Das Evangelium unter die Leute bringen
VI. 15 Empfehlungen für die Weiterarbeit
(1) Die klassische Visitation weitet sich zunehmend zur Gemeinde(aufbau)planung. Sie bietet die Chance, Gemeinden zur Evangelisation zu motivieren und sie bei der Planung eines evangelistischen Gemeindeaufbaus zu unterstützen. Empfohlen wird, in die Visitationsordnungen (Visitationsgesetze) als eines der Ziele der Visitation die Unterstützung der Gemeinden bei ihrer evangelistischen Aufgabe explizit aufzunehmen und gegebenenfalls vorhandene Berichtsschemata zur Visitation auf diese Zielbestimmung auszurichten.
(2) Es gibt inzwischen so viele Anregungen, Materialien und Modelle evangelistischer Arbeit, dass die Einzelgemeinden und auch die Kirchenbezirke kaum noch einen Überblick gewinnen und die vorhandenen Möglichkeiten dann auch ihrer (oft sehr unterschiedlichen) Situation entsprechend nutzen können. Empfohlen wird, dass die Amter für missionarische Dienste ihre Beratungsarbeit verstärken und vor allem eine Beratung anbieten, die der Gemeinde hilft, zu einem Leitbild, zu evangelistischen Zielen und von da aus zur Auswahl evangelistischer Strategien zu finden. Dazu sollten sie zu einer Informations- und Koordinationsstelle für evangelistische Aktivitäten im Raum der jeweiligen Landeskirche werden, wobei die Förderung des Miteinanders von landeskirchlichen Angeboten und solchen von freien Werken und Initiativen (wie z. B. CVJM, evangelistische Werke, Landeskirchliche Gemeinschaften) besonders wichtig ist.
(3) Zunehmend erwerben Pfarrerinnen und Pfarrer und engagierte Gemeindeglieder wichtige theologische Erkenntnisse und praktische Anleitungen in Sachen evangelistischer Arbeit bei Veranstaltungen (Kongressen), die die Grenzen der Landeskirchen überschreiten und von Institutionen wie der Arbeitsgemeinschaft Missionarischer Dienste, von freien Initiativen wie ProChrist, von landeskirchlich ungebundenen Gruppen wie Willow Creek Community Church (WCCC) u. a. angeboten werden. Nach den Veranstaltungen sind die, die daran teilgenommen haben, jedoch oft allein. Empfohlen wird, dass die Kirchenleitungen zusammen mit den Amtern für missionarische Dienste die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu Nachgesprächen einladen und die Weiterarbeit vor Ort mit ihnen gemeinsam planen.
(4) Bei den Weltanschauungsbeauftragten der Landeskirchen und in der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen sammeln sich zunehmend wichtige Erkenntnisse über religiöse Strömungen und Bindungen der Gegenwart. Sie sind unverzichtbar, wenn evangelistische Arbeit die Menschen in den sie bewegenden persönlichen Fragen erreichen will. Empfohlen wird, durch geeignete Kommunikations- und Arbeitsverfahren dafür zu sorgen, dass es zur geregelten Weitergabe solcher Kenntnisse und Erfahrungen über die Weltanschauungsbeauftragten hinaus in die Gesamtkirche kommt.
(5) Viele evangelistische Aktivitäten leben ganz oder überwiegend von freien Spenden derer, die die Aktivitäten betreiben. Dieses ist ausdrücklich zu begrüßen. Gleichwohl muss auch im finanziellen Bereich deutlich werden, dass „die evangelische Kirche das Glaubensthema und den missionarischen Auftrag an die erste Stelle setzt“ (Kundgebung der Synode der EKD von 1999 s. u. S. 47). Deshalb wird empfohlen, im Haushalt der EKD und in den Haushalten der Landeskirchen Vorsorge dafür zu treffen, dass die verfasste Kirche ihre evangelistische Aufgabe kraftvoller wahrnehmen kann.
