Fern der Heimat: Kirche - Urlaubs-Seelsorge im Wandel
V. Formen der Begegnung – Prinzipien kirchlichen Handelns
1. Formen der Begegnung
a) Formen der Verkündigung – gute geistliche Angebote
Die missionarischen Chancen kirchlichen Handelns fern der Heimat sind nur so zu gewinnen, dass der besondere Anlass „Urlaub“ spezifische theologische Themen und besondere rituelle Formen erlaubt und verlangt. Deshalb ist es notwendig, die Situation der Urlauber mit ihrer – sicherlich unterschiedlichen – Stimmungslage wahrzunehmen, aber auch, sich von dem Ort und seinen Gegebenheiten inspirieren zu lassen.
Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Gottesdienst im Urlaub – wieder ähnlich wie die Kasualien – immer nur einmalige Gemeinden und exemplarisches kirchliches Handeln kennt. Im Prinzip ist es daher sinnvoller, an geeigneten Urlaubsorten einige wenige „Inseln gelingender Kirchlichkeit“ [49] zu etablieren, als möglichst viele kleine, schlecht ausgestattete und begrenzt günstige Orte zu betreiben. Denn Raum und Ritual, Musik und Wort müssen ein so überzeugendes Niveau haben, dass der urlaubende Gelegenheitskirchgänger, der der Kirche im Urlaub mal wieder „eine Chance einräumt“, überzeugend angesprochen werden kann.
Ähnlich wie in der Diskussion um das Verhältnis von Parochie und Profilgemeinde, sollte eine missionarische Tourismusseelsorge gleichsam die profilierte Angebotskirche in einem besonderen Umfeld darstellen. An Urlaubsorten steht das kirchliche Angebot in Konkurrenz zu den vielfältigen Angeboten der Tourismusunternehmen. Deshalb ist es notwendig, dass Kirche sich auf ihre Stärke und ihr „Kerngeschäft“ besinnt, also auf geistliche Angebote, die den Menschen eine Begegnung mit Gott ermöglichen. Diese Angebote können ein ruhender Pol im Trubel sein oder auch lebendig und fröhlich, meditativ oder kommunikativ. Entscheidend ist, dass sie sorgfältig entworfen und inszeniert werden, wie es an vielen Orten bereits der Fall ist.
Neben diesen vorläufigen Festlegungen sollten folgende Aspekte als Bedingungen kirchlicher Handlungsstrategien an massentouristischen Urlaubsorten bedacht werden:
Gottesdienste und andere Formen der Verkündigung
In den Gottesdiensten an Urlaubsorten kommen Menschen aus sehr unterschiedlichen kirchlichen und nichtkirchlichen Traditionen in der Situation des Urlaubs zusammen. Dem entsprechen klare, elementare Formen, die sich am Ort und den Bedürfnissen der Urlauber orientieren und es den unterschiedlichen Besuchern erleichtern, sich hineinzufinden. Denn eine einladende Gemeinde zeigt sich in Gottesdiensten, „in denen eine verständliche und nachvollziehbare, liebevoll gestaltete und von vielen getragene Liturgie sowie eine elementare, glaubenweckende Verkündigung die gemeinsame Feier prägen“ [50]. Dabei ist zu bemerken, dass nur ein schmaler Grat besteht zwischen einem Gottesdienst „mit Pfiff“ und einem Gottesdienst mit verkürzter Liturgie, denn „eine Kurzform des Sonntagsgottesdienstes mit zarten Orgelklängen ist nämlich nicht das, was die Urlauber lockt. Sie wollen eine Alternative zum agendarischen Sonntagsgottesdienst, geistliche Impulse, aber keine lange Predigt“ [51].
