Das Evangelium unter die Leute bringen
IV. Gemeindeaufbau, Evangelisation und Taufe
IV.1 Gemeinde als Dienstgemeinschaft
(1) Das Leben der christlichen Gemeinde und der Dienst der Evangelisation sind untrennbar miteinander verbunden. Die Gemeinde ist der Ausgangspunkt aller Formen des Gemeindeaufbaus wie auch aller evangelistischer Bemühungen. Evangelisation zielt darauf, Menschen zu einer persönlichen Glaubensbeziehung zu Jesus Christus einzuladen und damit zugleich in die christliche Gemeinde. Evangelistische Aktivitäten ohne Verankerung und Rückbezug auf eine konkrete Gemeinschaft von Christen werden zu problematischen Einzelunternehmen. Gemeinden, die ihren evangelistischen Auftrag über die eigenen Grenzen hinaus nicht wahrnehmen, vernachlässigen einen elementaren Wesenszug christlicher Gemeinde und leiden dann selbst Schaden.
(2) Evangelisation und Gemeindeaufbau werden vom Priestertum aller Gläubigen getragen, das in der Taufe begründet ist. In der christlichen Gemeinde als Dienstgemeinschaft der Glaubenden gilt bei allen vorhandenen Unterschieden: Kein Gemeindeglied kann alles, aber jedes Gemeindeglied kann etwas! Immer geht es darum, „dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht“ (1.Petr 2,9). So geschieht Gemeindeaufbau, wenn Menschen ihre in der Taufe begründete und im Glauben dankbar bezeugte Gliedschaft am Leib Christi praktizieren, sich füreinander verantwortlich wissen und das Evangelium mit Wort und Tat an andere Menschen weitergeben. Evangelisation und Gemeindeaufbau sind einerseits also Konsequenzen und Auswirkungen von Gottes Handeln in der Taufe, dankbare Reaktion auf die Zusage des Evangeliums und Bewährung des allgemeinen Priestertums der Gläubigen; andererseits führen sie dazu, dass Menschen in Verkündigung und Taufe das Heil Gottes zugesprochen wird.
IV.2 Taufe und Evangelisation
(3) In den Landeskirchen ist die Kindertaufe noch immer der Normalfall. Dazu sind auf dem Hintergrund des biblischen Zeugnisses und der reformatorischen Bekenntnisse folgende Akzente festzuhalten:
- Die Praxis der Kindertaufe ist nur vertretbar in Verbindung mit Evangelisation und Gemeindeaufbau, mit christlicher Unterweisung und kirchlicher Bildungsarbeit. Denn Taufe und Glaube gehören nach biblischem Zeugnis und einhelliger reformatorischer Überzeugung zusammen. In der Kundgebung der Synode der EKD von 1999 heißt es dazu: „Eine Kirche, die Kinder tauft, ist dazu verpflichtet, zum persönlichen Glauben hinzuführen. ‚Wenn der Glaube nicht zur Taufe kommt, ist die Taufe nichts nütze‘ (Martin Luther)“ (s. u. S. 44). Evangelisation in ihren vielfältigen Formen hilft den Getauften zu realisieren, was ihnen in der Taufe geschenkt und welcher Weg ihnen eröffnet wurde. Der Gemeindeaufbau und die Evangelisation als die spezifische missionarische Komponente des Gemeindeaufbaus dienen also dazu, die Taufe als grundlegende Station auf dem Weg des Glaubens zu verstehen und die Getauften zu diesem Weg zu motivieren und sie dabei zu begleiten.
- Der grundlegende Charakter der Taufe drückt sich in ihrer Einmaligkeit aus, während die Praxis des Glaubens mit dem Wort Gottes, dem Gebet und dem Heiligen Abendmahl sich ständig erneuert und wiederholt. Die Einmaligkeit der Taufe entspricht dem „Ein-für-alle-mal“ des Heilswerkes Christi (Röm 6,10; Hebr 7,27; 9,12; 10,10). Das Erfahrungsbedürfnis, verstärkt durch den modernen Individualismus, verführt manche Menschen, die ein Bekehrungs- oder ein Erweckungserlebnis hatten, dazu, ihre Kindertaufe für bedeutungslos zu halten und die Taufe zu wiederholen. Das ist mit dem reformatorischen Verständnis der Taufe nicht vereinbar. Die Gültigkeit der Taufe darf nicht von bestimmten Qualitäten und Formen menschlicher Erfahrung abhängig gemacht werden. Sonst wird die Heilsgewissheit nicht in Gottes Handeln fest gemacht, sondern an menschlichen Erfahrungen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei den vielfältigen Formen der Evangelisation und des Gemeindeaufbaus haben die Verantwortung, dass diese reformatorische Grundlinie durchgehalten wird.
