Schritte auf dem Weg des Friedens
III. Was leitet unsere Schritte?
1. Das Dilemma der nuklearen Abschreckung
Die Grundlinien für eine Friedensethik der evangelischen Kirche, die uns noch heute leiten, sind in der Epoche der Ost-West-Konfrontation formuliert worden. Dabei traten tiefgreifende Differenzen zu Tage - auch, aber keineswegs ausschließlich, zwischen Ost und West. Sie hängen zusammen mit einer unterschiedlichen Bewertung des Systems nuklearer Abschreckung.
Dieses System mit seinem beiderseitig wirksamen Zwang zum Gewaltverzicht stützte sich auf Mittel der nuklearen Rüstung, die im Konfliktfall tatsächlich einzusetzen weder politisch noch ethisch gerechtfertigt werden kann. Für dieses Dilemma hat es zu keinem Zeitpunkt eine glatte Lösung gegeben. Die kritische Position, der die Synode des BEK zuletzt 1987 die Gestalt der "Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung" gegeben hat, sah das System der nuklearen Abschreckung in einem fundamentalen Widerspruch zum Glauben an den dreieinigen Gott und setzte politisch an dem Umstand an, daß dieses System Mechanismen enthalte, welche die Gefahr der nuklearen Katastrophe, die es verhindern will, gleichzeitig verstärkten, und daß in einem System, in dem nukleare Waffen bereitgehalten und als Drohmittel verwendet werden, die katastrophalen Folgen eines tatsächlichen Einsatzes nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden könnten. Die Friedensdenkschrift der EKD von 1981 vertrat eine sicherheitspolitische Konzeption, die auf die Wiedergewinnung der politischen Dimension zielte, die Notwendigkeit militärischer Mittel zur Abstützung des Friedens bejahte und - im Sinne einer für Christen "noch möglichen Handlungsweise" - auch die Nuklearwaffen in die Aufgabe der Entwicklung einer internationalen Friedensordnung einband. Gemeinsam aber erklärten der BEK und die EKD 1985 in einem Wort zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges: Wir sind "überzeugt, daß das System der nuklearen Abschreckung kein dauerhafter Weg zur Friedenssicherung sein kann, sondern unbedingt überwunden werden muß." Sie forderten die Alliierten des Zweiten Weltkrieges auf: "Finden Sie neu zusammen in der gemeinsamen Aufgabe für Frieden und Gerechtigkeit zu einer Politik der Verständigung. Bemühen Sie sich um weitere Schritte, die dazu helfen, endgültig auf alle Kernwaffen zu verzichten ... Bringen Sie neue Impulse in die Verhandlungen über die Begrenzung der konventionellen Waffen und über vertrauensbildende Maßnahmen ein ... Folgen Sie der Einsicht, daß Sicherheit heute nur noch in gemeinsamer Sicherheit liegen kann."
Die Strategie der nuklearen Abschreckung war - das kann mit aller gebotenen Zurückhaltung gesagt werden - in Europa politisch wirksam. Aber die Weltlage, in der sie wirksam sein konnte, existiert so nicht mehr, und daß sie wirksam war, läßt sich definitiv erst feststellen, seit ihre Voraussetzungen nicht mehr bestehen.
Heute kann und muß darum in der evangelischen Kirche die Verständigung darüber möglich sein, daß eine am Vorrang der politischen Friedensaufgabe orientierte Position, die die Existenz der nuklearen Abschreckung als Mittel auf dem Wege akzeptierte, und eine Position der Absage an die nukleare Abschreckung sich nicht überhaupt als unversöhnliche Gegensätze ausschließen, sondern - durchaus situationsbedingt - Ausdruck des Dilemmas waren, in das wir durch die militärische Ausgestaltung der Ost-West-Konfrontation gestellt waren.
