Das Evangelium unter die Leute bringen
II. Die gegenwärtige missionarische Situation
(1) Das Evangelium unter die Leute bringen – das kann je nach Zeit und Ort sehr Unterschiedliches bedeuten. In unserem Land sind die Leute in aller Regel auf das Evangelium nicht so gespannt wie auf eine gute Nachricht, die sie unbedingt kennen müssen. Sie meinen längst zu wissen, um was es dabei geht. Deshalb muss man sehr genau auf die Situation achten, in der der missionarische Dienst bei uns geschieht, und darauf, wie diese Situation entstanden ist.
II.1 Das Evangelium in unserer Kultur
(2) Es ist noch gar nicht lange her, da waren sich viele Zeitdiagnostiker darin einig, dass die Bedeutung von Religion und Kirche im Prozess der Modernisierung schwinden werde. In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Gedanke vom Ende des religiösen Zeitalters zum Allgemeingut. Inzwischen hat man erkannt, dass der Prozess der Modernisierung keineswegs automatisch mit dem Verlust der Religiosität einhergeht. Das kann man sowohl in Amerika als auch in den südostasiatischen Staaten beobachten. Dort geht ein rasanter Modernisierungsschub vonstatten, aber die überlieferte Religion wird dadurch keineswegs verdrängt.
(3) Auch hierzulande kann man angesichts der Hochkonjunktur von außerkirchlicher Religiosität wie New Age, Zenbuddhismus, Astrologie und manchen Psycho-Techniken die These hören, es gäbe einen Religions-Boom. Der Dalai Lama erfreut sich höchsten Ansehens. Immer wieder entstehen neue religiöse und quasi-religiöse Bewegungen.
(4) Man muss aber genauer hinsehen. Die Zahlen sprechen nämlich zunächst eine andere Sprache. Denn in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die neuen religiösen Bewegungen einen besonderen Aufschwung nahmen, verloren die großen Kirchen in Westdeutschland durch Kirchenaustritte etwa zwei Millionen Mitglieder. Die Zahl der Mitglieder in neuen religiösen Bewegungen dagegen belief sich bei großzügiger Schätzung am Ende dieses Zeitraums auf nicht mehr als 30.000, das sind nicht einmal 2 % derer, die den Kirchen verloren gingen. Die neue Religiosität ist also frei schwebend. Sie entwickelt keine gemeinschaftlichen Bindekräfte. Aber sie dringt in die Köpfe und Seelen der Menschen ein. Geraten diese in eine persönliche Krise, wird die Bereitschaft groß, sich einer Sekte oder Weltanschauungsgruppe anzuschließen.
(5) In Ostdeutschland ist die Situation dadurch bestimmt, dass die Kirchen durch die kommunistische, atheistische Staatsdoktrin seit den 50er Jahren systematisch minorisiert und marginalisiert wurden. Heute gehört nur noch ein Viertel der Bevölkerung einer christlichen Kirche an. Ihr Altersaufbau ist so, dass sich die Zahl der Mitglieder in kurzer Zeit erheblich verringern wird. Ein Großteil der Bevölkerung lebt schon in der zweiten oder gar dritten Generation ohne Kirchenzugehörigkeit, ja meist mit einem anerzogenen Vorurteil gegen Religion und Kirche, vor allem aber ohne das Gefühl, dass ihnen etwas fehle, weil sie nicht Mitglieder einer Religionsgemeinschaft sind. Gleichzeitig gibt es einen beachtlichen Zustrom zu den Schulen in kirchlicher Trägerschaft.
(6) Man darf sich über unsere kulturelle Wirklichkeit nicht täuschen, wenn wir sie oft als säkularisiert oder religionslos ansehen. So viel ist daran gewiss richtig: Die Kirche und die religiöse Praxis sind gegenüber früheren Zeiten im gesellschaftlichen wie im privaten Leben in den Hintergrund getreten. Die Rolle, die früher Kirche und Religion gespielt haben, ist durch eine Vielzahl anderer Träger besetzt. Für viele Menschen kommt Religion nur noch in Grenzsituationen und an den Knotenpunkten des Lebens in den Blick. Andere sind überzeugt, dass Religion in ihrem Leben überhaupt keine Rolle spielt. Religion wird kritisiert als Ablenkung von irdischen Gegebenheiten und Aufgaben, die Kirche gilt vielen als erstarrte bürokratische Organisation.