Die Formen der Angebote und Beteiligungen sind auf die singuläre Begegnungssituation auszurichten: Die Situation ermöglicht und erfordert es, zentrale, gewichtige und auch typische Bibeltexte anzubieten und auszulegen, also eher Themenpredigten als Texthomilien und insgesamt eine Konzentration auf das Grundlegende und Elementare des Glaubens, wie es an vielen Orten bereits der Fall ist. In religiöser Perspektive erhofft sich der Mensch im Urlaub eher Mystisches als Mahnendes, eher Einkehr als Ethik, eher Privates als Politisches. Es sollte thematisiert werden, was die Menschen bewegt: Veränderung, Zeit, Verwandlung, Schöpfung, Aufbruch, Wasser, Licht, neue Horizonte, Unendlichkeit etc. In biblischer Perspektive ist dabei zu bedenken, dass die naturnahen Anknüpfungspunkte in der Bibel (Sonne, Lilien, Spatzen usw.) dazu dienen, um bestimmte Erfahrungen zu brechen [52] und nicht Verlängerungen einer auch ohne die Botschaft zu machenden menschlichen Erfahrung sind. In der punktuellen Begegnung mit Urlaubern wird kirchliche Verkündigung nicht das Gesamte des christlichen Glaubens darlegen können. Ziel muss es sein, mit zentralen Texten und Themen, welche die Urlauber in ihrer Situation ansprechen, das Evangelium „unter die Leute zu bringen“. Der andere Rahmen erlaubt es auch Symbole, Musik oder Kunst einzusetzen. Im Eingehen auf die Bedürfnisse der Urlauber zeigt sich im Gottesdienst die Gemeinde als gastfreundliche Gemeinde – wobei Gastfreundschaft nicht mit Bedürfnisbefriedigung verwechselt werden darf. In der Predigt ist eine lebensnahe Sprache wichtig, die ohne theologische Binnenbegriffe auskommt, um so „das Evangelium unter die Leute zu bringen“ [53]. Zu einem gelingenden Gottesdienst gehört eine gute Verkündigung, die auch missionarisch zum Glauben einladen kann.
Ebenso ist es sinnvoll „bewegliche Erinnerungen“ zu stiften, also Dinge mitzugeben wie einen Engel oder eine kleine Broschüre (give aways), die jenes einmalige Erlebnis mit Kirche am Urlaubsort erinnert und verlängern.
Die musikalische Gestaltung der Gottesdienste bedarf ebenfalls der besonderen Aufmerksamkeit. Denn die Musik trägt wesentliches zum Gelingen des Gottesdienstes oder anderer Formen der Verkündigung bei, indem sie Raum gibt für eigene Gedanken, die Möglichkeit der Meditation und der Reflexion eröffnet und die Seele der Menschen anrührt. „Kirchenmusik ist eine Seinsweise des Wortes Gottes.“ [54] Immer mehr wird die Bedeutung der Musik jenseits der Orgel erkannt und genutzt: Taizé-Gesänge, unterschiedliche Instrumente und Ensembles (Klavier und Saxophon, Gitarre und Querflöte usw.), sei es live gespielt oder von CD. Auch hier ist die Situation vor Ort in den Blick zunehmen und zu prüfen, ob es nicht Musikgruppen oder Chöre gibt, mit denen sich die geistlichen Angebote – oder darüber hinaus auch Konzerte – gestalten lassen. Sorgfältig ausgewählte und eingesetzte Musik bewegt die Menschen in ihren Herzen, Köpfen und Seelen, lässt sie einen Gottesdienst mit allen Sinnen erfahren. Aufgrund dieser wichtigen Bedeutung der Musik ist zu prüfen, ob es nicht möglich ist, wie in Deutschland einen Urlauberkantorendienst einzurichten und so Schwerpunkte mit einem guten kirchlichen Angebot zu bilden.
Zu einem Verständnis der Gemeinde am Urlaubsort gehört nicht nur die Gastfreundschaft, die sich in einladenden und niederschwelligen Gottesdiensten ausdrückt, sondern auch, dass die Menschen – Bewohner und Reisende – miteinander teilen, was sie mitbringen. Das kann z.B. dazu führen, dass sich unter den Gästen jemand findet, der die musikalische Gestaltung auf der Orgel übernehmen kann. Denkbar ist auch, dass zusammen mit einem erfahrenen Chorsänger ein Element des Vorlaufs vor dem Gottesdienst gestaltet wird, in dem ein offenes Singen als Vorbereitung auf den Gottesdienst stattfindet. Es wird immer wieder von Pfarrerinnen und Pfarrern an Urlaubsorten berichtet, dass plötzlich ganze Gruppen (nicht nur deutschsprachige, auch englische oder holländische) an Gottesdiensten teilnehmen, die bereit sind, diese musikalisch oder auf andere Art mitzugestalten. So ist auch hier ist ein ökumenischer Horizont im Blick.
Räume der Begegnung
Gottesdienste finden an Urlaubsorten an sehr unterschiedlichen Orten statt: in Kirchen (selten sind es gemeindeeigene), in Kapellen, im Templo Ecoménico, in Gartencafés, Hotels, Privathäusern, in Seniorenresidenzen, Gemeindezentren usw.