Das Dilemma und der von ihm verursachte Dissens bestehen heute insofern noch fort, als auch nach dem Ende des Systems nuklearer Abschreckung Atomwaffen in großer Zahl vorhanden sind und sogar ihre Weiterverbreitung droht. Das Ziel der atomaren Abrüstung ist ethisch begründet und politisch sinnvoll. Es verdient daher alle Unterstützung. Auf jeden Fall muß auf die internationale Ächtung der Atomwaffen hingearbeitet werden. Allerdings bestehen erhebliche Verifikations- und Durchsetzungsprobleme. Darum wird eine vollständige atomare Abrüstung vermutlich nicht gelingen, zumal das Wissen um die Herstellung nuklearer Rüstung nicht mehr aus der Welt geschafft werden kann. Auch in der Zukunft stellt sich insofern für die Staatengemeinschaft das Problem, was zur Vorbeugung und zur Abwehr nuklearer Erpressung getan werden kann.
2. Grundlinien einer evangelischen Friedensethik
Der Dissens über die Bereithaltung von Atomwaffen und das System nuklearer Abschreckung kann und darf nicht den Blick darauf verstellen, daß über die Grundlinien einer evangelischen Friedensethik ein breites Einverständnis besteht. Heute ist die Zeit reif, um in einer veränderten Situation diese Überzeugungen gemeinsam zu verantworten.
- In der Friedensdenkschrift von 1981 heißt es programmatisch: "Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern ist das Gebot, dem jede politische Verantwortung zu folgen hat. Diesem Friedensgebot sind alle politischen Aufgaben zugeordnet. In der Zielrichtung christlicher Ethik liegt nur der Frieden, nicht der Krieg." Dem entspricht es, wenn die Kirchen in der DDR auf der Ökumenischen Versammlung von 1988 in Abkehr vom Gedanken des "gerechten Krieges" die Entwicklung einer "Lehre vom gerechten Frieden" angemahnt haben. Die grundsätzliche Ächtung des Krieges als Form zwischenstaatlichen Konfliktaustrags und als Mittel zur Durchsetzung partikularer politischer Ziele, wie sie völkerrechtlichem Standard entspricht, ist ein fester Bestandteil evangelischer Friedensethik.
- Sicherheit kann nicht allein militärisch definiert werden. Sie beruht auf einer Vielzahl von Faktoren und muß in erster Linie politisch bestimmt werden. Das ist gemeint, wenn von der Notwendigkeit eines erweiterten Friedensbegriffs gesprochen wird. Sicherheit ist vor allem angewiesen auf eine gerechtere Verteilung der Lebenschancen zwischen Nord und Süd sowie West und Ost, auf die Einhaltung der Menschenrechte, die Stärkung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen und den Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens. Daraus folgt, daß die Analyse und Beseitigung von Konfliktursachen langfristig die vorrangige Aufgabe darstellt und durch ein kurzfristiges militärisches Krisenmanagement von Symptomen nicht zu ersetzen ist.
- Sicherheit ist nicht einseitig zu haben. Es gibt sie wie den Frieden nur miteinander, nicht gegeneinander. Daraus folgt, daß eine rechtlich verfaßte internationale Friedensordnung gegenüber der Sicherheit durch nationalstaatliche militärische Rüstung und Bündnissysteme, zugleich die internationale Konfliktregulierung gegenüber partikularen nationalstaatlichen Entscheidungen und zwischenstaatlichem gewaltsamem Konfliktaustrag das prinzipiell vorrangige, heute noch nicht zureichend realisierte Ziel bilden.
- Friede ist fortwährend bedroht und wird immer wieder gebrochen. Um den Frieden zu erhalten und wiederherzustellen, müssen verschiedene Wege gegangen und unterschiedliche Mittel angewendet werden. Dabei darf nicht zuerst oder vorrangig an militärische Kampfeinsätze gedacht werden. In diesem Sinne haben die Kirchen der DDR auf der Ökumenischen Versammlung von 1989 als "Grundorientierung in den Fragen des Friedens" eine "vorrangige Option für die Gewaltfreiheit" vertreten. Diese Formel zielt darauf ab, die Leistungsfähigkeit nicht-militärischer Instrumente zur Bewältigung von Konflikten und zur Sicherung des Friedens zu prüfen und politisch zu nutzen und diese Instrumente zugleich weiterzuentwickeln und zu stärken. Neben der bereits angesprochenen Verknüpfung der Friedenspolitik mit den Bemühungen um gerechtere weltwirtschaftliche Verhältnisse und den Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens ist hier insbesondere zu denken an:
- wirtschaftliche, soziale und kulturelle Kooperation als die bessere und langfristig hoffnungsvollere Weise des gemeinsamen Lebens unter den Völkern und in den Völkern,
- politische Einflußnahme,
- Etablierung ziviler Formen des Konfliktaustrags und der Konfliktregelung,
- Ausbau der Friedensdienste,
- Fortschritte bei der Abrüstung und der Begrenzung des Waffenhandels.
