwörtlichen Bedeutung verstanden: Der Patient bestimmt. Dies kann dann zu dem Missverständnis führen, dass Selbstbestimmung in Bezug auf das eigene Sterben gleichbedeutend ist mit Verfügung über das eigene Sterben. Der Gedanke der Selbstbestimmung scheint damit in Konflikt zu stehen mit dem christlichen Menschenverständnis, wonach Gott es ist, der allen Dingen und somit auch dem Sterben seine Zeit gesetzt hat. Das kann zu der Auffassung führen, dass es vom christlichen Menschenverständnis her geboten ist, dieser Haltung entgegenzutreten und das Sterben gänzlich der Selbstbestimmung zu entziehen.
Dem steht jedoch die Erkenntnis entgegen, dass mit dem Eintreten bestimmter Umstände – Altersschwachheit, eines zum Tode führenden Krankheitsverlaufs usw. – die Zeit gekommen sein kann, auf den Tod zu warten und seinem Kommen nichts mehr entgegenzusetzen. Das Postulat der Selbstbestimmung erwächst nach christlicher Einsicht aus dieser Erkenntnis. Es ist gleichbedeutend damit, dass man für sich selbst das Recht einfordert, bestimmen zu können, das verbleibende Leben gemäss dieser Erkenntnis zu verbringen und auszurichten und von Anderen darin geachtet zu werden, auch in der Art, wie man von ihnen behandelt wird. Diejenige Instanz, gegenüber der solche Selbstbestimmung eingefordert wird, ist also nicht Gott, sondern der Mitmensch.
Das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge hat in den Hintergrund treten lassen, dass Selbstbestimmung Fürsorge auch zur Voraussetzung hat. Das gilt in mehrfacher Hinsicht.
Erstens hat die selbstbestimmte Entscheidung eines Patienten, einer Therapie zuzustimmen oder sie abzulehnen, zur Voraussetzung, dass der Arzt ihm aufgrund des Gebots der ärztlichen Fürsorge diese Option offeriert.
Zweitens setzt wirkliche Selbstbestimmung voraus, dass der Patient die angebotenen therapeutischen Möglichkeiten zu seinem „Selbst“, d.h. zu seiner Sicht seiner Situation und zu seinem Lebenshorizont und Lebenskontext in Beziehung setzen können muss. Das kann er nur mit Unterstützung durch die Fürsorge des Arztes, der weiß, was die in Betracht kommenden therapeutischen Optionen ermöglichen, und der daher mit dem Patienten verbleibende Lebensperspektiven ausloten und besprechen muss.
Drittens ist zu berücksichtigen, dass sich Selbstbestimmung über explizit artikulierte Willensbekundungen hinaus auch in nichtsprachlichen leibhaften Ausdrucksformen manifestieren kann; diese sensibel zu beachten ist Teil der gebotenen Fürsorge.
Viertens kann die Selbstbestimmung um so differenzierter wahrgenommen werden, je umfassender das Feld der möglichen Optionen in den Blick genommen wird. Insofern ist es kein paternalistischer Übergriff, wenn zum Beispiel ein Arzt einem Menschen, der seinen Lebensmut verloren hat, mögliche Alternativen an Lebensoptionen vor Augen stellt.
Schließlich ist Selbstbestimmung nur möglich, wo ein Mensch nicht von starken Gefühlen wie Angst, Panik oder Verzweiflung beherrscht ist. Auch hier ist ein Mensch im Interesse seiner Selbstbestimmung auf Fürsorge angewiesen. Eine angstfreie selbstbestimmte Entscheidung setzt voraus, dass jeder Mensch Zugang zu einer professionell unterstützten liebevollen Pflege hat.
