Zum Umgang mit Menschen ohne Aufenthaltspapiere
3. Menschen ohne Aufenthaltspapiere haben ein Gesicht
3.1. Wer lebt in Deutschland ohne Aufenthaltspapiere?
Von dieser Situation betroffen sind beispielsweise
- Wanderarbeiter, die meist unter ungünstigen Arbeitsbedingungen arbeiten (z.B. im Bau- und Reinigungsgewerbe, in der Verpackungsindustrie und Landwirtschaft), die von einheimischen Arbeitskräften nicht akzeptiert werden. Viele pendeln und haben ihren Lebensmittelpunkt und ihre Familie im Heimatland.
- Menschen in privaten Arbeitsverhältnissen, in der Kranken-, Kinder- und Altenversorgung, private Haushalts- oder Putzhilfen.
- Opfer von Menschenhandel, vor allem jüngere Frauen (aber auch Männer und Kinder), die für einen anderen Beruf angeworben wurden und dann zur Prostitution gezwungen werden.
- Familienangehörige von Menschen mit legalem Aufenthaltsstatus, die z. B. das Visum zur Familienzusammenführung nicht erhalten haben.
- Menschen, deren Ehen mit deutschen oder legal hier lebenden Partnern geschieden worden sind, bevor ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erworben wurde.
- Menschen, die aus Furcht vor Verfolgung nach Deutschland geflohen sind und hier keinen Schutz erhalten haben.
- Menschen, die aus Scheu vor den komplizierten Rechts- und Verwaltungsverfahren untertauchen, ohne die Rechte, die ihnen zustünden, in Anspruch zu nehmen.
Wie geraten Menschen in die „Illegalität”?
Menschen, die in Deutschland einen Asylantrag stellen, werden zunächst vor allem nach ihrem Reiseweg befragt. Die individuelle Verfolgungssituation spielt dagegen kaum eine Rolle. So fallen viele als „unglaubwürdig” durch die Verfahren. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der zufluchtsuchenden Menschen haben traumatisierende Erlebnisse hinter sich. An diese können sie sich oftmals nicht widerspruchsfrei bis in alle Einzelheiten der Verfolgungsgeschichte erinnern. Dazu bedürfte es therapeutischer Hilfe. Bereits daran scheitern viele Asylgesuche. Viele wählen dann eher den Weg in die „Illegalität”, als mit einer unsicheren Duldung jederzeit von Abschiebung bedroht zu sein.
Asylbewerber werden in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Da dies auf Dauer sehr belastend ist, nicht nur für Familien mit Kindern, entfliehen manche.
Viele Flüchtlinge, die nicht abgeschoben werden können, werden über lange Zeiten nur geduldet oder erhalten Grenzübertrittsbescheinigungen. Eines Tages ergeht an sie die Aufforderung, Deutschland zu verlassen. Viele haben keine Möglichkeiten, einen Anwalt einzubeziehen. Ihnen ist nicht klar, dass sie dagegen rechtliche Schritte einleiten könnten. Aus Angst tauchen manche ab.
Bei Kindern und Jugendlichen, die als unbegleitete Flüchtlinge kommen, setzen manche Ausländerbehörden das Alter fiktiv fest. So werden unter 16-Jährige auf 16 oder 18 Jahre gesetzt: ohne Vormund, ohne jugendrechtliche Maßnahmen und Schutz und müssen sie ihr Asylverfahren selbst betreiben. Sie werden in Erwachsenenunterkünften untergebracht. Auch sie sind gefährdet, anstelle von Schulbesuch und Ausbildung unterzutauchen.
„Illegal” - drei Schicksale
M., eine Witwe aus Ecuador, hatte drei Kindern zu versorgen. Die Schulausbildung und das tägliche Leben kosteten Geld, das sie im Heimatland nicht verdienen konnte. Mit Hilfe eines Touristenvisums gelangte sie nach Deutschland. Die Familie, bei der sie Arbeit fand, war großzügig und nett. Sie pflegte die Großeltern, führte den Haushalt und betreute nachmittags die deutschen Kinder. Ihre eigenen Kinder waren bei ihren Eltern im Heimatland geblieben. Da sie kein gültiges Visum mehr besaß, wurde sie am Flughafen festgenommen bei dem Versuch, zu ihren Kindern zurückzukehren. Das Flugticket und ihr Geld wurden eingezogen.
