Fern der Heimat: Kirche - Urlaubs-Seelsorge im Wandel
I. Eine kurze Geschichte des Tourismus - Reisemoden, Urlaubstrends und touristische Entwicklungen
Mit einigen wenigen Strichen sollen die Dimensionen angedeutet werden, in denen sich kirchliches Handeln auf diesem Feld bewegt. Dazu gehören zum einen die Zahlen, Fakten und auch Finanzmengen, um die es im Tourismus geht und zum anderen die bisherigen Deutungen des Phänomens „Tourismus“. Während man bei dem ersten Gesichtspunkt die Kategorie „Urlaubsindustrie“ verstehen lernt, kann man der Geschichte der Theoriebildung unschwer ansehen, dass sie immer auch Spiegel und Ausdruck des Zeitgeistes war, der die Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg prägte.
1. Zur Bedeutung des Tourismus für Deutschland
a) Zahlen und Dimensionen
Reisen ist „in“. Die Touristikbranche legt Jahr für Jahr zu. 800 Millionen Menschen sind pro Jahr auf Urlaubsreisen unterwegs und über 100 Millionen Beschäftigte finden weltweit Lohn und Brot in der Tourismusbranche. Rund 25 bis 30 Prozent des Welthandels im Dienstleistungsbereich entfallen auf grenzüberschreitende Reisen. In Deutschland konkurriert die Tourismusbranche z.B. mit dem Maschinenbau und der chemischen Industrie; mit ca. 200 Milliarden Umsatz hat sie ebenso viel erwirtschaftet wie diese beiden Produktionsbereiche.
Tourismus ist die Leitökonomie der Moderne und so dokumentieren weitere ökonomische Fakten für Deutschland die wirtschaftliche Bedeutung und gesellschaftliche Leitbildfunktion von Reisen, Urlaub und Erholung. Im Jahr 2004 haben 64,7 Millionen der Bundesbürger ab 14 Jahren Reisen unternommen. Dies entspricht einer Reiseintensität von 74,4%. Dazu kommen noch einmal 13 Millionen Reisen von Kindern unter 14 Jahren.
Eine Analyse der letzten 10 Jahre zeigt, dass trotz wirtschaftlicher Engpässe und gestiegener finanzieller Belastungen für die Familien die Urlaubsreisedauer zwar abnimmt, das Reisevolumen und die Urlaubsausgaben aber weiter zunehmen. Am Urlaub sparen die Deutschen (nach den Ausgaben für Nahrungsmittel) am wenigsten. Der Trend geht dahin, dass die meisten Deutschen kürzer aber häufiger als früher Urlaub machen. So betrug die durchschnittliche Urlaubsdauer im letzten Jahr im Inland 11 Tage, im Ausland 13,7 Tage. Laut der 21. Deutschen Tourismusanalyse kostet die Deutschen ein Urlaub im Durchschnitt inkl. Reise, Unterkunft und Nebenkosten 1025 €. Den Urlaubern im Alter von 50-64 Jahren soll dabei am meisten Geld zur Verfügung (1204 €) stehen.
Charakteristisch für den modernen, gutsituierten Ferienmenschen heute ist der Mix unterschiedlicher Urlaubsangebote in einem Jahr. Im Trend „kürzer, aber dafür häufiger“ stehen der aktive Skiurlaub zur Winterzeit neben Gesundheits- und Wellnessangeboten im Frühjahr, Bade- oder Wanderferien im Sommer sowie Studien- und Städtereisen im Herbst im Programm.
Familien mit Kindern dagegen haben für den Urlaub am wenigsten Geld (951 €) zur Verfügung. In ihrem Urlaub sind das friedliche familiäre Miteinander, Ruhe und Erholung wichtig. Mittelpunkt des Urlaubs sind die Familienmitglieder selber, weniger das touristische Umfeld (vgl. Opaschowski, Tourismus, S. 73-75). Traditionelle, dreiwöchige Familienurlaube nehmen eher ab bzw. werden tendenziell Kleinkindurlaube, die spezifischen Erwartungen und Gesetzen unterliegen. Auch wenn die Urlauber kürzer und günstiger Urlaub gestalten müssen als bisher, sind ihre Ansprüche an die Qualität der Unterkunft, Sauberkeit und Sicherheit hoch geblieben. Der Urlaub im eigenen Land verbucht – wohl auch aus diesen Gründen – seit der Jahrtausendwende hohe Zuwächse.