Wer eine Kirche betritt, betritt einen besonderen Raum. Kirchen sprechen durch die Architektur, die Kunst, die steingewordene Geschichte und Theologie. Es sind Orte der (spirituellen) Gastfreundschaft und des Glaubens und sie geben der Seele Raum. Sie sind Räume, die an die Vergangenheit erinnern und Zukunft eröffnen. Die Mauern einer Kirche geben Schutz und der Altar stiftet Gemeinschaft. Die Atmosphäre eines Raumes beruht auf dem Zusammenspiel von Ereignissen und „Erfahrungen der vielen Menschen, die diesen Raum belebt und gestaltet haben“ [55] und wirkt auf alle Sinne des Menschen. Es ist ersichtlich, dass Kirchen sehr geprägte, aber damit auch prägende Räume sind. „Der Kirchraum arrangiert uns und bringt uns in eine Rolle: dort sind wir die Beter, die Hörer; wir sind die Singenden und die Nachdenklichen“ [56]. Aus diesem Grund gewinnen Kirchen ihre Faszination, zugleich erhöht es die Schwelle.
Raum und Inhalt bedingen einander. „Der Gottesdienst gestaltet den Raum und umgekehrt der Raum den Gottesdienst. Gottesdienstliches Geschehen ist raumabhängig und raumproduktiv zugleich.“ [57] Es gibt Gottesdienstformen, die in Kapellen die Menschen bewegen, aber sie in Kathedralen kalt lässt. Es ist zu überlegen, ob nicht die Chancen eines Raumes genutzt werden sollten, die andere Formen des Sitzens und damit der Kommunikation und der Gottesbegegnung ermöglichen.
Profane Räume wie Hotels, Cafés oder Gartenlokale bergen als Gottesdienstort einen besonderen Reiz, zugleich müssen sie immer auch durch die Liturgin/den Liturgen und die Gemeinde gestaltet werden. So hat der Gottesdienst in einem Café Stärken und Schwächen. Kirche findet dort statt, wo die Menschen sind und zugleich ist es ein sehr niederschwelliges Angebot: es gibt keine Kleiderordnung, die zu beachten wäre, es ist buchstäblich keine Schwelle zu überwinden. Man kann erst schauen und sich noch später dazusetzen. Die liturgischen Orte wie Altar, Kanzel und Lesepult sind nicht vorhanden oder improvisiert. Auch die Bestuhlung ist frei wählbar, wenn sie nicht durch äußere Umstände eingeschränkt ist. Zugleich läuft der Betrieb des Cafés weiter und stört damit auch den Gottesdienst. Die Erfahrungen mit Gottesdiensten an diesen Orten fallen damit zwiespältig aus.
Darüber hinaus hat es sich erwiesen, dass die missionarische Arbeit auch ganz neue, ungewöhnliche „Räume“ finden kann, und gleichsam ambulant zu arbeiten lernt statt ausschließlich stationär. Pilgerwege, eindrückliche landschaftliche Orte, herausragende Gegenden abseits der typischen Massenwege, Entdeckungen im Hinterland usw. könnten als geistliche Orte entdeckt werden, die auf schöpfungsnahe Weise das eröffnen, was jeden starken Kirchraum auch ausmacht: die zentrierende Kraft eines Raumes, der jenseits reiner Funktionalität in sich ruht.
Die Suche nach geistlich geeigneten Orten für das kirchliche Angebot ist in Spanien zuerst eine ökumenische Aufgabe, denn in der Regel gibt es dort ja viele starke Kirchenräume vor Ort, sie dürfen oft von den evangelischen Gemeinden mitgenutzt werden. Kirchliches Handeln an Urlaubsorten in Südeuropa findet in einem ökumenischen (katholischen bzw. in Griechenland orthodoxen und in der Türkei islamischen) Kontext statt und die Ökumene vor Ort gilt es stets im Blick zu behalten. Aber auch die Auslandsarbeit anderer evangelischer v.a. skandinavischer Kirchen und der anglikanischen Kirche findet mitunter in sehr professionellen Strukturen statt, so dass sich voneinander lernen und miteinander kooperieren lässt. Die partnerschaftlichen Aktivitäten sind sichten, zu pflegen und auszubauen. Hier gilt es, im ökumenischen Gespräch zu bleiben. Neben der ökumenischen Kooperation mit 'guten' vorhandenen Kirchen stellt sich allerdings auch die Frage, ob nicht Investitionen in geistlich starke Kirchräume eine zukunftsweisende Investition in die Urlaubs-Seelsorge wäre. Angesichts der Kirchenschließungen und zunehmenden säkularen Nutzung von Kirchen in Deutschland muss es erlaubt sein, Phantasie zu entwickeln: Ist es nicht wünschenswert oder gar geboten, eine der alten schönen und vom Verfall bedrohten Kirchen im Süden wiederaufzubauen? Die Kirche wäre wieder ein mit Leben gefülltes Haus Gottes und zugleich ein Zeichen evangelischen Lebens im Süden. Das ließe sich medienwirksam mit einer großen Wiederaufbau-Aktion inszenieren: Jeder Urlauber, nimmt einen Stein mit und bekommt dafür ein Zertifikat als Mit-Erbauer dieser Kirche oder eine andere Form der Anerkennung. Oder es wird ein Architektenwettbewerb initiiert mit dem Ziel, eine bewegliche Kirche zu entwerfen, die den Gegebenheiten im Süden Rechnung trägt.