(6) In manchen Landeskirchen haben Kooperationen zwischen der Öffentlichkeitsarbeit und der evangelistischen Arbeit begonnen. In ihnen zeigt sich, dass die evangelistische Arbeit zunehmend daran interessiert ist, die Öffentlichkeitsarbeit für sich in Anspruch zu nehmen. Darin zeigt sich zugleich, dass die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit die evangelistische Arbeit als nötigen Teil des öffentlichen Wirkens der Kirche zu erkennen beginnt. Empfohlen wird, diese Kooperationen zu fördern und zu intensivieren.
(7) In vielen neuen Formen evangelistischer Verkündigung wird der Typus „Kurzansprache“ benötigt. Dazu bedarf es aber einer besonderen Schulung. Entsprechendes gilt für die gedruckte „Kurzandacht“ in Tageszeitungen und in kostenlosen Anzeigenzeitungen. Erfahrungen mit solchen kurzen Texten liegen in der kirchlichen Rundfunkarbeit vor, für die die kirchlichen Beauftragten bei den Sendeanstalten auch eigene Fortbildungen durchführen. Empfohlen wird, dass die kirchlichen Beauftragten bei den Sendeanstalten in Zusammenarbeit mit den Amtern für missionarische Dienste auch Schulungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der evangelistischen Arbeit entwickeln und durchführen. Dabei ist eine Zusammenarbeit mit dem Evangeliumsrundfunk (ERF) zu fördern, durch den bisher schon viele kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine qualifizierte Zurüstung erhalten haben.
(8) Vor Ort werden immer wieder neue, oft fantasievolle Versuche evangelistischer Arbeit unternommen. Auch wenn sie erfolgreich sind, werden sie häufig nicht überörtlich bekannt. Empfohlen wird, dass Kirchenleitungen und Amter für missionarische Dienste durch Aufrufe dazu ermutigen, von solchen Versuchen zu berichten. Sie können dann mit einem „Ideenheft Evangelisation“ zur Verbreitung der Anregungen und Erfahrungen aus der Praxis beitragen. In dieser Hinsicht hat sich in einer Landeskirche bewährt, dass jedes zweite Jahr ein Preis für evangelistische Aktivitäten ausgeschrieben wird.
(9) Die Kirchen der Reformation haben von Anfang an der Ausbildung der Pfarrer und nach deren Zulassung zum kirchlichen Dienst auch der der Pfarrerinnen hohe Bedeutung zugemessen. Kirchenreformprogramme waren darum zumeist mit Ausbildungsreformvorschlägen verbunden (Luther und Melanchthon, Spener, Bekennende Kirche). Zuletzt hat die vom Rat der EKD und vom Evangelisch-theologischen Fakultätentag gebildete „Gemischte Kommission“ mit den 1988 vorgelegten „Grundsätzen für die Ausbildung und Fortbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen der Gliedkirchen der EKD“ einen Verständigungsprozess darüber eingeleitet, wie die theologische Ausbildung auf die künftigen Berufsaufgaben in den Kirchen ausgerichtet werden muss.
Der dabei zur Diskussion gestellte Leitbegriff „Theologische Kompetenz“ meint die durch Teilhabe an der wissenschaftlichen Arbeit zu erwerbende Fähigkeit, in fester Bindung an die Heilige Schrift, Bekenntnis, Lehre und Ordnung der Kirche zu kennen, zu verstehen, persönlich zu vertreten, öffentlich auszusprechen und kritisch fortzuentwickeln. Der Begriff „Theologische Kompetenz“ wird in diesen Empfehlungen bewusst im Unterschied zur „Missionarischen Kompetenz“ gebraucht, die dem allgemeinen Priestertum zugeschrieben ist und an der die Ordinierten natürlich kraft ihrer Taufe teilhaben.