Aus all diesen Gründen gilt es, das berechtigte, aber oftmals einseitig akzentuierte Postulat der Selbstbestimmung aus einer falsch verstandenen Opposition zum Gebot der Fürsorge zu befreien. Die Fürsorge kann in Spannung und Konflikt treten zum Postulat der Selbstbestimmung, und das ist auch bei der Problematik der Patientenverfügungen der Fall. Aber die Selbstbestimmung ist zugleich auf Fürsorge angewiesen. Andererseits gehört es zu recht verstandener Fürsorge, die Selbstbestimmung eines Patienten zu achten und ihr so weit wie möglich Folge zu leisten. Der Respekt vor der Selbstbestimmung der Patienten ist, so gesehen, geradezu eine Implikation der Fürsorge. Diese Achtung betrifft insbesondere Verfügungen, die sich auf das Sterben beziehen. Die entscheidende Grenze, die es hier zu beachten gilt, wird durch das Kriterium der Angemessenheit gezogen (siehe dazu auch die Ausführungen in 4.5).
4.4 Aktueller Wille und Wille für zukünftige Erkrankungssituationen
Die Patientenverfügung gibt Menschen die Möglichkeit, ihren Willen auch für zukünftige Krankheitssituationen und für ihr Sterben zu äußern. Dies kann prinzipiell mündlich oder schriftlich zum Ausdruck gebracht werden.
Dafür, dass eine Patientenverfügung in Schriftform abgefasst wird, spricht, dass die meisten Menschen ihre Worte und Entscheidungen sehr viel sorgfältiger erwägen und bedenken, wenn sie sich schriftlich oder durch Unterschrift äußern als dann, wenn sie eine mündliche Äußerung abgeben. Aber auch mündliche Äußerungen müssen bei Nichtvorliegen einer schriftlichen Äußerung als Ausdruck des Willens des Patienten beachtet werden. Das Erfordernis der Schriftform dient jedoch der unterschiedlichen Gewichtung schriftlicher und mündlicher Äußerungen.
Eine Patientenverfügung dient dazu, den Willen eines Menschen, wie er im Zeitpunkt der Abfassung der Patientenverfügung für die eventuell künftig eintretende Situation der Nichteinwilligungsfähigkeit besteht, möglichst so klar zu formulieren, dass dann festgestellt werden kann, welche Behandlung (Therapiemaßnahmen) der erkrankte Mensch aufgrund der ergangenen Diagnose nun wünscht bzw. wünschen würde. Schon in dieser Formulierung kommt ein grundlegendes, letztlich nicht aufhebbares Dilemma zum Ausdruck, das jeder Patientenverfügung eigen ist: Sie wird zu einem Zeitpunkt ausgefüllt und unterschrieben, an dem die Situation, für die sie gelten soll, noch nicht eingetreten ist, also in einer näheren oder ferneren Zukunft liegen kann. Wer eine Patientenverfügung erlässt, trifft also über sich eine Verfügung, die sich auf eine spätere, andere Situation bezieht, die er jetzt noch nicht kennen kann. Daher kann er zwar vermuten, aber nicht wissen, was er dann für sich wollen würde. Aber da dies in jedem Fall eine Situation der Nichteinwilligungsfähigkeit ist, scheint dieses Dilemma nicht nur unaufhebbar zu sein, sondern muss auch hingenommen werden.
Bei dem Zeitargument spielt eine Rolle, dass die Patientenverfügung zu einer anderen, früheren Zeit abgefasst worden ist als jener, in der sich der Patient jetzt befindet, und dass daher seine in der Patientenverfügung vorgreifend niedergelegte Sicht dieses Zustands nicht ohne Weiteres für eine jetzt zu treffende Entscheidung über Therapiebegrenzungen maßgebend sein kann. Bei Verlust der Äußerungsfähigkeit des Patienten müssen notgedrungen Andere anstelle des Patienten die Entscheidung treffen. Dies wirft die Folgefrage auf, wessen Sicht in dieser Situation maßgebend für die Entscheidung sein soll. Gibt man das Kriterium der Patientensicht und des Patientenwillens auf, wird dadurch möglicherweise bewirkt, dass die Unterscheidung zwischen dem Herbeiführen und dem Zulassen des Todes hinfällig wird, indem Andere darüber entscheiden, wann die Zeit zum Sterben gekommen ist und ein Patient sterben darf – oder eben auch zu sterben hat.