(7) Die Entwicklung der Neuzeit ist freilich keineswegs nur als religiöse Verlustgeschichte zu betrachten. Es handelt sich vielmehr um eine komplexe geschichtliche Entwicklung, an der der christliche Glaube direkt und indirekt beteiligt war. In ihr gewann manches genuin Christliche neue Gestalt. Manches ursprünglich Christliche setzte sich durch und löste sich dabei von seiner Fundierung im christlichen Glauben, wie z. B. das Freiheitsideal. Manches verlor sich im Laufe der Zeit ganz zu Recht, während anderes sehr zum Schaden verloren ging, das jetzt mit Mühe wieder aufgespürt werden muss. Erhalten blieb in dieser Transformationsgeschichte aber immer das Wort der Bibel, das in Verheißung und Kritik die Beteiligung der Christinnen und Christen an den geschichtlichen Veränderungen begleitet, möglich gemacht und auch korrigiert hat.
(8) Ohne die Wirkungsgeschichte des Evangeliums hätten die freiheitliche Staatsform, die Rechtsordnung, die Menschenrechte, die sozialen Sicherungssysteme und das Bildungswesen sich nicht in der Form entwickeln können, die für Europa charakteristisch ist. Das wird leicht vergessen und muss wieder deutlich gemacht werden. Die Geschichte des Christentums ist allerdings auch durch schlimme Verirrungen gekennzeichnet, an denen die Kritik berechtigt ansetzt. Doch kann man nicht aus der Geschichte aussteigen. Auch Brüche und Scheidungen können die Spuren der Geschichte nicht auslöschen. Vor allem gilt: Es war das Evangelium selbst, das immer wieder für die nötigen Korrekturen und Aufbrüche in der Christentumsgeschichte gesorgt hat.
(9) Das Evangelium hat sich in unserer Kultur während zwei Jahrtausenden fest verwurzelt. Es hat diese Kultur geprägt, die Sprache, die Bilderwelt, die Kunst, die Wertvorstellungen, die Festzeiten im Jahreslauf. Deshalb lässt sich unsere Situation nicht vergleichen mit der, in welcher die Urgemeinde Jesus Christus gegenüber Juden und Heiden zur Sprache brachte. Sie lässt sich auch nicht vergleichen mit der Situation, in der Missionare Angehörige anderer Religionen in aller Welt die Botschaft von Jesus Christus nahe brachten. Sie unterscheidet sich ebenfalls von der Lage, in der gegenwärtig in vielen Teilen der Welt die Kirchen wachsen. Das Evangelium von Jesus Christus ist uns vertraut und fremd zugleich. Manchmal ist es uns so vertraut, dass es sich in seinem Eigen-Sinn gar nicht mehr durchzusetzen vermag. Menschen meinen längst zu wissen, was es sagt, und wenden sich ab, weil sie nichts Neues davon erwarten, oder sie wissen nichts davon und meinen, dabei auch nichts zu verpassen. So kommt Entfremdung in Gang. Geschieht das im großen Stil, ergibt sich eine kulturelle Selbstvergessenheit und die eigenen Wurzeln erscheinen fremd.
(10) Das Evangelium kann nie so in einer Kultur zu Hause sein, dass es nicht unablässig als Herausforderung auf sie einwirken würde. Weder die Kultur noch die Gesellschaft noch die Kirche noch die oder der Einzelne kann jemals so mit Jesus Christus eins werden, dass dessen Stimme nicht von außen an sie dringen und sie herausrufen würde: Folge mir nach! Die Frage ist jedoch: Wie kann dieser Ruf vernehmbar an sie dringen? Es geht darum, die Denkvoraussetzungen und Lebenserfahrungen der Menschen ernst zu nehmen, ohne das Evangelium in ihnen aufgehen zu lassen. Luther sagt im Großen Katechismus zur Auslegung des ersten Gebots: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“ Woran hängen die ihr Herz, die von Gott und Jesus Christus gar nichts wissen und auch nichts wissen wollen? Und wie ist ihr Herz für das Evangelium zu öffnen? Zwei Perspektiven müssen zunächst näher ins Auge gefasst werden: der Wille zur Mündigkeit und die Suche nach Orientierung für das Leben.