Ein interessanter und wachsender Markt erschließt sich mit der demographischen Entwicklung. Die Urlaubsreiseintensität der über 60 Jährigen ist in den letzten 11 Jahren überproportional (um 84 %) gestiegen und setzt zunehmend Trends. "Rentner sind Trendner", so der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx (FVW 5, 5.3.04, S. 50f).
Im Jahr 2004 verbrachten 21,5 Millionen Bundesbürger ihren Urlaub in Deutschland. Bayern und Mecklenburg-Vorpommern führen dabei die Inlandsreiseziele an, die Ostsee, die Nordsee und die Alpen werden zunehmend von allen Bevölkerungsgruppen neu entdeckt. Bei den Auslandsreisezielen liegt Spanien (10,8 %) deutlich vor Italien (8,4%), Österreich (6,7%) und der Türkei (6,1%) an der Spitze; Fernreisen machen nur noch 5,1% aller Urlaubsreisen aus.
Trotz der ökonomischen und sicherheitspolitischen Unsicherheiten beabsichtigen die Deutschen wieder mehr zu verreisen. Im Januar 2005 gaben lt. Reiseanalyse 70 % der Deutschen über 14 Jahren an, im Jahr 2005 wahrscheinlich verreisen zu wollen. Die Zahl derer, die nicht vereisen wollen, gibt die Reiseanalyse mit 14%, die BAT-Tourismusanalyse mit 25% an (vgl. Reiseanalyse 2005 sowie 21. B.A.T - Tourismusanalyse).
b) Motivationsforschung
Umfragen zeigen, dass heutige Urlauber hohe Erwartungen an ihre Urlaubszeit haben. Diese soll eine ganz besonders schöne, te Zeit mit intensiven Naturerlebnissen, entspannenden Körpererfahrungen und unverbindlichen Bekanntschaften sein. Urlauber suchen Erholung, Wohlgefühl, Sorglosigkeit, Anregung, Abenteuer und Lebensfreude im Urlaub. Es geht ihnen um Entspannung, Erlebnis und Genuss für Körper, Seele und Geist. Sie möchten „verändert“ aus ihrem Urlaub zurückkehren. Die Urlaubs-Seelsorge nimmt diese Wünsche und Sehnsüchte auf und bietet den Menschen in ihrer Urlaubszeit verschiedene Formen der Begleitung an. Zugleich besteht die Gefahr, dass diese vielfältigen und hochgesteckten Erwartungen sich nicht erfüllen und der Urlaub auf diese Weise vielfache Enttäuschungen bieten kann.
Manche Menschen wollen einfach nur weg, andere in der Ferne zu sich selbst finden. Die Palette der Urlaubsmotive ist breit gefächert. Die meisten Urlauber sehnen sich nach eigener Aussage vor allem nach Ruhe, viel Sonne und einer kontrastreichen Zeit zum Alltag. Meistens wird ein Mittelweg zwischen Ent- und Anspannung gesucht, allein schon, um den verschiedenen Bedürfnissen der Familienmitglieder gerecht zu werden. Da im Alltag nie alle Facetten einer Persönlichkeit ausgelebt werden können, bietet der Urlaub auch Gelegenheit, neue Seiten an sich zu entdecken und anzunehmen. Das bisher nicht Gelebte wird integriert. So kann das Reisen durch die Auseinandersetzung mit dem Neuen zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit beitragen. Auf jeden Fall möchte man Zeit haben. Zeit für sich, für andere und auch für Gott.
Fern vom Alltag möchten die Meisten unberührte Natur genießen und hautnah spüren. Schöne Landschaften und Panoramaausblicke vermitteln dabei ein Gefühl von der Erhabenheit und Schönheit der Schöpfung und vom Entrücktsein aus dem beschwerlichen Alltag. Man genießt im Urlaub besonders das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, weil man in den Tag hinein lebt. Tun und lassen zu können, wozu man gerade Lust hat, ist das krasse Gegenteil zum Alltag daheim.