Zeiten der Begegnung
In den Urlaubsorten des Südens kommen täglich neue Gäste an und andere verlassen sie wieder. Es gibt keinen festen An- und Abreisetag wie z.B. der Samstag in Dänemark oder anderen skandinavischen Ländern. Daher ist es auch nicht möglich, auf die Phasen des Urlaubs zu reagieren.
Welcher Tag ist also der angemessene für einen Gottesdienst am Urlaubsort? Der Sonntagvormittag ist ohne Zweifel – trotz abnehmender Kirchlichkeit in der Gesellschaft – mit der Kirche verbunden. Auch wenn das Wissen um Kirche sinkt, der sonntägliche Gottesdienst ist den meisten Menschen ein Begriff. Aus diesem Grund spricht vieles für den Sonntag als bekanntem Termin. An anderen Tagen werden nicht unbedingt Gottesdienste erwartet, wohl aber kirchliche Angebote mit ganz unterschiedlichen Charakteren, insbesondere am Abend. Für Touristen ist im Urlaub jeder Tag ein Sonntag. Deshalb ist es sinnvoll, dass die Tage der Woche Raum bieten für geistliche Angebote auch jenseits des klassischen Gottesdienstes: „Musik, die die Gedanken strukturiert, Bilder, die Visionen ermöglichen, Worte als Erinnerung und Initialzündung zum Meditieren, oder ausgestaltete Segnungen“ [58] sind nur wenige angedeutete Möglichkeiten.
b) Formen der Begleitung
Zur Seelsorge an Urlaubern
Die Seelsorge an Urlaubsorten wird von vielen Menschen in Anspruch genommen. Ein Grund dafür liegt in der Distanz zur Heimat. Wie für Residenten gilt für Urlauber, dass Probleme mitreisen und nicht zu Hause gelassen werden können. Zugleich ermöglicht die Distanz aber auch einen neuen Blick auf das eigene Leben und die Ruhe des Urlaubs gibt die Möglichkeit zum Innehalten und Nachdenken. „Viele Menschen zeigen während ihres Urlaubs besondere Bereitschaft, den Fragen nachzugehen, die sie sonst im Stress des Alltags häufig unterdrücken.“ [59]
Gerade für das Zusammenleben von Paaren oder Familien birgt der Urlaub auch eine Gefahr: das Hotelzimmer, mit der daraus entstehenden räumlichen Nähe, kann zu eng werden. Verknüpft mit dem Urlaub als Fest (s. Kap. I) werden möglicherweise auch neue Rollen eingenommen oder ausprobiert. Probleme resultieren auch aus den bisweilen hohen Erwartungen, die an die „schönste Zeit des Jahres“ gestellt werden und sich oft nicht erfüllen. So birgt der Urlaub immer auch ein großes Enttäuschungspotential.