- Für alle Wege und Mittel, den Frieden zu wahren und die Opfer vor Gewalt zu schützen, gilt dasselbe Kriterium: Es ist im Austausch von Erfahrungen, Anhaltspunkten und Argumenten historischer, politischer und militärischer Art unvoreingenommen zu prüfen, ob sie leisten, was sie leisten sollen. In diese Prüfung müssen auch die Bereithaltung und der Einsatz militärischer Gewalt einbezogen werden. Wir knüpfen dabei an die Barmer Theologische Erklärung von 1934 an, wonach "der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen." Dementsprechend sehen wir es nicht als einen grundsätzlichen Widerspruch zu einer christlichen Friedensethik, vielmehr als eine notwendige, wenn auch nicht vorrangige Konkretion an, militärische Mittel zur Wahrung des Friedens und zur Durchsetzung des Rechts bereitzuhalten und notfalls anzuwenden.
- Vom Einsatz militärischer Gewalt darf dabei nicht mehr erwartet werden, als er zu leisten imstande ist. Er ist nicht hinreichend, um Konflikte zu lösen und Frieden zu schaffen, aber er kann als Nothilfe die Ausübung rechtswidriger Gewalt eindämmen und den Weg zu friedlichen Lösungen offenhalten oder ebnen.
Zwar läßt sich nicht allgemein bestimmen, wo im Einzelfall die genaue Trennungslinie verläuft zwischen einem Einsatz militärischer Gewalt, der ethisch noch gerechtfertigt werden kann, und einem Einsatz, der ethisch nicht mehr zu rechtfertigen ist. Aber es lassen sich Kriterien angeben, die eine klare Tendenz erkennen lassen. Die Benutzung militärischer Macht ist um so weniger zu vertreten, je weiter sie sich von Notwehr oder Nothilfe entfernt und je mehr sie ausgeweitet wird, d. h. nicht nur Waffen, sondern auch Menschen, nicht nur militärische Einrichtungen, sondern unterschiedslos alles zu zerstören beginnt. Weil die Aufgabe, für Recht und Frieden zu sorgen, so immer weniger wahrgenommen, ja sogar tendenziell in ihr Gegenteil verkehrt wird, ist eine solche Rechtfertigung mit ansteigender Eskalation immer weniger möglich. Umgekehrt ist die Benutzung militärischer Macht um so eher zu vertreten, je enger sie im Sinne von Notwehr oder Nothilfe auf den Schutz bedrohter Menschen, ihres Lebens, ihrer Freiheit und der demokratisch- rechtsstaatlichen Strukturen ihres Gemeinwesens bezogen bleibt und je gezielter und begrenzter sie nur die militärischen Angriffsmittel zerstört. Kirchen und Christen haben mit allem Nachdruck den alleinigen Sinn dieser Benutzung anzumahnen und darum auf die Minimierung des Einsatzes solcher Machtmittel zu dringen. Sie können dies vor allem dadurch tun, daß sie die Schaffung von institutionellen Bedingungen zur nicht-militärischen Konfliktregelung nachdrücklich unterstützen und beim notwendigen Einsatz militärischer Macht stets an deren alleinige Rechtfertigung, nämlich die Verhinderung größeren Schadens, erinnern. - Nicht selten werden Bedenken dagegen geltend gemacht, von einem konkreten Einsatz militärischer Gewalt zu sagen, er sei ethisch gerechtfertigt. Überdeutlich steht uns heute vor Augen, daß die Anwendung militärischer Gewalt in der Regel gerade kein Vorgang mit der Präzision eines chirurgischen Eingriffs ist, vielmehr Verwüstungen anrichtet und Opfer fordert - Opfer unter den Soldaten und Opfer unter den Zivilisten. Darum ist die Klarstellung angebracht, daß mit der ethischen Rechtfertigung einer Handlung nicht notwendig gemeint ist, diejenigen, die sie vollziehen, wären frei von Schuld. Vielmehr soll ausgesagt werden, daß eine Handlung nach Abwägung aller bestehenden Handlungsmöglichkeiten im Blick auf den uns erkennbaren Willen Gottes als die relativ beste oder die am wenigsten schlechte erkannt wird. Zu einer solchen relativ besten Handlung sind die Handelnden gleichwohl verpflichtet. Der mögliche Schuldanteil hebt also die Verbindlichkeit nicht auf, ja schränkt sie nicht einmal ein. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn vom Einsatz militärischer Gewalt als einem kleineren Übel gegenüber der ungehinderten Durchsetzung rechtloser Gewalt gesprochen wird.