In der Typologie des Urlaubers (Badeurlaub, Campingurlaub, Kunst- und Studienreise) finden sich Familien vorwiegend in den beiden ersten Formen. Lockere, zwanglose Kontakte sind vor allem den Singles wichtig, wobei aber unterschwellig eine Sehnsucht nach echten dauerhaften Beziehungen mitschwingen kann. Für viele Urlauber gehört die sportliche Betätigung zum festen Bestandteil des Urlaubsprogramms. Man spürt und erlebt den eigenen Körper intensiver als sonst, wodurch man sich insgesamt "lebendiger" fühlt.
Fazit: Ruhe, sonniges Wetter, intakte Natur, Kontrast zum Alltag, Ausschlafen, Wellness, Sport, Ausflüge mit ein wenig Bildung und neue Kontakte – das sind die meistgenannten Motive für den Urlaub. Reisen ist nach wie vor die populärste 'Suche nach Glück'.
2. Zur Geschichte der Tourismusforschung – "Kritik und Faszination des Reisens"
In den letzten fünf Jahrzehnten gab es vielfältige theoretische, z.T. kritische Auseinandersetzungen mit dem Phänomen des Tourismus. Der Wunsch zu Reisen erklärt sich aus verschiedenen Motiven, die zwar unterschiedlich interpretiert wurden, sich aber doch in einem einig waren: Urlaub stellt den Gegenentwurf zum Alltag dar. Der Alltag ist das Gewöhnliche, der Urlaub das Außergewöhnliche (John Urry). Auf die Frage, warum diese nicht alltägliche Sonderwelt des Urlaubs regelmäßig und massenhaft aufgesucht wird, gibt es eine Fülle unterschiedlicher Antworten.
Eine tiefer ansetzende Analyse wird nicht zuletzt dadurch erschwert, dass das Phänomen des Tourismus schnell mit kulturkritischen Vorstellungen belegt wird. Negative Konnotationen schwingen mit: Ausweichen vor der Realität, Suche nach einem illusionären Glück, Verdrängung des Alltags. Touristen sind immer die anderen. Auch darin zeigt sich die Belegung mit kulturkritischem Klischee, dass man das eigene Reisen grundsätzlich als höherwertig ansieht als das der anderen. Wo der Tourismus überwiegend als Ausdruck bestehender Defizite in unserer Alltagswelt verstanden wird, verstellt sich der Blick auf die wesentliche Seite des Tourismus: die Faszination des Unterwegsseins, der Steigerung des Lebensgefühls, der Lust des Reisens. Im Folgenden werden die wichtigsten Theorieansätze kurz dargestellt:
a) Kulturkritische Ansätze
Tourismus als Flucht – "Raus aus Alltag, Umgebung und Arbeit"
Hans Magnus Enzensberger hat 1958 seine "Theorie des Tourismus" vorgelegt. Er sieht im Tourismus eine Fluchterscheinung, die aus dem bürgerlichen Freiheitswunsch und der Unwirtlichkeit der modernen Lebenswelt gespeist wird. Das um 1800 entstandene Freiheitsbewusstsein konnte im Alltag von den meisten Menschen nicht verwirklicht werden, weshalb die Freiheitsvorstellung im Zeitalter der Romantik in die Welt der Imagination verlagert wurde. "Tourismus ... ist nichts anderes als der Versuch, den in die Ferne projizierten Wunschtraum der Romantik leibhaftig zu verwirklichen." [1]
Dieser Ansatz begründet den Tourismus ausschließlich mit dem negativen Motiv der Flucht; vom Glück, Vergnügen und der Faszination des Reisens ist nicht die Rede. Außerdem stellt sich die Frage, warum gerade die, die am wenigsten Grund zur Flucht hatten, früher am häufigsten gereist sind (Reiche, Gelehrte, Adlige, Geistliche). Trotz dieser Schwächen hat die Fluchttheorie weite Verbreitung gefunden und – allerdings nur im deutschen Sprachraum – große Wirkung erzielt.