II.2 Die Autorität Gottes und der mündige Mensch
(11) Seit dem Zeitalter der Aufklärung ist in der westlichen Zivilisation ein tiefgreifender Prozess der Emanzipation in Gang gekommen. Schon vor der Aufklärung hatte er sich vor allem in den Naturwissenschaften angebahnt. Die moderne Wissenschaft lebt vom kritischen Fragen und von der Anzweifelung überlieferter Meinungen und Überzeugungen; als wahr gilt ihr nur, was sich beweisen lässt.
(12) Inzwischen hat sich die Emanzipation in ganzer Breite entfaltet: Der kirchliche Einfluss wurde zurückgedrängt, der kirchliche Besitz weithin verstaatlicht. Dieser Prozess wird als Säkularisation bezeichnet. Jede und jeder hat Kenntnis von Religions- und Christentumskritik, kritisches Denken und Zweifeln scheinen zur geistigen Grundhaltung geworden zu sein. Die Demokratisierung schließt als eines ihrer wesentlichen Bildungsziele das kritische Vergleichen und Abwägen als Voraussetzung des Wählens ein. Nicht zuletzt die vielfältigen Konsummöglichkeiten zwingen unablässig, wählen und entscheiden zu müssen. So ist die Freiheit der Wahl und Entscheidung paradoxer Weise selbst zwanghaft geworden. Der mündige, emanzipierte Mensch beweist sich seine Freiheit, indem er keine Autorität akzeptiert, auch nicht die Autorität Gottes. Gleichwohl wird er seiner Freiheit auch nicht richtig froh. Er fühlt sich unbehaust, sucht Halt und sehnt sich oft geradezu verzweifelt nach festen Orientierungen. Darin besteht seine Anfälligkeit für Fundamentalismen.
(13) Das Evangelium dagegen bietet Freiheit und Halt zugleich. Denn es lässt uns die Autorität Gottes in einem Menschen erkennen, dem Menschliches nicht fremd war, auch nicht Ungerechtigkeit, Leiden und Sterben, der aber den Blick öffnet für einen Lebensraum, in dem Gerechtigkeit, Frieden, Liebe und Barmherzigkeit herrschen. Diesen Lebensraum bringt er uns durch seine Geschichten und in seinem persönlichen Geschick ganz nahe. Es ist der Lebensraum einer Freiheit, die sich der Zuwendung Gottes zu seiner Welt verdankt. Hier findet die Mündigkeit der Menschen einen Grund außerhalb ihrer selbst und damit einen Grund, der trägt.
II.3 Der Glaube an den dreieinigen Gott und die Religionen
(14) Die Situation in Deutschland ist äußerst vielschichtig. Auf der einen Seite gehören in Westdeutschland nach wie vor vier Fünftel der Menschen einer christlichen Religionsgemeinschaft an. Aber die Mehrheit nimmt nur punktuell am kirchlichen Leben teil. Die Kirche war schon immer eine Körperschaft mit lebendigen, regsamen Gliedern und anderen, weniger engagierten. Sie hat diesen aber nicht die Mitgliedschaft verwehrt, weil sie über deren innere Einstellung nicht richten wollte.
(15) Heute gibt es in unserem Land die uneingeschränkte Identifikation mit einer Lehre oder Institution nur noch selten. Das gilt auch in Bezug auf die Kirche und den christlichen Glauben. Eine gewisse Reserviertheit ist zum Normalfall geworden, zugleich gibt es Sehnsucht nach Beheimatung und Geborgenheit. Darum wird nach Sinn und Halt in nichtchristlichen Hochreligionen wie dem Islam, dem Hinduismus und Buddhismus oder in neureligiösen Bewegungen und Sekten gesucht. Darüber hinaus gibt es einen Glauben an die Vernunft oder den Fortschritt von geradezu religiöser Intensität, und es gibt politische Heilslehren, die ein Leben erfüllen können wie der religiöse Glaube. Nicht zu vergessen sind die Religionen im Kleinformat, die sich gar nicht als Religion zu erkennen geben, „verkappte Religionen“. Gemessen an Luthers Satz: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“ können auch Alltagsbedürfnisse wie Erfolg, Schönheit, Gesundheit oder Konsum zur Ersatzreligion werden. In diesem Gemenge von Religion und Religionsersatz vermischen sich die einzelnen Strömungen, relativieren sich gegenseitig und fördern die Neigung zur Reserviertheit gegenüber allen Wahrheitsansprüchen.