- Im Neuen Testament und bei den Reformatoren ist klar, dass die Taufe eine ständige Gabe und Aufgabe darstellt, die in einer persönlichen Beziehung zu Jesus Christus gelebt werden will. Für diesen persönlichen Glauben wirbt die Evangelisation, während der Glaubende durch den Gemeindeaufbau in die Dienstgemeinschaft der Mitgetauften und Mitglaubenden gestellt wird.
(4) Ungetaufte werden durch die evangelistische Verkündigung in eine persönliche Glaubensbeziehung zu Jesus Christus eingeladen. Untrennbar dazu gehört die Ermutigung, sich durch die Taufe in den Leib Christi und die rechtlich geordnete Kirche eingliedern zu lassen und mit und in einer konkreten Gemeinde zu leben. Der Ruf zur Taufe hat eine wichtige seelsorgerliche Dimension. Menschen, die sich auf den Weg des Glaubens begeben haben, dürfen nicht – wie es dem zögerlichen Stil unserer Zeit entspricht – in immer weiterem Suchen, Bedenken und Ausprobieren verbleiben. Sonst kommen sie am gesuchten Ziel, nämlich der persönlichen Christusbeziehung, gar nicht an. Zu dieser werden weitere Klärungen und Glaubensfortschritte geschenkt werden, die sonst versäumt werden. Je weniger die Kindertaufe als volkskirchliche Sitte praktiziert wird, desto notwendiger wird die Einladung zur Mündigentaufe, aber auch die Ermutigung christlicher Eltern, ihre Kinder taufen und in die Gemeinde hineinwachsen zu lassen.
(5) Wie die Evangelisation einen Höhepunkt im Gemeindeaufbau darstellt, bedeutet die Taufe einen Höhepunkt im Leben der beteiligten Familie. Dies gilt besonders bei der Kindertaufe. Viele Gemeindeglieder geben der familiären Bedeutung deutlich den Vorrang vor der kirchlichen. Dieses Bedürfnis nach der familiären Feier darf theologisch nicht abgewertet werden, die Beteiligten dürfen sich nicht kirchlichen Interessen unterworfen fühlen. Man bedenke: Sie verbinden eine Lebensstation sehr persönlichen Charakters mit einer „Institution“. Deshalb ist – wie bei den anderen Kasualien – so einfühlsam wie möglich auf die persönlichen Wünsche und Interessen der Beteiligten Rücksicht zu nehmen und gegebenenfalls auch Hilfe bei der familiären Ausgestaltung des Tauftags anzubieten. Zugleich muss die besondere Verantwortung und Chance der Verkündigung des Evangeliums in dieser Situation gesehen werden. Vorbereitung und Vollzug der Taufe sollen den Beteiligten helfen, mit der Gemeinde zu leben und sich in ihr herzlich willkommen zu wissen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, die Taufe sei eine Kleinigkeit, die nebenher in den Gottesdienst eingeschoben wird und dessen sonstigen Vollzug sogar störe. Gelegenheiten zur Tauferinnerung zu geben und Tauferinnerung mit den Familien zu gestalten, gehört zu den wesentlichen Elementen des Gemeindeaufbaus.