- Um deutlich zu machen, daß der Einsatz militärischer Gewalt eine zwar offenzuhaltende, aber nur mit größter Zurückhaltung und nach sorgfältiger Prüfung in Anspruch zu nehmende Handlungsoption ist, wird er als "ultima ratio", d. h. als äußerste Erwägung oder Maßnahme bezeichnet. In dieser Formulierung kommt sachgemäß zum Ausdruck, daß Gewaltanwendung zum Schutz des Friedens ethisch gesehen den Grenzfall darstellt. Es ist darüber zu wachen, daß der Grenzfall wirklich Grenzfall bleibt. Denn das Offenhalten dieses Grenzfalls kann dazu führen, daß die Gewichte des politischen Handelns verschoben werden und der Einsatz militärischer Gewalt alles Interesse auf sich zieht und zum vorrangigen Thema der Politik wird. Eine ultima ratio, die faktisch über die politische ratio regiert, hört auf, ultima ratio zu sein.
- In der Formulierung "ultima ratio" steht "ultima" im übrigen nicht zeitlich für ein zuletzt eingesetztes, sondern im Rahmen nüchterner friedenspolitischer Abwägung qualitativ für ein nach dem Maß der ausgeübten Gewalt "äußerstes" Mittel. Für die Wirksamkeit der Abschreckung ist es gerade wesentlich, daß sie nicht zu spät kommt. Die von der Synode des BEK vollzogene "Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung" galt der zu einer chronischen Konfliktstruktur geronnenen nuklearen Abschreckung. Das Instrument der Abschreckung als solcher hingegen ist wie in anderen Konfliktbereichen, in denen Strafen oder Sanktionen angedroht werden, so auch bei der Bewahrung des Friedens ein prinzipiell nötiges und konkret zu prüfendes Mittel. Dieses Instrument zielt darauf, daß Gewalt nicht tatsächlich eingesetzt werden muß. Sein Funktionieren setzt freilich voraus, daß die fallspezifische Drohung mit dem Einsatz militärischer Gewalt glaubwürdig ist.
3. Vom "gerechten Krieg" zum Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen
Führen die skizzierten Grundlinien einer evangelischen Friedensethik geradenwegs zur Wiederbelebung der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg? Dies ist keineswegs der Fall. Die Fragen, die in der Lehre vom gerechten Krieg verhandelt wurden, bleiben allerdings relevant, und gewichtige Elemente müssen in modifizierter Weise auch in einer evangelischen Friedensethik aufgenommen werden. Dazu gehört insbesondere, ob der Einsatz militärischer Gewalt, der im Prinzip verwerflich ist, gleichwohl ethisch und rechtlich als Ausnahmefall, als Grenzfall gerechtfertigt und wie die Verhältnismäßigkeit in der Gewaltanwendung gewahrt werden kann. Aber der Lehre vom gerechten Krieg insgesamt ist, wie ein Blick auf ihre Entwicklung in Ethik und Völkerrecht zeigt, aus guten Gründen der Abschied gegeben worden.
- Grundlage der klassischen Lehre vom gerechten Krieg, die sich als eine Zusammenfügung römischer Staatsphilosophie (Cicero) und christlicher staatskirchlicher Ethik (Augustin, Thomas von Aquin) darstellt, war ein allseits als objektiv verstandenes Wertsystem, das die Maßstäbe dessen, was "gerecht", "gut" und "böse" war, vorgab. Nur auf dieser Grundlage konnte diese Lehre die intendierte Beschränkung (Einhegung) des Krieges und seiner willkürlichen Instrumentalisierung leisten.