Tourismus aus Konformismus – "Reisen wie alle anderen"
Die Tourismuskritiker der sechziger und siebziger Jahre (z.B. Hans-Joachim Knebel) haben das Bild des außengeleiteten Touristen verbreitet, der aus "Mobilitätszwang" reist. Soziale Anpassung und Prestigedenken sind demnach die Hauptmotive des Reisens. Es entsteht der Leistungsdruck, möglichst viel gesehen zu haben, um es später den Daheimgebliebenen präsentieren zu können. Paul Fussel meint, der Tourismus verlange, dass man konventionelle Dinge auf konventionelle Weise sieht. Es ist erstaunlich, dass sich der Drang nach Konformismus und der Wunsch nach Prestige bei fast allen Menschen weltweit auf das Reisen richten soll.
Reisen als Triebbefriedigung – "Reisen als Luxus-Bedürfnis"
Das moderne Reisen wird hier auf angeborene oder im Laufe der Menschheitsgeschichte erworbene Triebe zurückgeführt. Josef Stradner erwähnte den Wandertrieb bereits 1905 als Reisemotiv. Bei Bruce Chatwin und Hans-Magnus Enzensberger findet sich der Gedanke des (angeborenen) Nomadismus. Klaus Dieter Hartmann nennt Neugier und Erkundungsverhalten als Motive. Demnach wäre der Mensch immer auf der Suche nach neuen Reizen. Abraham Maslow geht von einem Modell der Bedürfnispyramide aus. Wenn die elementaren Grundbedürfnisse (Nahrung, Wärme, Sexualität) und die nicht lebensnotwendigen Bedürfnisse (Zuwendung, Anerkennung) befriedigt sind, werden die Entwicklungsbedürfnisse (Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit) befriedigt, wozu manche Sozialwissenschaftler auch das Reisen zählen. Demnach ist das Reisen ein zusätzlicher Luxus, den sich Menschen unabhängig ihrer sozialen Herkunft oder Prägung leisten wollen.
Urlaub als Ventil für den Alltag – "Reisen als psychische Hygiene"
Erentraud Hömberg meint, es ginge darum, in den Ferien Spannungen aus anderen Lebensbereichen aufzulösen und Distanz zu sich selber und den gewohnten sozialen Bezügen zu finden. Psychische Hygiene ist zusammengefasst im Begriff „Erholung“. Erwin K. Scheuch hat 1969 als Reisemotiv die Distanz zur gewohnten Umgebung genannt und ihr einen Regenerationseffekt zugeschrieben. Nach der Erholungstheorie hat der Urlaub Ventilfunktion.
b) Annäherungen an die Faszination des Reisens
Touristen als Pilger – "Gemeinschafts- und Transzendenzerfahrungen"
Vor allem im angelsächsischen Sprachraum werden Parallelen zwischen Tourismus und Pilgertum gesehen. Für Dean MacCannells spiegelt sich im Tourismus die abendländische Tradition der Selbstfindung als "eine komplexe und manchmal mühselige Suche nach einem Absoluten Anderen" [2]. Sehenswürdigkeiten werden sakralisiert und dadurch als bedeutend definiert. Das Besichtigen bekommt eine moralische Struktur: Manches muss man einfach gesehen haben. Wie Pilger wandern die heutigen Reisenden zu "sakralen" Plätzen, an denen sie hoffen, Transzendenzerfahrungen zu machen. Es ist eine Gemeinschaftserfahrung im Zeichen der letzen Werte.
Der australische Kulturwissenschaftler Daniel Horne weist Sehenswürdigkeiten den Charakter von Reliquien zu, vergleicht Reiseführer mit Devotionalientexten und bezeichnet Museen als moderne Tempel, in denen die Werke wie sakrale Objekte betrachtet werden. Sogar Disney World in Florida hat der Anthropologe Alexander Moore mit einem klassischen Pilgerziel verglichen, wozu ein umgrenzter Platz abseits des Alltagslebens, eigene Zugangsrituale, Symbole und gemeinschaftliche Aktivitäten gehören und die Attraktionen nach dem Modell ritueller Passagen organisiert sind. Der Zusammenhang von religiösen Wallfahrten und modernen Reisen gilt besonders für Kunstreisen.