Diese Zielsetzung theologischer Ausbildung ist auch weiterhin unerlässlich, für die Zukunft der Kirche aber nicht ausreichend. „Dringend benötigt werden Impulse in der missionarischen Ausbildung, nicht nur an den besonderen Ausbildungsstätten, sondern vor allem auch in der Aus- und Fortbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer an den theologischen Fakultäten, Predigerseminaren und Pastoralkollegs“ (Kundgebung der Synode der EKD von 1999 s. u. S. 45). Angesagt ist jetzt neben der Vermittlung theologischer Kompetenz zugleich die Vermittlung einer „missionarischen Kompetenz auf professionellem Niveau“. Damit ist die Fähigkeit gemeint, die persönliche Situation der Menschen aufmerksam wahrzunehmen und zu verstehen, das Evangelium in diese Situation hinein als Hilfe zum Glauben und zum Leben werbend und verständlich zu verkünden, die eigenen Arbeitsvollzüge in Beachtung der konkreten Arbeitssituation und der vorhandenen Gaben in zeitlich strukturierten Prioritätenentscheidungen zu gestalten, Arbeitsziele und deren Erreichung zusammen mit Ehrenamtlichen zu formulieren und zu überprüfen usw. Diese vorläufige Beschreibung einer „missionarischen Kompetenz auf professionellem Niveau“ zeigt, dass die nunmehr zu leistenden weiteren Reformen der theologischen Ausbildung an den oben knapp referierten Grundsätzen der Gemischten Kommission anknüpfen können. Sie zeigt zugleich, dass zur weiteren Präzisierung des Begriffs nützliche Erkenntnisse aus den Wissenschaften gewonnen werden können, die sich mit Unternehmensführung beschäftigen. Es wird empfohlen, dass sich die Gemischte Kommission, die von Akf und VELKD veranstaltete Konsultation „Kirchenleitung und wissenschaftliche Theologie“ und die Predigerseminare zusammen mit der AMD und den einzelnen Amtern für missionarische Dienste dieser Aufgabe annehmen und an diesen Fragen arbeiten.
(10) Im internationalen Vergleich sind in Deutschland akademische Forschung und Lehre in Sachen Evangelisation nicht so entwickelt, wie es für die Zukunft der Kirche nötig wäre. Das evangelisierende Handeln der Kirche bedarf der wissenschaftlichen Begleitung. Dafür fehlt bisher ein Organisationsrahmen, um die in den einzelnen theologischen Disziplinen für die Evangelisation relevanten Erkenntnisse aufeinander zu beziehen, an der Praxis in den Kirchen auszurichten und die kirchliche Praxis auf ihre Erneuerungsfähigkeit hin zu analysieren. Solches könnte in einem „Institut für Evangelisation“ geschehen, das einer Evangelisch-Theologischen Fakultät angegliedert und von mehreren Landeskirchen im Einzugsbereich dieser Fakultät gemeinsam getragen wird. Empfohlen wird, dass die EKD diese Überlegungen in ihre Reformplanungen einbezieht und die Bereitschaft zu deren Realisierung erkundet.
(11) Hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der evangelistischen Arbeit kommen traditionell aus theologischen Seminaren von freien Trägern, vor allem der Gemeinschaftsbewegung. Diese Seminare befinden sich zum Teil in einer Neuorientierung. Dabei spielen verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle, z. B. die bewusste Verstärkung der theologischen oder sozialpädagogischen Qualifizierung bei deutlicher Beibehaltung der missionarischen Ausrichtung, dann die rückläufigen Berufschancen ihrer Absolventinnen und Absolventen in den Landeskirchen, auch der Rückgang der Bewerbungszahlen für die Ausbildung. Im Interesse evangelistischer Arbeit in den Landeskirchen wird empfohlen, für Absolventinnen und Absolventen dieser Seminare, die weithin zur Konferenz Missionarischer Ausbildungsstätten gehören, auch in Zukunft Arbeitsmöglichkeiten im kirchlichen Raum offen zu halten und die Anstellungsbedingungen so zu gestalten, dass sie in der erforderlichen Anzahl auch direkt im landeskirchlichen Dienst angestellt werden können.