Es ist deshalb zu fragen, ob die Zeitdifferenz zwischen der Abfassung der Patientenverfügung und dem aktuellen Zustand des Patienten die Patientenverfügung in ihrer Bedeutung einschränken soll. Fragen im Blick auf die Gültigkeit und Verbindlichkeit des vorgreifend formulierten Willens sind auf jeden Fall dann angebracht, wenn erstens Zweifel bestehen, ob der Patient die eingetretenen Umstände adäquat vorweggenommen hat und/oder es zweitens Anhaltspunkte dafür gibt, dass er seine Sicht und seinen Willen zwischenzeitlich geändert hat. Das bedarf dann sorgfältiger Abklärungen.
Auch in anderen Lebenszusammenhängen werden vorgreifend formulierte Willensäußerungen und Anordnungen als gültig und verbindlich geachtet. Bei Patientenverfügungen handelt es sich aber um etwas sehr viel Schwerwiegenderes als beispielsweise bei Anordnungen im Blick auf eine Abwesenheit während einer Urlaubsreise. Patientenverfügungen sind für eine unbekannte Zukunft mit Folgen für Leben und Tod formuliert, und weil die Zukunft unbekannt ist, versuchen sie Eventualitäten vorwegzunehmen und Bestimmungen für diese zu treffen. Eine solche Eventualität ist ein andauerndes Koma genauso wie eine tödlich verlaufende Krankheit. Aufgrund der vorhandenen medizinischen Möglichkeiten, die da, wo Menschen früher gestorben sind, heute das Leben unter Umständen über Jahre hinweg erhalten können, sehen sich viele Menschen genötigt, ihre Sicht davon, wann was im Blick auf ihr Sterben an der Zeit ist, im Vorgriff zu formulieren und zu hinterlegen oder Andere damit zu beauftragen, dafür zu sorgen, dass sie in ihrem Sinne behandelt werden.
Wenn ein urteilsfähiger Patient angesichts von schwerster Krankheit und Leiden die Nahrung verweigert, verbietet es der Respekt vor dessen Selbstbestimmung, ihn in diesem Fall zwangsweise zu ernähren. Wenn wir aber in dieser Weise den Willen und die Selbstbestimmung des urteilsfähigen Patienten respektieren, muss dies prinzipiell auch für den Fall seiner Urteilsunfähigkeit gelten. Dabei muss aber auch berücksichtigt werden, dass Menschen ihre Meinung ändern und dass Zeit und individuelle Erfahrung persönliche Gewichtungen verschieben. Eine Willenserklärung, mit der über eine zukünftige, noch nicht durchlebte und nur sehr schwer im Voraus regelbare Situation verfügt werden soll, kann nicht vollkommen gleichgesetzt werden mit einer Willenserklärung in einer aktuellen Situation. Mögliche Willensänderungen müssen deshalb gerade bei Einwilligungsunfähigen speziell gesucht und beachtet werden. Häufig ist dies schwierig oder gar unmöglich. Das Leben eines Menschen darf aber nicht leichtfertig verkürzt werden. Dabei ist auch die Erfahrung zu berücksichtigen, dass Gesunde mitunter den Wert eines Lebens mit eingeschränkten Entfaltungsmöglichkeiten deutlich geringer einschätzen, als es die Betroffenen selbst tun.
4.5 Die Reichweite von Patientenverfügungen
Wie kann man folglich im Hinblick auf das eigene Sterben vorsorgende Bestimmungen treffen, so dass der Tod zum einen seinen Charakter als Geschick behält und das Sterben zum anderen auf menschenwürdige Weise geschehen kann? Hierzu gibt es unterschiedliche Auffassungen.
Einer ersten Argumentation zufolge soll die Therapiebegrenzung in Patientenverfügungen (sowie das Unterlassen künstlicher Ernährung) nur bei tödlich verlaufenden Erkrankungen zulässig sein. Dem liegt die Sichtweise zugrunde, dass es in diesen Fällen die Kausalität der Krankheit und nicht das Unterlassen bestimmter medizinischer Maßnahmen an sich ist, die zum Tode führt. Das Unterlassen hat damit nur eine beschleunigende Wirkung in Bezug auf das Kommen des Todes. Dieser aber wird letztlich durch die Krankheit herbeigeführt.