Reisen als Selbstveränderung – "Frei von sozialen Rollen und Zwängen"
Der britische Sozialwissenschaftler Rob Shields betont, dass historisch bedeutsame Reiseziele oft Orte am Rande der sozialen Welt sind, also "marginal places". Die Randbereiche sind Regionen von Spiel, Erotik, Natur und der Bereich des Karnevalesken. Als Beispiele dienen Shields die südenglischen Seebäder und die Niagarafälle. Der französische Soziologe Jean-Didier Urbain hat den Badeurlaub ausführlich untersucht. Am Strand konstituiert sich ein von den alltäglichen Zwängen freier Kosmos mit intensivem Erleben der eigenen Physis, Leichtigkeit von Kontakten, Genuss der Regression und verringerter Komplexität sozialer Beziehungen. Es ist die Umkehrung der Regeln der städtischen Gesellschaft. Die Badewelt ist eigentlich irreal und schafft eine neue Wirklichkeit für die Zeit des Urlaubs.
Der Historiker Hasso Spode beschreibt das moderne Reisen als Zeit-Reise. Je stärker die Kontrolle und die Zwänge der Gesellschaft zunehmen, desto mehr sehnt sich der Mensch nach der (vermeintlichen oder tatsächlichen) Freiheit prämoderner Zustände, nach unberührter idyllischer Natur und "unverdorbenen" Menschen. Solche Sehnsucht nach den "ursprünglichen Welten" war bereits im Zeitalter der Romantik anzutreffen. Touristen wollen sich auf der Zeitachse zurückbewegen, woraus durchaus eine Ambivalenz gegenüber den Errungenschaften der Moderne spürbar wird.
Die Sozialwissenschaftler Maxine Feifer und John Urry bringen den Begriff "Post-Touristen" ein. Diese neue Spezies wechselt bewusst zwischen den Spielen der Reise: Hochkultur und sinnlicher Genuss, Konsum und Aktivität, Besichtigungen und Shopping. Dafür bieten sich die synthetischen Ferienwelten, die Shopping-Erlebnis-Malls, und die Themen- und Vergnügungsparks an. Die Welt wird zur Bühne, der Tourist sucht nicht länger das Echte. Allerdings unterschätzt dieser Ansatz die Magie des authentischen und ursprünglichen Erlebnisses.
Nichtalltägliche Welten – „Urlaub als 'rites de passage'"
Vor allem im englischsprachigen Raum wurde die Theorie entwickelt, in der der "Urlaub als Gegenwelt" in einen historischen und ethnologischen Kontext gestellt wird. Die Vordenker dafür waren Emile Durkheim und Arnold van Gennep. Durkheim hat in seiner Religionssoziologie "profane" und "heilige" Zeit unterschieden, was in die Kulturanthropologie eingeflossen ist. Van Genneps Theorie der Übergangsriten wurde durch die Vermittlung des Anthropologen Victor Turner für die Tourismusforschung bedeutsam: Danach vollziehen sich die 'rites de passage' in einem Dreischritt: Trennungsphase, Aufenthalt in einem von besonderen Regeln geprägten Sonderbereich (Übergang bzw. Umwandlung) und Rückkehr als "neuer Mensch" mit einem veränderten sozialen Status in die Gemeinschaft (Wiedereingliederung). Die Struktur dieses Modell lässt sich auf alle Formen des Reisens übertragen: Trennung, nichtgewöhnliche Lebensphase und Rückkehr. Theologisch bedeutsam ist, dass die Theorie der ‚rites des passage’ die modernen Entwürfe zur Kasualtheorie maßgeblich geprägt hat. Dieser Zusammenhang ist wichtig und zeigt eine erst auf dem zweiten Blick erkennbare Nähe von Tourismus und kirchlichem Handeln, die in Kap. II näher betrachtet werden wird.
Entfernt verwandt mit den Grundgedanken Turners ist der Grundgedanke des amerikanischen Historikers Eric Leed: [3] Reisende verlassen ihre gewohnte soziale Umgebung, sie verlieren damit ihre bisherige Identität. Damit bildet das Reisen den Ausgangspunkt für mögliche Selbstveränderung. Es ist mit psychischem Sich-Aussetzen und Gefährdung verbunden, aber zugleich die Vorraussetzung für Verwandlungsprozesse. „Implizit liegt das Religiöse eben schon in jeder Transzendenzerfahrung im Sinne des offenen, nicht festgelegten, in seinen Folgen prinzipiell unbestimmten Überschreitens des bisherigen Lebensstatus, einer Lebensphase“ [4]. In der Theorie von Leeds bündeln sich sowohl eine Schwellentheorie als auch damit verknüpft die Frage der Identität und ihrer Gefährdung und Neukonstruktion, also Themen der Seelsorge und der Kasualtheorien.