Eine Frauenorganisation half weiter.
L., eine junge Frau aus der Ukraine, hatte gehofft, einen begehrten Platz als Au-pair-Mädchen zu erhalten. Sie vertraute der Organisation, die ihr ein Visum versprach, und überließ ihr den Pass. Am Ziel angekommen, hatte sie weder einen Pass noch passende Kleidung, dafür hohe Schulden. Sie wurde in ein geschlossenes Bordell gebracht, das sie nicht verlassen durfte. Als sie sich befreien konnte, war sie schwanger, HIV-infiziert und ohne Papiere. Sie hatte Angst und wollte nicht als Zeugin aussagen, was sie in ein Zeugenschutzprogramm gebracht hätte. So wurde sie zunächst in Abschiebungshaft genommen. Daraus entlassen, tauchte sie wieder ab. Zu groß war die Scham, zurückzukehren ohne Geld, ohne Ansehen. Zudem befürchtete sie, dass ihre Eltern Schwierigkeiten mit der Organisation bekommen könnten.
Eine Kirchengemeinde nahm sie auf. Nach Monaten der Ruhe und Beratung, der Seelsorge und Betreuung, fand sich eine Möglichkeit, begleitet ins Herkunftsland zurückzukehren.
H., ein verängstigter Mann mittleren Alters aus der Türkei, wurde in einer kirchlichen Gästewohnung untergebracht. Er lebte bereits drei Jahre illegal in der Stadt, schlug sich mit Hilfe von Freunden und kleineren Jobs durch. Er war in einer schlechten psychischen Verfassung. Er redete wirr in verschiedenen Sprachen. Sein körperlicher Zustand war durch lange Obdachlosigkeit gekennzeichnet. Ein Arzt half zunächst weiter. Erst nach ein paar Wochen der Ruhe wurde der Hintergrund seiner Erkrankung klarer. Er war im Heimatland gefoltert worden, der Asylantrag in Deutschland war abgelehnt worden. Seinen Anwalt hatte er nicht bezahlen können. Er war in Panik untergetaucht, ohne noch vorhandene rechtliche Möglichkeiten auszuschöpfen.
Ein Dolmetscher und ein Psychiater ließen sich ansprechen. Das psychiatrische Gutachten rechtfertigte einen Asylfolgeantrag. Nur mit Hilfe geduldiger Menschen fand der Mann zurück in ein Leben jenseits der Angst
3.2. Wie leben Menschen ohne Aufenthaltspapiere?
Menschen ohne Aufenthaltsrecht leben zu ihrem eigenen Schutz möglichst unauffällig und unerkannt unter uns. Nur selten vertrauen sie sich jemandem außerhalb ihres persönlichen Umfelds an. Unterstützung suchen und finden sie innerhalb ihrer ethnischen und religiösen Netzwerke. Manchmal können sie für begrenzte Zeit bei Verwandten oder Bekannten unterkommen. Durch häufiges Wechseln ihres Aufenthaltsortes hoffen sie, ihren Gastgebern nicht übermäßig zur Last zu fallen und möglichst lange unentdeckt zu bleiben. Von der Gesellschaft wird die Anwesenheit dieser Menschen im Allgemeinen kaum wahrgenommen. In den Medien und der politischen Öffentlichkeit werden die sogenannten „Illegalen“ - häufig zu Unrecht - im Kontext von Kriminalität oder aber unter der Perspektive der Bekämpfung von illegaler Zuwanderung, Asylmissbrauch, Schwarzarbeit und Prostitution genannt.
Auch Menschen ohne Aufenthaltspapiere stehen unter dem Schutz des Grundgesetzes. Im Prinzip steht ihnen der Rechtsweg offen. Ebenso haben sie Anspruch auf grundlegende soziale Rechte. Tatsächlich aber können sie diese Rechte nicht geltend machen, ohne gleichzeitig eine Festnahme und die Abschiebung zu riskieren. Durch den faktischen Ausschluss von grundlegenden sozialen Rechten können Menschen ohne Aufenthaltspapiere nur sehr eingeschränkt am deutschen Sozial- und Bildungssystem teilhaben.