Nach dieser Argumentation sollen bei Krankheiten, die nicht tödlich sind, lebenserhaltende Maßnahmen (wie z.B. künstliche Ernährung, Beatmung, Flüssigkeitszufuhr), solange sie medizinisch indiziert sind, genauso wenig ausgeschlossen werden können wie die Basisversorgung. Es widerspricht nach dieser Argumentation dem Charakter des Todes als Geschick, wenn allein die persönliche Sicht, die ein Mensch auf antizipierte leidvolle Lebenssituationen hat, ausschlaggebend für Patientenverfügungen in Bezug auf Maßnahmen ist, die nicht nur das Sterben, sondern das Leben verkürzen. Werde das Kriterium der Irreversibilität eines Krankheitsverlaufes zum Tode hin aufgegeben, würde es zunehmend schwerer werden, das selbstmächtige Verfügen über den eigenen Tod und infolgedessen die Legitimierung der Tötung auf Verlangen zu verhindern.
Mehrere Überlegungen fließen in diese ethische Position ein: Versteht man Selbstbestimmung als Freiheit zur Gestaltung der Abhängigkeit vom eigenen leiblichen Leben, dann haben auch entscheidungsfähige Personen kein absolutes Verfügungsrecht über ihren Leib und ihr Leben. Die Verweigerung von Nahrung oder medizinischer Hilfe kann bei alten oder schwerkranken Menschen auch ein Ausdruck verlorenen Lebensmutes sein. Was man solchen Menschen schuldet, ist in erster Linie tatkräftige Ermutigung. Bei entscheidungsunfähigen Personen kommt aber noch erschwerend hinzu, dass hier nicht mehr von einer Selbstschädigung ausgegangen werden kann, sondern auf dem Wege von Patientenverfügungen Dritten eine Fremdschädigung abverlangt wird. Es ist ein Unterschied, ob ein Patient durch Ablehnung einer Behandlung in der konkreten Behandlungssituation seinem Leben selbst ein Ende setzt oder ob andere Menschen für ihn entscheiden müssen.
Wenn dies nicht auf irreversibel tödliche Krankheitsverläufe begrenzt wird, werden Bevollmächtigte und Betreuer entweder in fast unlösbare Gewissenskonflikte gestürzt, oder aber es würde der Gewissenlosigkeit Vorschub geleistet. Es ist ebenfalls ein Unterschied, ob man sich in seiner Urteilsbildung eher von Fällen aus dem klinischen Kontext, von alltäglichen Erfahrungen aus familiären Kontexten oder aus der Pflege in Heimen leiten lässt. Hier sind vor allem die gleitenden Übergänge bei Krankheitsverläufen zu bedenken, ebenso die Schwierigkeiten pflegebedürftiger Menschen, sich anderen Menschen zuzumuten, aber auch die immensen Belastungen für Pflegepersonen, schließlich auch zahllose Beispiele von gelingendem Zusammenleben trotz der Hinfälligkeit eines der beteiligten Menschen. Die Möglichkeit, Patientenverfügungen abzufassen, soll nach dieser Argumentation die Fürsorgepflicht füreinander unterstützen und nicht untergraben. Weil die Vertreter dieser Position befürchten, dass die Fürsorgepflicht für alte und kranke Menschen durch den demographischen Wandel und die gesamtgesellschaftliche Tendenz zur Individualisierung bis hin zur Entsolidarisierung in Zukunft nicht mehr unumstritten sein könnte, messen sie dem Schutz des Lebens gerade am Lebensende eine steigende Bedeutung zu.