Imaginäre Welten – "Ausgewählte Erlebnisse und Eindrücke"
In den 50er Jahren hat Henri Raymond im Anschluss an Edgar Morin den Begriff des "Imaginären" in die Diskussion eingebracht und deutlich gemacht, wie kollektive und individuelle Phantasien die Urlaubswahrnehmung prägen. Die Reise oszilliert in eigentümlicher Weise zwischen Realität und Traum; sie wird zur 'konkreten Utopie', in der die Urlauber Bilder der Wirklichkeit wiederfinden (Hennig, ebd. S. 47). Ähnliche Gedanken äußerten Joffre Dumazedier, Alain Laurent und Jean-Didier Urbain. Das Imaginäre soll verwirklicht werden. Das heißt, dass der Tourist kein realistisches Bild der besuchten Gebiete hat, sondern sich ein eigenes konstruiert aus Phantasien und Bildern sowie Projektionen der eigenen Sehnsüchte. Die Wahrnehmungen orientieren sich an individuellen Bedürfnissen und kollektiven Phantasien. Diesen "unrealistischen" Blick hat es immer schon gegeben. Früher folgten die Menschen Bildern und Büchern: Gemälde, Poesie und Romane dienten dem Reisenden als Orientierung und Sehnsuchtsgrundlage. Literarische Fiktion und Reisewahrnehmung waren miteinander verwoben.
Urlaub als Wunsch nach Verwandlung
Für den Tourismuswissenschaftler und Autor Christoph Hennig entspringt der Urlaub dem Wunsch nach Verwandlung [5]. Der Mensch möchte ganz und heil und ein neuer Mensch werden. Wer reist, möchte Neues Erleben, Erfahrungen machen, die sich vom Alltag unterscheiden. Er hat eine Sehnsucht nach dem Anderssein und nach dem ganz anderen.
Verreisen ist die Herauslösung aus dem Alltag. Dazu dienten früher die (in der Regel religiösen) Feste, heute der Urlaub. Man unterbricht den Alltag und bricht zu Neuem und Unbekannten auf. „Das Ausgeschlossene, Verbotene, Unterdrückte [...] wird in irgendeiner Weise handhabbar gemacht. [...] Jede Kultur hält daher den Zugang zu dem offen, was ihrem Alltag fremd ist. Sie macht das Ausgeschlossene erfahrbar in ihren Mythen, ihrer Kunst, ihren Ritualen, ihren Festen ihrer Religion.“ [6] Heute hat der Urlaub wesentliche Funktionen der Feste übernommen. Der Wunsch nach Verwandlung, der seinen Ausdruck im Urlaub findet, wohnt jedem Menschen inne. Der Mensch, der nicht gern vereist, hat für sich andere Formen gefunden, mit deren Hilfe er besondere Tage vom Alltag abhebt. Auch hier zeigen sich mit den Themen „Schwellenübergang“, „neu werden“, „Identitätsrekonstruktion“ wichtige theologische Themen.
Urlaub in der Spannung von Ritual und Spiel
Der Urlaub ist von vielfältigen Ritualen geprägt. Bereits die Anreise, das Tragen anderer Kleidung gehören ebenso zum Ritual wie sonnen, baden, essen und trinken, spazieren gehen, schlafen. Dazu zählt auch, dass viele Menschen dasselbe Reiseziel mehrmals aufsuchen. Rituale haben grundsätzlich stabilisierende Funktion. „So betten Rituale die Betroffenen in das Leben ihrer Gruppe und in deren Wertsystem ein und stützen sich dadurch zugleich von innen.“ [7] Aber Ritual ist nur eine Seite des Urlaubs. Die andere Seite ist die des Spiels [8]. Dieselbe Spannung von Ritual und Spiel zeigt sich in Vertrautheit und Aufbruch, Bekanntem und Neuem. Dabei ist der Rausch ein wichtiges Element des Spiels: er ist das Spiel der „veränderten Wahrnehmung“ [9]. Rollenfixierungen, die gefährlich werden können, wenn sie mit dem Ich identifiziert werden [10], können spielerisch aufgebrochen werden.