- So leben Menschen ohne Aufenthaltspapiere, in ständiger Angst vor Entdeckung, unter oft menschenunwürdigen Bedingungen und sind potentielle Opfer von Ausbeutung und Betrug. Da sie bei Behörden nicht gemeldet sind, können sie keine regulären Miet- oder Arbeitsverträge schließen und genießen nur eingeschränkten Rechts- und Versicherungsschutz. Angewiesen auf das Entgegenkommen von Arbeitgebern und Vermietern, sind sie oftmals auch deren Willkür ausgesetzt und verdingen sich häufig zu ausbeuterischen Konditionen.
- Menschen ohne Aufenthaltspapiere haben in der Regel keine Krankenversicherung und somit keinen regulären Zugang zum Gesundheitssystem. Hilfe wird vorrangig in den privaten Netzwerken gesucht. Schwere Erkrankungen oder größere Verletzungen bergen die Gefahr der Entdeckung und des Zusammenbruchs des fragilen Überlebenskonstrukts. Darum werden sie vielfach verharmlost und unzureichend behandelt. Mangels adäquater Gesundheits-versorgung aber drohen Spätfolgen, Chronifizierung, Unheilbarkeit und erhöhte Ansteckungsgefahr bei Infektionskrankheiten.
- Schwangerschaft und Geburt stellen die Frauen oft vor unlösbare Probleme. Beispielsweise erhalten Kinder, die in der Situation einer aufenthaltsrechtlichen Illegalität ihrer Eltern geboren werden, keine Geburtsurkunde. In der Konsequenz kann das zur Trennung von Mutter und Kind führen, weil eine Mutter im Zweifelsfall nicht den Nachweis erbringen kann, dass es sich tatsächlich um ihr leibliches Kind handelt. Weil den Kindern der Zugang zum Gesundheitssystem versperrt ist und somit Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen unterbleiben, kann es zu frühkindlichen Schädigungen, Fehlentwicklungen und schweren Erkrankungen kommen.
- Eltern, die ihr Aufenthaltsrecht verlieren, veranlassen vielfach, dass ihre Kinder aus Angst vor Entdeckung die Schule nicht mehr zu besuchen oder dass sie zumindest gegenüber ihren Mitschülerinnen und Lehrern ihren irregulären Aufenthaltsstatus verheimlichen. Solche Legenden der Eltern aber können in der kindlichen Entwicklung schwere Störungen des Identitätsbildungsprozesses verursachen. Auch wenn Kinder und Jugendliche bewusst den Verlust ihres Aufenthaltsrechts erleben, bedeutet dies in der Regel einen massiven und je nach Alter und Konstitution ihre Entwicklung schwer belastenden Einschnitt.
- Auch diese Kinder und Jugendlichen haben ein Recht auf Schulbesuch. Tatsächlich wird ihre Teilhabe am Schul- und Ausbildungssystem aber verhindert bzw. sehr stark eingeschränkt. Ein besonderes Problem stellt dabei eine Übermittlungspflicht von Schulleitungen an die Ausländerbehörden dar, sobald ihnen bekannt geworden ist, dass Kinder und deren Eltern kein Aufenthaltsrecht haben. Auch wenn die Erlasslage in den einzelnen Bundesländern an diesem Punkt differiert und eine allgemeine Rechtsauffassung dahin tendiert, dass in Kindergärten und Schulen der Aufenthaltsstatus der Kinder nicht erfragt werden müsse und keine Übermittlungspflicht bestehe, so stellt sich das Problem bei der Ersteinschulung in verschärfter Weise durch die Erhebung von Daten wie amtliches Gesundheits- und Schulreifezeugnis, Meldeadresse, Kranken- und Unfallversicherungsträger. Eltern ohne Aufenthaltspapiere melden ihre Kinder deshalb in Kindergärten und Grundschulen nur selten an. Und selbst wenn es den Kindern gelingen sollte, die Schule oder auch nur ein Schuljahr erfolgreich zu absolvieren, erhalten sie in der Regel kein Abschlusszeugnis bzw. keinen offiziellen Bildungsnachweis. Eine berufliche Ausbildung ist für sie nahezu unmöglich.