Demgegenüber tritt eine andere Position dafür ein, Therapiebegrenzungen nicht auf tödlich verlaufende Krankheiten zu beschränken. Ein klinisch stabiles Wachkoma ist keine tödlich verlaufende Krankheit, sondern kann sich bei entsprechender medizinischer Betreuung über Jahre hinziehen, bis der Patient aus einer akuten Ursache stirbt. Würden Therapiebegrenzungen auf tödlich verlaufende Krankheiten beschränkt, dann dürfte es bei einem solchem Wachkoma keine Therapiebegrenzung, z. B. im Falle einer Lungenentzündung, geben, damit der Patient sterben kann, sondern es müsste alles medizinisch Mögliche unternommen werden, ihn am Leben zu halten.
Dieser Position zufolge ist die Befürchtung unbegründet, es würden Weichen in Richtung auf die aktive Sterbehilfe gestellt, wenn Therapiebegrenzungen auch bei nicht tödlichen Krankheits- und Leidenszuständen zugelassen würden. Wenn die Willensbekundung eines Wachkomapatienten vorliegt, dass bei entsprechender Prognose auf therapeutische Interventionen verzichtet werden soll, damit er sterben kann, dann ist ein Therapieverzicht nicht eine aktive Herbeiführung seines Todes, sondern ein Zulassen seines Todes in dem Sinne, dass dessen Kommen nichts mehr entgegengesetzt wird.
In der Denkweise dieser Position würde die Beschränkung von Therapieverzichten auf tödlich verlaufende Krankheiten bedeuten, dass das Wissen, wann Sterben seine Zeit hat, ganz von medizinischen Erkenntnissen abhängig gemacht würde. Die Medizin müsste dabei den tödlichen Verlauf einer Krankheit prognostizieren. Erst dann dürfe bei Vorliegen einer entsprechenden Patientenverfügung auf weitere Therapien verzichtet werden. Demgegenüber wird daran erinnert, dass es nach biblischer Sicht zur verantwortlichen Lebensführung des Menschen gehört, selbst zu erkennen, wann was im Blick auf sein Leben und Sterben an der Zeit ist. Diese Erkenntnis, die den je eigenen Lebenshorizont betrifft, ist etwas anderes als eine medizinische Prognose. Diese kann dafür die Grundlage liefern. Aber sie kann die Erkenntnis der Zeit, die dem eigenen Leben bestimmt ist, nicht ersetzen. Es ist nach dieser Sicht zu respektieren, wenn ein Mensch angesichts eines bestimmten Krankheitsverlaufs zu der Überzeugung gelangt, dass die Zeit gekommen ist, den Tod abzuwarten und ihm nichts mehr entgegenzusetzen, auch wenn sein Leben medizinisch noch auf unbestimmte Zeit erhalten werden kann.
Ob die Zeit der Erwartung des Todes gekommen ist, lässt sich nach dieser zweiten Auffassung also nicht allein aus medizinischen Kriterien wie dem Krankheitszustand ableiten. Auch die Diagnose des Eintritts der so genannten Sterbephase lässt einen solchen Schluss nicht zu. Vielmehr kommt es dafür entscheidend auf die Sicht an, die der Patient selbst von seiner Situation hat. Ein Patient kann bis zuletzt hoffen und am Leben festhalten, oder er will noch bestimmte Dinge in seinem Leben regeln, und es wäre in diesem Fall offensichtlich falsch, wenn der Arzt aufgrund seiner Diagnose des nahen Endes im Sinne der Zulassung des Todes Maßnahmen einleiten würde, die dessen Kommen beschleunigen.
Der Diagnose des objektiven Krankheits- und Leidenszustands des Patienten kommt allerdings auch bei dieser Argumentation insofern Bedeutung zu, als von ihr abhängt, ob die Erwartung des Todes seitens des Patienten in Anbetracht seiner tatsächlichen Verfassung angemessen ist und folglich für das ärztliche Handeln maßgebend sein kann. Nach der zweiten Argumentation bedeutet dies, dass Therapiebegrenzungen mit Todesfolge oder die Reduktion der Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit nur eingeleitet werden dürfen, wenn erstens ein entsprechender Patientenwille vorliegt und hinreichend dokumentiert oder bezeugt ist und zweitens die medizinische Indikation bei dem Patienten ein Handeln im Sinne der Erwartung und Zulassung des Todes rechtfertigt. Wo dies nicht der Fall ist, da sind solche Maßnahmen als Herbeiführung des Todes zu werten und unzulässig.