Urlaub als Suche nach dem Paradies
Der Freizeit- und Tourismus-Forscher Horst Opaschowski [11] erkennt im Urlaub die Idee von einem anderen Dasein, und zwar in einem physischen Sinn (als Ort der Erfüllung von natürlichen Interessen) und in einer metaphysischen Bedeutung. Letztere aber speist sich aus dem Wunsch „Jenseits von Eden“ zu sein, die Vertreibung aus dem Paradies rückgängig zu machen. Opaschowski erkennt dabei eine gewisse Todessehnsucht und die Hoffnung auf „ein Leben danach“. Darauf deutet auch die Urlaubersprache selbst hin: „Abschalten“, „Sich-hängen-lassen“, „die Seele baumeln lassen“. Hier wird deutlich, dass Urlaub und Urlaubsdilemma eng zusammen gehören. Denn das Paradies hat keinen Ort, an dem es zu finden ist. Und da man das Paradies ja er-„leben“ will, sucht man – so Opaschowski – notgedrungen den Himmel auf Erden. Zugleich ist es wichtig für Kirche, sich dieser Sehnsucht bewusst zu sein, um den Menschen Wege zu eröffnen, mit ihr umzugehen und der Sehnsucht Raum zu geben.
Urlaub als Herausforderung der eigenen Religiosität durch ein anderes religiöses Umfeld
Während die geschilderten Theorien den Urlaub allgemein betrachten, resultiert ein weiteres Phänomen aus den klassischen Urlaubszielen im Süden Europas (Italien, Spanien, Griechenland, Türkei). Die Begegnung mit fremder Religiosität ist immer auch eine Anfrage an die eigene religiösen Wurzeln. Das gilt insbesondere für Frömmigkeits- und Darstellungsformen von Religion, die sich von unseren unterscheiden. Dazu gehören der italienische und spanische Katholizismus ebenso wie die griechisch-orthodoxe Kirche und der Islam in der Türkei. Diese oftmals sinnenfreudigen Ausprägungen gelebter Frömmigkeit wirken auch auf viele Touristen und erwecken Neugier, überraschen oder befremden, hinterlassen aber immer einen Eindruck. Diese Begegnungen sind daher auch immer eine Anfrage an die eigenen religiösen Wurzeln und, wenn diese verschüttet sind, an die eigenen Sehnsüchte und Hoffnungen. Kirche muss präsent sein und helfen, für dieses Erleben eine Sprache zu finden. Sie gibt dieser Auseinandersetzung einen Raum, bezieht aber auch klar Position und versteckt nicht die eigenen Stärken.
c) Fazit: Die religiösen Implikationen des Urlaubs
Bemerkenswert ist, dass alle geschilderten Skizzen der neueren Tourismustheorien, die ohne Ausnahme aus der Tourismuswissenschaft stammen und daher keine kirchliche Bindung haben, deutliche religiöse Berührungspunkte und Bezüge haben. Diese wirken sich oft nur auf einer Ebene unterhalb des Bewussten aus. Die Beschreibungen eines Urlaubs als Passageritus und als Wunsch nach Verwandlung, zeigen eine sehr deutliche Nähe zu kirchlichem Handeln in den Kasualien. Urlaub und Reisen sind Abschnitte des Lebens, die Veränderung bringen, die nicht nur räumlich stattfinden und Ausdruck für die vielfältigen Sehnsüchte der Menschen sind. So gibt es eine Vielzahl von Themen, die Tourismus und Theologie gemeinsam haben: Begegnungen und Gemeinschaft, Glück, Weg und Reise, Heimat und Fremdheit, Gastfreundschaft, Sehnsucht nach Fülle, Rituale und Fest, Paradies, gelingendes Leben / Sinn, Wunsch nach Verwandlung, Angst und Geborgenheit.
Für Kirche gilt, dieses religiöse Feld wieder stärker in den Blick zu nehmen, präsent zu sein und Position zu beziehen. Den Tourismustheorien zufolge bahnt der Urlaub für viele Menschen den Raum für eine Begegnung mit Gott und Kirche und eröffnet so eine missionarische Chance.