- In diesem Sinne hat die Lehre vom gerechten Krieg das Völkerrecht allerdings nur in seinen frühesten Anfängen geprägt. Bereits im 16. Jahrhundert setzt bei den sogenannten Vätern des Völkerrechts eine Ausdifferenzierung der Gerechtigkeitskriterien - und damit deren Relativierung - ein, die im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert in der Formel des "bellum iustum ex utraque parte", d. h. des auf beiden Seiten mit dem Anspruch der Rechtfertigung geführten Krieges gipfelt. Dies bedeutete nichts anderes als die fortschreitende Trennung von rechtlichen und ethischen Kriterien.
Mit der Entstehung einer von souveräner Territorialstaatlichkeit geprägten internationalen Ordnung ist die Trennung von positivem Recht und Ethik im Völkerrecht vollständig vollzogen. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts wendet sich die Völkerrechtsordnung von der in der Lehre vom gerechten Krieg angelegten Einhegung und Beschränkung kriegerischer Gewaltanwendung sowohl auf der Ebene der Auslösung von Kriegen als auch auf der Ebene ihres Austragungsmodus (Kriegsvölkerrecht/"Recht der bewaffneten Konflikte": ius in bello) ab und erkennt, dem Souveränitätsverständnis der Zeit entsprechend, das freie Kriegsführungsrecht (liberum ius ad bellum) an. Dieses Recht wird zentrales Charakteristikum des souveränen Staates. Die Rechtmäßigkeit des Krieges wird nur noch nach der Einhaltung rechtlich vorgegebener Verfahrensregeln bei seinem Beginn und der Beachtung des Kriegsvölkerrechts beurteilt. - Die Perfektionierung der Waffentechnik und die damit verbundene Totalisierung der Kriegsführung im ausgehenden 19. Jahrhundert führen dann jedoch zu einer radikalen Hinterfragung des freien Kriegsführungsrechts und zur Forderung der Illegalisierung des Krieges als Mittel der Politik durch die Friedensbewegung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zumal das Kriegsvölkerrecht angesichts der gesteigerten Kriegsmittel eine die Gewaltanwendung einhegende Kraft nicht mehr nachhaltig entfalten konnte.
Unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges findet diese Forderung einen ersten Eingang in die Völkerrechtsordnung mit dem relativen Kriegsverbot in der Völkerbundssatzung (Art. 11-13). Dieses relative Kriegsverbot wird durch den Briand-Kellogg-Pakt von 1928 zu einem Verbot des Angriffskrieges erweitert, das nach herrschender Auffassung schon vor Beginn des 2. Weltkrieges auch völkergewohnheitsrechtliche Anerkennung gefunden hat.
Ein tiefgreifender Wandel in der Beurteilung des freien Kriegsführungsrechts, des Krieges und darüber hinaus jeder Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung in den internationalen Beziehungen vollzieht sich unter dem Eindruck des 2. Weltkrieges mit dem Inkrafttreten der Charta der Vereinten Nationen (ChVN). Von der Zielsetzung her sind das in der Charta der Vereinten Nation enthaltene Gewaltverbot und das zu seiner Durchsetzung vorgesehene Instrumentarium dem Verbot der Fehde und der Monopolisierung der Rechtsdurchsetzungsgewalt beim Staat vergleichbar. - Das umfassende Gewaltverbot des Art. 2 (4) ChVN bedeutet nicht nur die Illegalisierung des Angriffskrieges, sondern jeder Anwendung oder Androhung von Gewalt in den internationalen Beziehungen. Nur die individuelle oder kollektive Selbstverteidigung (Art. 51 ChVN) sowie die - auch gewaltsame - Abwehr von Aggressionen, Friedensbrüchen und -bedrohungen durch die Organisation der Vereinten Nationen selbst bleiben zulässig.