Neben diesen inneren Gründen für Menschen Urlaubs-Seelsorge in Anspruch zu nehmen bietet der Urlaub auch die äußere Möglichkeit dazu. Der Kontakt zu einem Pfarrer am Urlaubsort ist äußerlich begrenzt, denn er endet spätestens und endgültig mit dem Tag der Abreise. Auch hier zeigt sich – wie bei dem Besuch eines Gottesdienstes – ein sehr kasuelles Verständnis von Kirche. Der Kontakt ist einmalig und durch den Anlass bedingt. Zugleich bietet das Gespräch am Urlaubsort sowohl größtmögliche Anonymität des Urlaubers als auch absolute Unvoreingenommenheit des Pfarrers: „In dem Bewusstsein, weder der Person des Pfarrers noch dem Ort so schnell wieder begegnen zu müssen, werden dann Dinge abgeladen, die oft noch niemandem anvertraut wurden.“ [60]
Ist der Urlaub ein Passageritus, enthält er einen Wunsch nach Verwandlung und steht damit den Kasualien nahe, dann ist Identitäts(re)konstruktion wichtig. Das Alte wird betrachtet und das Neue bedacht und in den Blick genommen. In der Situation der Schwelle ist die eigene Identität als „bestätigte Gewissheit, der zu sein für den ich mich halte“ [61], unsicher geworden und bedarf einer Vergewisserung oder gar einer Neukonstruktion. Hier ist festzustellen, wie sehr Seelsorge und kasuelles Handeln miteinander verflochten sind.
Formen der Hilfe
Die Notlagen, in die Urlauber geraten können, sind äußerst unterschiedlich und damit auch die Formen der Hilfe. Manche Hilfe ist eher praktischer Art (z.B. bei Verlust des Passes, Krankheit oder Tod eines Angehörigen), so dass es wichtig ist, die Ansprechpartner in Konsulaten und Ämtern zu kennen. Oft genügt schon, Kontakte zu vermitteln oder gemeinsam Behörden aufzusuchen. Auf diese Weise erfahren die Menschen, dass sie in der Gemeinde Beistand finden.
Sinnvoll ist daher, in der Ortsgemeinde ein soziales Netz zu organisieren, das von verschiedenen Seiten geknüpft wird: Kirchengemeinde, Pflegeeinrichtungen, Anwälte usw.. Pfarrerinnen und Pfarrer an Urlaubsorten laufen manchmal Gefahr, von ihren diakonischen Aufgaben aufgezehrt zu werden. In diesem Netz, das auch in ökumenischer Trägerschaft stehen kann, sollten sich unterschiedliche Kenntnisse und Fähigkeiten zusammenfügen und ergänzen: fließende Beherrschung der Landessprache, Kenntnis der Bürokratie und der Amtswege, aber auch der erwähnte persönliche Kontakt zu den Amtsträgern des Gastlandes. Diese Kriseninterventionsmöglichkeiten vorzuhalten, ist auch in Zukunft notwendig für die Gemeinden an Urlaubsorten.
2. Inhalte der Begegnung
Nach den Formen der Begegnung ist nun nach den Inhalten der Begegnung zu fragen. Betrachtet man die skizzierten Tourismustheorien, die Situation der Urlauber, aber auch die Handlungsmöglichkeiten und Kernkompetenzen der Kirche, so kristallisieren sich mindestens drei wesentlichen Kernthemen „Wandlung“, „Segen“ und „Beziehung“ heraus, die sich gegenseitig berühren.
a) Wandlungen gestalten
Wie in den Tourismus-Theorien geschildert, kann der Urlaub den Menschen verwandeln. Diese Verwandlung wird nur in wenigen Fällen grundlegend sein, aber trotzdem bleiben die Erlebnisse des Urlaubs nicht folgenlos. Deshalb ist es wichtig, dass Kirche an Urlaubsorten auf dieses Thema eingeht und Riten entwickelt und versucht, diese Wandlungen zu gestalten. Hinzu kommt, dass dieser Wunsch nach Verwandlung im Urlaub oft in Spannung steht zu der Erfahrung und Erkenntnis, dass vieles von dem mitreist, was im Alltag belastet, also der neue Mensch des Urlaubs immer auch der alte Mensch des Alltags bleibt.
Die Motive, Erneuerung, Wandlung, ein anderer Mensch zu werden, sind biblisch. In der Taufe stirbt der alte Mensch und wird neu geschaffen (Röm 6). Für Paulus ist der Mensch eine neue Kreatur, der in Christus ist (2. Kor 5, auch Gal 6,15). Der Epheser-Brief spricht vom Anziehen des neuen Menschen (4,24). Diese Nähe der Bedürfnisse und Erfahrungen der Urlauber zu christlichen Grundthemen ist eine große Chance für kirchliches missionarisches Handeln an Urlaubsorten. Deshalb bieten sich Themen wie Schöpfung und Neuschöpfung ebenso an, wie die Symbole und Metaphern Wasser, Feuer, Saatkorn, Schmetterling usw. Aber auch literarische Gattungen nehmen in ihren Texten über das Pilgern, Wandern und Reisen das Thema Wandlung auf.
b) Segen gestalten
Gottesdienste am Urlaubsort haben – wie gesehen – kasuellen Charakter, auch das ist ein Grund dafür über Segensformen nachzudenken [62], „denn in allen Kasualien ist der Segen Kern und Mitte der Handlung“ [63].