(12) Es ist allgemein, aber insbesondere für die evangelistische Arbeit wichtig, dass theologische Einsichten aus unterschiedlichen Ausbildungsgängen und praktische Erfahrungen aus unterschiedlichen Aufgabenfeldern miteinander ins Gespräch kommen, um Theorie und Praxis evangelistischer Arbeit voranzubringen. Empfohlen wird, dass die Fortbildungsangebote für den Verkündigungsdienst ausbildungs- und berufsgruppenübergreifend organisiert werden und die Teilnahme daran durch entsprechende Beratung und Werbung unterstützt wird.
(13) Neben dem liturgisch geordneten Gemeindegottesdienst, dessen evangelistische Elemente selten explizit werden (können), werden immer mehr neue Gottesdienstformen entwickelt, die speziell solche Menschen ansprechen, die für das gottesdienstliche Leben erst (wieder) gewonnen werden müssen. Es gibt dazu inzwischen eine Fülle von Modellen und Veröffentlichungen. Es fehlt aber an einer systematischen Aufarbeitung, die die Gemeinden davor bewahrt, entweder fremde Modelle unbesehen zu übernehmen oder mühsame eigene Versuche mit größerer Fehlerbehaftung zu riskieren oder schlicht vor der Aufgabe zu kapitulieren. Nach Abschluss der Arbeit am „Evangelischen Gottesdienstbuch“ („Erneuerte Agende“) wird empfohlen, dass die Lutherische Liturgische Konferenz unter Beteiligung erfahrener Expertinnen und Experten neuer Gottesdienste Empfehlungen für die Landeskirchen zur Fortentwicklung des gottesdienstlichen Lebens mit praktischen Konsequenzen für die Fortbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer und der Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker ausarbeitet.
(14) Kirchliche Großveranstaltungen, auch solche evangelistischer Art, sind wichtige und ermutigende Ereignisse, die auch in den großen Medien Beachtung finden. Sie werden aber in der Regel von den Veranstaltern unter ihren eigenen Gesichtspunkten und ohne kontinuierliche Rücksprache mit anderen Veranstaltern geplant und durchgeführt. So kommt es zu Überschneidungen und Konkurrenzen auf der einen Seite, zu „medialen Fehlzeiten“ auf der anderen Seite. Empfohlen wird, dass die Träger von Großveranstaltungen (Lausanner Bewegung Deutscher Zweig, Evangelische Allianz, Trägerkreis ProChrist, Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste [AMD], PGB, WCCC, DEKT, EKD usw.) eine freiwillige Terminbörse einrichten, damit wenigstens die Termine von bundesweiter Bedeutung frühzeitig und vertrauensvoll koordiniert werden.
(15) Vor Ort und auch regional kommt es immer noch zu Problemen, wenn evangelistische Veranstaltungen geplant und durchgeführt werden, ohne dass zuvor Absprachen zwischen Pfarrerinnen bzw. Pfarrern und ihrem Kirchengemeinderat oder zwischen Veranstaltergruppen und zuständiger Gemeindeleitung oder zwischen Gemeinden und Nachbargemeinden u. ä. stattgefunden haben. Solches unabgesprochene Vorgehen diskreditiert das Anliegen der Evangelisation, schädigt ihre Ergebnisse, verursacht gegenseitige Vor- und Fehlurteile und kann dazu führen, dass eher bereits gebundene Gemeindeglieder in neue Gemeinden abgeworben, als dass Menschen neu für den Glauben gewonnen werden. Empfohlen wird, dass die AMD eine Art „Evangelisations-Knigge“ erarbeitet, der ungeistlichem Vorgehen entgegenwirkt.