Die in diesen Ausnahmen scheinbar zu Tage tretende Übereinstimmung mit der auf die Legitimität des Verteidigungskrieges bzw. ein Recht zum Verteidigungskrieg reduzierten Lehre vom gerechten Krieg besteht faktisch nicht. Weder ist mit dem Entstehen der Vereinten Nationen eine - der frühmittelalterlichen vergleichbare - universale objektive Wertordnung, die notwendige Voraussetzung dieser Form der Lehre vom gerechten Krieg ist, wiedererstanden, noch sieht die Charta der Vereinten Nationen die im Wege der Selbstverteidigung angewandte Gewalt als für sich schon rechtmäßig ("gerecht") an. Diese Gewaltanwendung gilt vielmehr als den allgemeinen Umständen nach rechtswidrige, jedoch durch rechtlich umschriebene Kriterien ausnahmsweise gerechtfertigte Handlung. Die Selbstverteidigung ist Notwehr gegen eine strafbare rechtswidrige Handlung, in diesem Fall die aggressive Anwendung oder Androhung von Gewalt. Als Notwehrhandlung unterliegt die Selbstverteidigung dem positivrechtlich im Völkerrecht geltenden Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Das Recht der Selbstverteidigung als Notwehr und seine Unterwerfung unter das Gebot der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips sind von den Grundlagen her kategorial von dem Verteidigungskrieg und den ihn begrenzenden Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg verschieden.
Die von der Charta der Vereinten Nationen neben der Selbstverteidigung vorgesehene kollektive Gewaltanwendung zur Abwehr von Friedensbrüchen oder -bedrohungen ist als Ausübung internationaler Polizeigewalt zur Rechtsdurchsetzung konzipiert. Auf sie ist dementsprechend die Lehre vom gerechten Krieg ebensowenig anwendbar. Jedoch gilt auch für die gewaltsame kollektive Rechtsdurchsetzung das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, wie dies auch im innerstaatlichen Recht für polizeiliches Vorgehen der Fall ist.
Gerade die militärischen Konflikte, die in jüngster Zeit neu entstanden sind, nötigen dazu, den Einsatz militärischer Gewalt nicht länger im Rahmen einer Lehre vom gerechten Krieg als politische Normalität zu verstehen, vielmehr die politischen Anstrengungen zur Überwindung des Krieges als einer Institution zwischenstaatlichen Konfliktaustrags zu verstärken. Dies bedeutet zugleich die Absage an den traditionellen, nicht näher bestimmten und daher leicht mißbrauchbaren Gedanken vom Krieg als Mittel der Politik, so sehr der Einsatz militärischer Gewalt bis heute in dem beschriebenen Sinne für die Selbstverteidigung und für die Ausübung internationaler Polizeigewalt ein prinzipiell nötiges Mittel der Politik bleibt.
4. Zum Verhältnis von Waffendienst und Kriegsdienstverweigerung
In der Gemeinschaft der Kirche lebten und leben Christen zusammen, die im Horizont der Verheißung, daß Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, gleichwohl als Soldaten in der Konsequenz politischer Verantwortung zum Einsatz militärischer Gewalt bereit sind, als Kriegsdienstverweigerer es aber für sich ablehnen, Waffengewalt anzuwenden, und mit diesem Zeichen für eine Welt ohne Waffen eintreten.
- Unter den Bedingungen des Systems nuklearer Abschreckung hatten sich in der evangelischen Kirche kontroverse Positionen zum Verhältnis von Waffendienst und Kriegsdienstverweigerung herausgebildet.
Die eine Seite argumentierte so: Die Einberufung in den Frieden Christi führt Kirchen und Christen auf gewaltfreie Wege des Friedensdienstes. Das Friedenszeugnis der Kirche nimmt darum in den verschiedenen Entscheidungen gegenüber Waffendienst und Kriegsdienstverweigerung nicht in gleicher Deutlichkeit Gestalt an. Wer heute als Christ das Wagnis eingeht, in einer Armee Dienst mit der Waffe zu tun, muß bedenken, ob und wie er damit der Verringerung und Verhinderung der Gewalt und dem Aufbau einer internationalen Ordnung des Friedens und der Gerechtigkeit dient. Die Kirche sieht in der Entscheidung von Christen, den Waffendienst oder den Wehrdienst überhaupt zu verweigern, einen Ausdruck des Glaubensgehorsams, der auf den Weg des Friedens führt.
