Schritte auf dem Weg des Friedens
Anhang A: Kundgebung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Friedensverantwortung
Auf ihrer 4. Tagung vom 7. bis 12. November 1993 in Osnabrück hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland folgenden Beschluß gefaßt und ihn gemäß den entsprechenden Bestimmungen der Geschäftsordnung als "Kundgebung" verabschiedet:
Durch das Ende des bipolaren Abschreckungssystems sowie die neuen polyzentrischen Konfliktszenarios hat sich die politische Situation und die Friedensverantwortung unserer Kirche tiefgreifend verändert. Kontinuität und Auftragstreue des Friedenszeugnisses und Dienstes der Kirchen müssen sich im Eingehen auf die neuen Herausforderungen bewähren.
-
Das nukleare Abschreckungssystem zwischen West und Ost gehört zwar der Vergangenheit an. Viele seiner Folgen aber sind präsent, und sein Wiedererstehen in anderen Konfliktfeldern ist eine Gefahr. Die Frage, wie sich Kirche und Christen zur Friedenssicherung durch nukleare Abschreckung verhalten sollen, hatte in unseren Kirchen zu tiefen Differenzen geführt. Gemeinsam haben 1985 EKD und BEK erklärt: "Gemeinsam sind wir überzeugt, daß das System der nuklearen Abschreckung kein dauerhafter Weg zur Friedenssicherung sein kann, sondern unbedingt überwunden werden muß." Auf der Linie dieses Konsenses müssen unsere Kirchen heute für folgendes eintreten:
- Die Abrüstungsverhandlungen müssen fortgesetzt werden, nicht zuletzt deswegen, weil große Potentiale an Massenvernichtungsmitteln vorhanden sind und nach Auflösung der Sowjetunion im Osten außer Kontrolle zu geraten drohen.
- Reiche Staaten wie Deutschland müssen Abrüstungs- und Konversionshilfe als neues Aufgabenfeld in ihre Sicherheitspolitik einbeziehen. Der Nichtverbreitungsvertrag muß verlängert, gestärkt und erweitert werden; ein umfassender Teststop muß geltendes Völkerrecht werden.
- Auch Frankreich, Großbritannien und die Volksrepublik China sowie nukleare Schwellenländer müssen ihren Beitrag zur nuklearen Abrüstung leisten.
- Auch wenn das nukleare Element nicht mehr im Vordergrund des neuen strategischen Konzepts der NATO steht, wurde die Option eines Ersteinsatzes nuklearer Waffen beibehalten. Wenn die NATO selbst von einer "Strategie des Übergangs" spricht, müssen die Kirchen weiterhin die Überwindung von Verhältnissen fordern, in denen die nukleare Abschreckung wirksam ist.
- Da die Bundeswehr in NATO und WEU in die Kooperation mit nuklear bewaffneten Armeen eingebunden ist, bleibt der Atompazifismus auch für Soldaten der Bundeswehr eine existentielle Frage und ein Gewissenskonflikt. Bis zu der von den Kirchen geforderten Überwindung der Abschreckung muß die Bundeswehr Wege finden, Soldaten entsprechend ihrer Gewissensüberzeugung zu integrieren und nicht zu diskriminieren.
- Angesichts von Gefahren ist es dringend notwendig, daß ein kooperatives und kollektives Sicherheitssystem aufgebaut wird. Christen und Kirchen müssen verhindern helfen, daß ein neues, allein am Fundamentalismus orientiertes "Feindbild Islam" entsteht, und durch Zusammenleben und interreligiösen Dialog zu einer interkulturellen und interreligiösen Verständigung beitragen.
Für jeden Konflikt und jeden Antagonismus gilt die Einsicht, die EKD und BEK 1985 gegenüber den Regierungen der beiden deutschen Staaten aussprachen: "Sicherheit kann heute nur noch in gemeinsamer Sicherheit liegen."