IV.3 Evangelisation und Gemeindeaufbau
(6) Die Gemeinschaft der Getauften lebt in der „Freiheit eines Christenmenschen“. Diese Freiheit ist eine der grundlegenden Ausstrahlungen des Evangeliums. Freiheit wird aber immer von der Gefahr begleitet, zur Unverbindlichkeit zu entarten. Aus der Bedingungslosigkeit der Taufgnade wird dann eine Folgenlosigkeit. Dieses gravierende Missverständnis der Rechtfertigung „allein aus Gnade“ ist in der Volkskirche verbreitet. Die Freiheit eines Christenmenschen wird nicht selten als Ja zum Individualismus und als Gegensatz zu den mehr Verbindlichkeit anstrebenden Programmen des Gemeindeaufbaus gedeutet. Daran ist richtig, dass die Volkskirche ein hohes Maß an Freiheit des individuellen Profils der Frömmigkeit ermöglicht. Die „treuen Kirchenfernen“, die der Kirche als Mitglieder die Treue halten, Steuern zahlen, Spenden geben, die Kasualien für sich nutzen und gelegentlich bei festlichen Gottesdiensten Orientierung für ihr Leben suchen, aber den regelmäßigen Gottesdiensten und den anderen Gemeinschaftsveranstaltungen oft fernbleiben, haben ihren Platz in der Kirche. Sie sind frei dazu, diesen Platz leer zu lassen, ohne deshalb gescholten zu werden. Die in der Kirche verantwortlich Tätigen müssen aber ebenso frei sein, die „treuen Kirchenfernen“ dafür zu werben, dass sie „frohe Jesusnahe“ werden, also Menschen, die sich darüber freuen, dass Jesus ihnen nahe ist. Außerdem: „Kirchenfern“ sind die Menschen meist deshalb, weil die Kirche ihnen nicht nahegekommen ist! Die Gefahr unserer Kirche liegt nicht in zu viel Nähe, die aufdringlich würde und dem Menschen die Freiheit raubte. Sie liegt in zu viel Distanz zu den Menschen. Diesen Mangel an Nähe zu den Menschen dürfen wir nicht in die Tugend der Freiheit umdeuten. Denn Evangelisation und Gemeindeaufbau wollen den Menschen das Evangelium nahe bringen, ohne ihnen zu nahe zu treten.
(7) Wenn Evangelisation und Gemeindeaufbau vom Priestertum aller Gläubigen getragen werden, dann hat dies ganz konkrete und praktische Auswirkungen in der Durchführung der Gemeindearbeit und bei der Gestaltung besonderer evangelistischer Aktivitäten. Es ist deutlich, dass Evangelisationsveranstaltungen nur als Gemeinschaftswerk möglich sind. Das Gleiche gilt im Gemeindeaufbau, wo zwar von der Pfarrerin oder dem Pfarrer bzw. anderen Hauptamtlichen entscheidende Impulse ausgehen müssen, diese allein aber auf verlorenem Posten stünden. Oder: So wichtig z. B. eine professionell betriebene Werbung und Öffentlichkeitsarbeit ist, so wenig richtet sie aus, wenn nicht viele Frauen, Männer und Kinder ihre persönlichen Beziehungen einsetzen, Zeitgenossen einladen und zu Veranstaltungen mitbringen, die Projekte betend und beratend begleiten und nicht zuletzt finanziell unterstützen. Deshalb sind Evangelisation und Gemeindeaufbau untrennbar mit der Schulung und Begleitung der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verbunden. Gaben sind zu entdecken und Fähigkeiten auszubilden. Besonders wird es dabei darum gehen, den Gemeindegliedern zu helfen, sprachfähig über den Glauben zu werden. Dabei ist klar, dass durch die Beteiligung vieler die Bedeutung besonders begabter und beauftragter Personen in bestimmten Amtern nicht geschmälert wird. Bei manchen evangelistischen Arbeitsformen ist z. B. die Ausstrahlung der verkündigenden Person im Medienzeitalter vielleicht noch wichtiger als früher.
(8) Die gemeindepädagogische Dimension von Evangelisation und Gemeindeaufbau ist stärker zu beachten. Vielen Menschen fehlen die elementaren Kenntnisse des christlichen Glaubens, an die früher die Evangelisation und allgemein alle kirchlichen Aktivitäten anknüpfen konnten. In den neuen Bundesländern verknüpft sich Unwissen mit negativen Vorurteilen. In den alten Bundesländern wird die christliche Prägung durch die Elternhäuser und die Familien zunehmend schwieriger. Hier wie dort gehört es zur Aufgabe der Gemeinden, Familien zu fördern und zu stärken, damit in ihnen Glauben weitergegeben und Glaubensvollzüge eingeübt werden können. Gemeindepädagogische Arbeit hilft z. B. dazu, Getaufte über die Bedeutung der Taufe zu informieren und sie zur Auskunft über ihren Glauben zu befähigen. In diesem Zusammenhang haben sich „Glaubenskurse“ als wichtige und hilfreiche Instrumentarien erwiesen. Die gemeindepädagogische Arbeit ist gerade unter den Gesichtspunkten des Gemeindeaufbaus und der Evangelisation zu bedenken und zu verstärken.