Die andere Seite argumentierte demgegenüber so: Die Kirche kann keiner der beiden Entscheidungen einen Vorrang oder eine Überlegenheit zuerkennen. Ihre Aufgabe ist es, darauf hinzuweisen, daß die Entscheidung in beiden Fällen vor dem Gewissen zu verantworten ist. Sie muß Soldaten wie Kriegsdienstverweigerer beharrlich an die Verantwortung erinnern, die das Friedensgebot Gottes allen gleichermaßen auferlegt. Diese Erinnerung ist auch gegenüber denen nötig, die als politisch und militärisch Verantwortliche über Auftrag und Einsatz der Armee entscheiden. Ob jemand Soldat wird oder den Kriegsdienst verweigert, ist eine Frage politischer Ethik. Jeder ist seinem, in Gottes Wort gebundenen, Gewissen verantwortlich. Niemand kann sicher sein, daß sein Weg zum Ziel der Bewahrung des Friedens führt. - Unter den heute gegebenen politischen Bedingungen kann und muß das Verhältnis zwischen Waffenanwendung und Waffenverzicht aber neu bestimmt werden. Eben dies wird in den oben skizzierten Grundlinien einer evangelischen Friedensethik unternommen. Dabei zeigt sich eine Perspektive, in der die frühere Kontroverse überwunden werden kann.
Die Verhältnisse, unter denen die Politik der Aufgabe gerecht werden kann, der Verringerung und Verhinderung der Gewalt und dem Aufbau einer Ordnung des Friedens und der Gerechtigkeit zu dienen, haben sich gewandelt. Sie ist dafür an Wege präventiver und gewaltfreier Konfliktregulierung, an die Anwendung von Zwang unterhalb der Schwelle militärischer Kampfhandlungen, im Grenzfall auch an den Einsatz militärischer Gewalt gewiesen. Eine "vorrangige Option für die Gewaltfreiheit", die sich verantwortungsethisch versteht und sich darum zur Verantwortung für den Schutz von Gewaltopfern bekennt, und der Grenzfall des Einsatzes präventiv bereitgehaltener militärischer Gewalt schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind notwendige Bestandteile einer auf der Herrschaft des Rechts gegründeten internationalen Friedensordnung. Die Kirche kann dementsprechend weder den Waffendienst noch den gewaltfreien Friedensdienst exklusiv vertreten. Sie muß den aus christlicher Verantwortung übernommenen Dienst der Soldaten anerkennen und seelsorgerlich begleiten. Sie darf aber auch den gewaltfreien Friedensdienst nicht lediglich dem Gewissen des einzelnen anheimstellen, sondern muß den Aufbau und Ausbau von Friedensdiensten in Kirche und Gesellschaft begleiten und unterstützen.
Es gibt allerdings weiterhin eine aus dem christlichen Glauben begründete prinzipielle Entscheidung, den Einsatz militärischer Gewalt unter allen Umständen für sich persönlich abzulehnen und ethisch zu verwerfen. Die Kirche wird eine solche Entscheidung des Gewissens achten und den bestehenden rechtlichen Schutz uneingeschränkt verteidigen. Sie hat dazu um so mehr Grund, als auch unter den gewandelten Verhältnissen die Einsicht Bestand hat: Nur gemeinsam, und zwar nicht nur in gegenseitiger Freigabe, sondern erst im Bezug aufeinander sind die Bereitschaft zum Einsatz militärischer Gewalt und die Gesinnung unbedingter Gewaltfreiheit ein angemessenes Zeugnis für das Friedensgebot Gottes und damit indirekt für den christlichen Glauben. Gemäß dieser Einsicht tritt die Kirche dafür ein, Waffenanwendung und Waffenverzicht als Handlungsweisen von Christen aufeinander zu beziehen: Die Soldaten sind auf die Kriegsdienstverweigerer und die Friedensdienste angewiesen, damit ihr Handeln als Ausdruck der politischen Verantwortung von Christen wahrgenommen und nicht als ein Sich-Abfinden mit dieser Welt fehlinterpretiert wird; die Kriegsdienstverweigerer und die Friedensdienste sind aber auch auf die Soldaten angewiesen, damit ihr Handeln als Zeugnis christlicher Hoffnung verstanden und nicht als Ausdruck der fehlenden Solidarität mit den Opfern von Gewalt und Friedensbruch mißdeutet wird.