Die Schwierigkeit der zweiten Argumentation liegt darin, die Grenzen der Selbstbestimmung des Patienten zu umreißen. Wann kann es die medizinische Fürsorge gebieten, dem Patientenwillen nicht Folge zu leisten? Wann ist ein vom Patienten verfügtes Handeln im Sinne der Zulassung des Todes nicht angemessen? Der Vorteil der ersten Argumentationslinie, verfügte Therapieverzichte mit Todesfolge auf tödlich verlaufende Krankheiten zu beschränken, ist, dass sie diese Fragen nicht beantworten muss. Nach medizinischer Einschätzung ist der Tod zu erwarten, und damit ist die Bewertung der Situation des Patienten im Sinne des Abwartens des Todes nach medizinischer Indikation eine angemessene Möglichkeit. Diese Argumentation hat zugleich den Vorteil, rechtlich besser regulierbar und handhabbar zu sein. Doch ist ihre Kehrseite, dass Menschen, die sich nicht in der Situation einer tödlichen Erkrankung befinden, gegen ihren Willen am Leben erhalten und am Sterben gehindert werden. Das steht in Spannung zur oben formulierten Sicht des Menschen, wonach es ihm zukommt zu erkennen, wann was im Blick auf sein Leben und Sterben an der Zeit ist.
4.6 Regeln für den Umgang mit Patientenverfügungen
Es steht kaum zu erwarten, dass allgemeine Regeln gefunden werden, die jeden Einzelfall hinreichend erfassen können. In vielen, wenn nicht den meisten Fällen wird die Entscheidung vielmehr eine Ermessensfrage sein. Das bedeutet, dass man hier einen Freiraum lassen muss für Ermessensentscheidungen im Hinblick auf Einzelfälle und nicht davon ausgehen kann, mit Rechtsbestimmungen alle Einzelfälle im Detail zu erfassen. In der Medizinethik ist diese Problematik bekannt und hat in den zurückliegenden Jahren dazu geführt, dass der prozeduralen Seite der Entscheidungsfindung verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dabei spielen Konsilien oder ethische Fallbesprechungen in vielen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen eine wichtige Rolle. Freilich geht es auch bei der prozeduralen Entscheidungsfindung nicht ohne die Orientierung an Regeln. Denn derartige Entscheidungsprozesse sind auf einen ethischen Orientierungsrahmen angewiesen, und es wäre dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet, wenn man jeweils ad hoc für jeden Einzelfall die ethischen Entscheidungskriterien neu erfinden müsste. Auch in rechtlicher Hinsicht geht es nicht ohne grundlegende Regeln, innerhalb derer sich solche Entscheidungen bewegen müssen.
Folgende ethische Regeln ergeben sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – aus fallbezogenen Abwägungen, die an der Balance zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung orientiert sind.
1. Wenn es nach medizinischer Einschätzung therapeutische Möglichkeiten gibt, die dem Patienten neue Lebensperspektiven eröffnen, dann kann sein vorgreifend geäußerter oder in einer Verfügung hinterlegter Sterbewunsch nicht maßgebend sein, und es ist alles zu tun, um sein Leben zu erhalten.
Diese Regel verdient nicht zuletzt deshalb Beachtung, weil bekannt ist, dass die meisten Menschen, die vorgreifend bekundet haben, dass sie sterben wollen, falls Lebenserhaltung bedeutet, dass sie mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen leben müssen, im Nachhinein das Leben mit diesen Beeinträchtigungen dem Nichtleben vorziehen.
2. Wenn aufgrund der vorhandenen medizinischen Möglichkeiten gute Aussichten bestehen, dass der Patient das Bewusstsein und die Urteilsfähigkeit wiedererlangen und dann selbst Entscheidungen treffen und Handlungen veranlassen kann, die sein Leben oder Sterben betreffen, dann sollten diese medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden.
