Schritte auf dem Weg des Friedens
I.Woher kommen wir?
Einsichten nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation
Tiefgreifende politische Veränderungen in Europa haben das Ende des Ost-West-Konflikts herbeigeführt, der jahrzehntelang die Sicherheitspolitik beherrscht hat. Unsere Köpfe und Herzen waren in dieser Zeit bewegt von der Frage, auf welchen Wegen die Konfrontation so geregelt und ausgetragen werden kann, daß es nicht zum Krieg kommt. Die Auflösung der Ost-West-Konfrontation, die noch vor wenigen Jahren von niemandem so rasch und so friedlich erwartet wurde, ist Grund zu Dank und Besinnung.
Unter den Bedingungen des bipolaren Systems nuklearer Abschreckung herrschte in Europa relative politische Stabilität. Die Möglichkeit gegenseitiger Vernichtung wirkte hier als Zwang zum Gewaltverzicht. Die Existenz der nuklearen Abschreckung hat dazu beigetragen, daß es zu keinem Einsatz militärischer Gewalt im Ost-West-Konflikt gekommen ist. Aber der Preis für diese Stabilität war hoch. Dazu zählten der kaum zu bremsende Rüstungswettlauf, die politischen Zwänge der Blockkonfrontation, die Konfliktverschärfung durch die Entstehung von Feindbildern, die politische Zurückhaltung gegenüber den Kräften, die auf die Überwindung der staatlichen Repression in der östlichen Hemisphäre drängten, und die unheilvolle, auch verstärkende Beeinflussung von kriegerischen Konflikten in anderen Regionen der Welt. Insbesondere aber bestand das reale Risiko einer nuklearen Katastrophe. Gerade im Rückblick erkennen wir, welche Befürchtungen im Angesicht potentieller nuklearer Kriegsgefahr Menschen in Ost und West alltäglich beherrscht haben, welche äußeren und inneren Belastungen die Teilung Deutschlands im Banne der Ost-West-Konfrontation mit sich gebracht hat und welche Bedrängnisse für die geteilte Kirche vor allem im östlichen Teil Deutschlands zu bestehen waren. Wir haben Grund, dankbar zu sein, daß diese Befürchtungen, Belastungen und Bedrängnisse weithin der Vergangenheit angehören.
Das Gefühl der Erleichterung und des Dankes darf jedoch nicht dazu verleiten, die Entwicklungen der zurückliegenden Jahrzehnte, die dabei sichtbar gewordenen Differenzen und die offengebliebenen Fragen auf sich beruhen zu lassen. Wer heute keine Anstrengungen unternimmt, zu Klärungen zu gelangen, riskiert, daß es zur Wiederholung alter Konflikte kommt. Wir haben Grund, die notwendige Besinnung ohne Rechthaberei und nachträgliche Umwertung freimütig wahrzunehmen, um miteinander angesichts neuer Herausforderungen einen neuen Anfang zu machen. Dies bezieht sich schon darauf, welche tiefen Gegensätze zwischen uns, gerade auch in der evangelischen Kirche, aufgebrochen sind über die geistliche, theologische und ethische Einschätzung der politischen Situation und der friedensethischen Aufgaben in der Zeit der seinerzeitigen Ost-West-Konfrontation, welche Urteile von den miteinander streitenden Positionen in bestimmten Situationen über die strittige Sicherheitspolitik und dabei die jeweils andere Position gefällt worden sind und welche Anstrengungen es gekostet hat, dennoch beieinander zu bleiben. Die Besinnung muß sich aber ebenso auf die Versäumnisse der Vergangenheit richten, daß nämlich
- die Diskussion und das politische Handeln auf die internationale Gewaltanwendung, vorrangig in der Erscheinungsform der Konfliktaustragung zwischen Staaten und Bündnissystemen, fixiert waren,
- die politischen und rechtlichen Aspekte einer internationalen Friedensordnung hingegen nur mangelhaft Berücksichtigung fanden,
- die Möglichkeiten und Ansätze ziviler Konfliktbearbeitung kaum aufgegriffen und ausgebildet wurden und
- der Nord-Süd-Konflikt sowie die Bedrohung der natürlichen Grundlagen des Lebens in den Schatten der alles beherrschenden nuklearen Bedrohung traten und auch deshalb heute unabgelöste Hypotheken für die Friedensbewahrung bilden.