Im Segen wendet sich Gott seiner Schöpfung freundlich zu. Gott begleitet und bewahrt in ihm das Leben und eröffnet eine Perspektive für die Zukunft. Denn das Ziel des Segens lässt sich als „Leben im Shalom“ [64] beschreiben und bezeichnet nicht einfach Glück, sondern er „vereint in sich alles Gute, alle guten Wirkkräfte [65]. Dabei lassen sich vier Wirkkräfte unterscheiden: die stärkende, die schützende, die heilende und die gemeinschaftsstiftende [66]. Je nach Situation mag die eine oder andere Wirkweise des Segens im Vordergrund stehen, es wirken aber immer alle vier gemeinsam. In der Situation des Urlaubs und des Reisens ist zunächst der Schutzaspekt wichtig, wie die vielen irischen Reisesegen zeigen („...möge Gott seine schützende Hand über dir halten“). Aber er hat auch eine stärkende Wirkung im Hinblick auf die Zeit, die auf den Urlaub folgt und die durch den Arbeitsalltag geprägt wird. Auch der heilende Aspekt kommt vor, denn der Urlaub dient vielen Menschen zum „Auftanken“, „Kraftschöpfen“, „Durchatmen“ und damit dem „heil werden“, nicht nur in körperlicher Hinsicht. Schließlich stiftet Segen im Urlaub Gemeinschaft, mit Gott und mit anderen Menschen (s.u.). Denn der Segen ist ein Geschehen, das die Herzen und Seelen der Menschen öffnet. Gottes Nähe wird durch den Segen in performativer, wirklichkeitsverändernder Weise zugesagt und erfahrbar. Der Segen trifft den Menschen in all seinen Dimensionen (auch Seele, Leib und Geist gehören dazu) und in all seinen Bezügen (Identität, Sozialität und Religiosität). Im Segen fallen Seelsorge und Leibsorge in eins. Der Segen ruft so die Totalität der Existenz eines Menschen in Gottes Gegenwart. Deshalb ist der Segen eine, wenn nicht gar die bestimmende Dimension der Gottesdienstgestaltung in Segnungsgottesdiensten, Abendssegen usw. in der Situation des Urlaus.
c) Staunen lernen
Mittelpunkt des evangelischen Gottesdienstes ist die Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes in Jesus Christus. Dass dies gelingt, liegt nicht menschlicher Hand. Aber durch das Schaffen der Voraussetzungen können alle Beteiligten dazu beitragen, dass die Liebe Gottes zu uns Menschen spürbar wird. Gottesdienste im Urlaub laden in besonderer Weise dazu ein, das Geheimnis Gottes erspürbar zu machen und es ist eine Aufgabe für Kirche am Urlaubsort die Sinne und die Sensibilität zu schulen und das Staunen neu lernen und zu lehren.
Das Staunen über Gottes Gegenwart führt zum Staunen über seinen Nächsten. Das Entdecken und Wiederentdecken des Nächsten ist im Urlaub von besonderer Bedeutung. Bemerkenswert ist, in welchem bedeutenden Maß das Thema „Beziehung“ den Urlaub prägt. Ob von Familien oder Alleinreisenden, gesucht werden Geselligkeit und Gemeinschaft, Kommunikation und Kontakt. Familien, die gemeinsam verreisen, wollen intensiv Zeit miteinander verbringen. Urlaub ist „Zeit für Gefühle“ [67], Sinnlichkeit, Sehnsucht, Versöhnung, Liebe und Erotik. So bietet grundsätzlich der Urlaub eine Gelegenheit, in der sich Menschen „berühren“ lassen, in mehrfacher Hinsicht des Wortes. Kirche stiftet Beziehung und Gemeinschaft, zum einen mit Gott und zum anderen untereinander als feiernde Gemeinde. Kirchliches Handeln zielt wie der Segen auf versöhnte Beziehungen mit Gott, mit anderen Menschen und mit sich selbst. Biblische Grundlage dafür ist das Doppelgebot der Liebe (Mt 19,19).