(16) Mit diesen Religionen und Ersatzreligionen steht der Glaube an den dreieinigen Gott in Konkurrenz. Religion ist nämlich ihrem Wesen nach auf die Erkenntnis von Wahrheit gerichtet. Es scheint so, als gäbe es heute viel Suche nach Sinn oder Halt, die aber der Frage nach der Wahrheit ausweicht. Der Verzicht auf die ernsthafte Wahrheitsfrage lässt jedoch das Leben verfehlen. Ohne die Suche nach Wahrheit, nach seinem wahren Grund, fehlt menschlichem Leben Entscheidendes. Darum ist es wichtig, zur Wahrheit zu finden und in der Wahrheit zu leben. Es ist nicht nur wichtig, es ist auch möglich. Dafür steht die große Verheißung: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,31 f.).
II.4 Das Evangelium und die Sehnsüchte unserer Zeit
(17) Man muss die Fragen genau kennen, die die Menschen heute umtreiben, und die Sprachen verstehen lernen, in denen sich ihre Sehnsüchte artikulieren, wenn man das Evangelium weitersagen will. Die Sehnsüchte der Menschen entsprechen den Problemen, die sie in ihrer Zeit als besonders bedrückend empfinden. Durch sie wird der Glaube zu zentralen Aussagen herausgefordert.
II.4.1 Eröffnung von Zukunft
(18) Perspektivlosigkeit ist ein Lebensgefühl, das dem christlichen Glauben entgegensteht. Der Mangel an Perspektiven ist ein Mangel an Hoffnung. Die Antwort des Glaubens darauf ist die Botschaft von der Vergebung der Sünden. Denn Vergebung eröffnet Perspektiven, eröffnet Zukunft. Natürlich kann Vergangenheit durch Vergebung nicht rückgängig gemacht werden. Aber das Wunder der Vergebung bewirkt, dass eine schuldhafte Vergangenheit Gegenwart und Zukunft nicht belasten muss.
(19) Zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart und Zukunft steht das Kreuz Jesu Christi. Vergebung der Sünden heißt: Verwandlung der Vergangenheit und damit Freilegung von Zukunft. Die Blockierungen werden aufgehoben, die Hypotheken abgetragen, das schlecht Festgelegte wird gut gemacht und erneuert – und damit alle Wirkungen, welche die Gegenwart vergiften und die Zukunft verdüstern. Zukunft ist möglich trotz der Lasten der Vergangenheit.
II.4.2 Ein ruhiges Herz
(20) Besondere Kennzeichen unserer Zeit sind Unrast, Hetze und Stress. In allen Lebensbereichen sind unablässig immer neue Investitionen angesagt. Diese Schnelllebigkeit ist dem Erleben feind; die Veralterungsgeschwindigkeit gestattet keine Reife und kein Erproben. Aus Angst, Wichtiges eventuell versäumen zu müssen, nimmt der Erlebnishunger zu. Auch evangelistische Bemühungen sind oft nicht frei von dieser hektischen Ungeduld.
(21) Zur Ruhe kommen und zu sich selbst kommen ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Ihm steht freilich der Charakter unserer Zeit entgegen. Darum ist die Sehnsucht nach einer Aus-Zeit so groß; darum richten sich geradezu religiöse Erwartungen an den Urlaub, an Reisen und an Kuren. Dabei kann man zwar ruhiger werden, aber nicht wirklich zur Ruhe kommen und zu sich selber finden.