Der Grund ist auch hier, dass Menschen, die im gesunden Zustand eine Verfügung für eine bestimmte Situation getroffen haben, diese Situation häufig, wenn nicht in den meisten Fällen anders sehen, wenn sie sich in ihr befinden.
Die Verfügung eines Mannes, der bestimmt, dass im Falle eines Autounfalls, bei dem seine Frau den Tod findet, keine lebenserhaltenden Maßnahmen an ihm vorgenommen werden sollen, obwohl er gute Aussichten hat, das Bewusstsein und die Urteilsfähigkeit wiederzuerlangen, kann nach diesem Kriterium nicht als maßgeblich erachtet werden. Dasselbe gilt für die Verfügung eines Motorradfahrers, in der bestimmt wird, dass keine lebenserhaltenden Maßnahmen unternommen werden sollen, wenn nur mehr die Aussicht auf ein Leben als vollständig Gelähmter besteht.
3. Patientenverfügungen, die im Blick auf Krankheitszustände formuliert sind, bei denen der Patient zwar urteilsunfähig ist, aber Wünsche, Bedürfnisse und einen Lebenswillen haben und – wenn auch mit Einschränkungen – am sozialen Leben teilhaben kann, können nur unter Einschränkungen für den Arzt handlungsleitend sein.
Das ergibt sich aus dem Gebot der Fürsorge, die sich an den aktuellen Lebensäußerungen des Patienten zu orientieren hat.
Zu denken ist hier etwa an Verfügungen, nach denen im Falle einer Demenzerkrankung Infektionen nicht mehr medizinisch behandelt werden sollen. Hier wirft der Ausgleich zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung schwierige Ermessensfragen auf. Je näher sich der Patient zwischen den beiden Polen des Beginnes und des Endstadiums der Demenz beim ersten Pol befindet, umso weniger ist es zu vertreten, entgegen seinem aktuellen Befinden und seiner aktuellen sozialen Teilhabe die früher formulierte Patientenverfügung an ihm umzusetzen und ihn sterben zu lassen. Je näher er sich beim Pol des Endstadiums der Demenz befindet, umso größeres Gewicht erlangt der in der Patientenverfügung niedergelegte Wille. Die Orientierung an den aktuellen Lebensäußerungen des Patienten kann auch bedeuten, dass die beharrliche Nahrungsverweigerung eines Demenzpatienten trotz geduldiger Versuche der Pflegenden, Nahrung anzubieten, zu respektieren ist und er in diesem Fall nicht zwangsweise zu ernähren ist, selbst wenn dies seinen Tod zur Folge hat. Im Zweifel ist jedoch für das Leben zu entscheiden.
4. In Fällen, in denen der Patient ohne Bewusstsein ist und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit trotz Ausschöpfung aller medizinischer Möglichkeiten das Bewusstsein niemals mehr wiedererlangen wird, ist gemäß dem voraus verfügten Willen des Patienten zu handeln, was auch heißen kann, dass man auf therapeutische Interventionen (6) verzichtet und ihn sterben lässt.
Diese Regel ergibt sich aus dem Gebot, zum Besten des Patienten zu handeln, was einschließt, dass man seine Sicht und seinen Willen so weit wie möglich – d. h. wie es mit dem Gebot der Fürsorge vereinbar ist – achtet.
„Geborenwerden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit.“ (Koh 3,2)
Die Selbstbestimmung, die Sicht und der Wille des Einzelnen, aber auch Fürsorge und Zuwendung sind Gesichtspunkte, die im Leben und im Sterben Gewicht haben und zur Geltung gebracht werden müssen. Alle diese Gesichtspunkte speisen sich nach christlichem Verständnis aus der Einsicht, dass der Mensch nicht dazu bestimmt ist, zu vergehen, sondern in Gottes Ewigkeit vollendet zu werden. Das verleiht dem begrenzten, sterblichen Menschen seine unantastbare Würde.
Fußnoten:
(6) Es ist in der Diskussion umstritten, ob die künstliche Ernährung zu diesen Interventionen gerechnet werden kann.