(22) „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, Herr“, sagt Augustinus am Anfang seiner Bekenntnisse. „Wer bin ich?“, fragt Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis in Tegel, „Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, wie ein Vogel im Käfig, hungernd nach Farben und Blumen, dürstend nach guten Worten und menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und Kränkung, umgetrieben vom Warten, ohnmächtig, matt und leer. Wer bin ich? Der oder jener? Heute dieser und morgen ein anderer oder beides zugleich?“ Bonhoeffer schließt: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!“
(23) Bonhoeffer wendet sich auf der Suche nach sich selbst im Gebet an Gott. Er kommt damit zum selben Schluss wie Augustin in seinen Bekenntnissen: Geborgenheit findet man in Gott. Bei sich selber kann man sich nicht finden, heißt das. Um zu uns selbst zu kommen, müssen wir auf den Grund unseres Lebens gehen, die Oberfläche durchstoßen. Gott ist der Grund unseres Lebens.
II.4.3 Der Weg und die Wahrheit
(24) Von Unübersichtlichkeit und Orientierungskrise ist im Blick auf unsere Zeit häufig die Rede. In der Tat: Man findet sich schwer zurecht in dieser Welt voller Angebote und Möglichkeiten. Alles ist relativ, Gewissheiten sind oft nur von kurzem Bestand, die Maßstäbe kommen dabei leicht durcheinander.
(25) Orientierungsprobleme tauchen immer dann auf, wenn ein Bezugspunkt fehlt, wenn der Standort unklar ist und die Richtung offen. Als Bezugspunkt taugt nicht, was den Menschen die Freiheit raubt. Vielerlei Heilslehren, religiöse und politische und pseudowissenschaftliche, üben Anziehungskraft aus, versprechen Halt und Bindung. Sie erweisen sich aber als Fessel und Verstrickung.
(26) Auf der Suche nach Halt braucht es deshalb einen Bezugspunkt, der Halt und Freiheit zugleich bietet. Das ist Jesus Christus, weil er eine Person ist, kein Programm, keine Lehre, kein Gesetz. Er ist eine Person, die mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, mit dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, mit den Seligpreisungen der Bergpredigt die gesuchte Orientierung gibt. Diese biblischen Geschichten sind „einleuchtend“. Ihre Wahrheit fordert nicht einen Glauben, den man sich schwer abringen müsste. Sondern sie ist überwältigend, sie leuchtet unmittelbar ein als eine ganz und gar lebendige Wahrheit, die sozusagen erst richtig Leben ins Leben bringt. Man kann sich von diesen biblischen Geschichten leiten lassen. Man „muss“ nicht an sie glauben, sondern sie wecken den Glauben. In ihnen findet man Maßstäbe, die nicht unfrei machen, sondern dem Leben einen Halt geben, der es nicht einengt, sondern – im Gegenteil – vertieft und erweitert. Sie bilden miteinander den Weg zu dem gesuchten Bezugspunkt ab, den Weg zu Jesus Christus.
II.4.4 Leben aus Gnade
(27) Man sagt gerne, dass einem im Leben nichts geschenkt wird. In unserer Leistungsgesellschaft wird daraus oft ein verführerischer Glaubenssatz. Er spornt zu Höchstleistungen an, er führt aber auch in Depressionen. Dagegen hat das Evangelium einen höchst attraktiven Kontrapunkt zu setzen: Alles wirklich Wesentliche und Beständige im Leben ist Geschenk, ist Gabe, ist Gnade! Der Mensch hat seinen Wert nicht aus dem, was er aus sich selbst macht oder nicht macht. Vielmehr ist jeder einzelne Mensch unendlich viel wert, weil Gott sein Wohlgefallen auf allen Menschen ruhen lässt – ohne alles Verdienst und ohne jede Würdigkeit.
(28) Dem Geschenk des Lebens, seines Wertes und seiner Würde durch Gott entspricht auf der Seite des Menschen das Loben und Danken. Wenn Lob und Dank zur Lebensmelodie werden, kommen auch Leistung und Erfolg in neue Zusammenhänge. Wenn sie sich einstellen, werden sie als Geschenk empfangen; wenn sie ausbleiben, sucht der Glaube nach anderen Spuren von Gottes Güte in seinem Leben und in der Welt – und wird solche finden. Loben und Danken füllen das Leben, indem sie es über sich selbst hinaus zu Gott führen.