- Wir stehen heute vor einer großen Zahl regionaler Konflikte, die mit Waffengewalt ausgetragen werden. Zwar bleiben sie unterhalb der Schwelle der ABC-Waffen, aber sie ziehen die Zivilbevölkerungen mit erschreckender Brutalität in Mitleidenschaft. Wir dürfen diese Vorgänge nicht so deuten, als dürfe der Krieg als Mittel der Politik nach Europa zurückkehren und als hätten wir uns an Krieg als Normalität zwischenstaatlicher Konfliktaustragung wieder zu gewöhnen.
Die Forderung, den Krieg als Mittel der Politik zu überwinden, hatte angesichts der Massenvernichtungswaffen hohe politische Plausibilität gewonnen. Gerade jetzt ist diese Forderung als Leitlinie politischen Handelns festzuhalten. Sie weist uns an den Aufbau einer internationalen Friedensordnung, die die Stärkung des Rechts an die Stelle des Rechts des Stärkeren setzt. Die in den gegenwärtigen Konflikten offenkundigen Schwächen der Organisation der Vereinten Nationen und der KSZE dürfen uns nicht in die Resignation treiben und zum Vorwand für einen Rückfall in partikulares und nationalstaatliches Denken werden.
Zwar gelten dafür die in der Lehre vom gerechten Krieg für das Recht im Kriege (ius in bello) entwickelten Kriterien, aber die in der Charta der Vereinten Nationen und in der "Agenda für den Frieden" des UN-Generalsekretärs vorgesehenen Maßnahmen zur Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens sind nicht im Rahmen einer Lehre vom gerechten Krieg zu verstehen. Sie fordern, die politischen Anstrengungen zur Überwindung des Krieges als Institution zwischenstaatlicher Konfliktaustragung zu verstärken.
In den achtziger Jahren hat sich in EKD und BEK der Konsens herausgebildet, daß der Friedenssicherung und Friedensförderung auf gewaltfreiem und politischem Wege Priorität zukommt: "Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern ist das Gebot, dem jede politische Verantwortung zu folgen hat." (EKD-Friedensdenkschrift 1981) Diesem Friedensgebot sind alle politischen Aufgaben zugeordnet. In der Zielrichtung christlicher Ethik liegt nur der Friede, nicht der Krieg. So setzt sich die Friedensdenkschrift dafür ein, "... den Vorrang einer umfassenden politischen Sicherung des Friedens vor der militärischen Rüstung wiederzugewinnen." Der Bund der Evangelischen Kirchen und die ökumenische Versammlung der Kirchen in der DDR haben die Entwicklung einer Lehre vom gerechten Frieden gefordert und eine vorrangige Option für Gewaltfreiheit und gewaltfreie Wege des Friedensdienstes ausgesprochen. Aus ihrer Friedensverantwortung heraus hat die Kirche von der Politik den Vorrang für eine ursachenorientierte, präventive und gewaltfreie Konfliktbearbeitung zu fordern.
Die Diskussion um die Stärkung und Reform der UNO darf sich nicht auf die Frage reduzieren, ob die UNO ein militärisches Interventionsmonopol aufbauen kann. In der Diskussion um die neue friedenspolitische Aufgabe des vereinten Deutschlands entstand der Eindruck, als habe die Frage nach neuen Aufgaben und einer neuen. Legitimation der Bundeswehr Vorrang vor den Erfordernissen einer neuen Friedenspolitik. Die erste Sorge muß einem wirtschaftlichen Ausgleich zwischen Arm und Reich auf dem Wege zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung gelten. UNO und NATO müssen aus dem Zwielicht, politisches Instrument der reichen und mächtigen Staaten zur Kontrolle der wirtschaftlich schwachen und abhängigen zu sein, herausgeführt werden.
- Der Friedensverantwortung Deutschlands nach außen muß die Verantwortung für Frieden und Friedensfähigkeit im Inneren entsprechen. Nur so kann der Beitrag Deutschlands zum Frieden in der Völkerwelt gelingen und glaubwürdig sein.
So sind Feindschaft und Gewalt gegen Ausländer, Minderheiten und Randgruppen sowie Erscheinungen von Antisemitismus und Rechtsextremismus nicht nur mit den Mitteln des Rechtsstaates zu bekämpfen, sondern in ihren Wurzeln zu erkennen und zu überwinden.
Das Asyl- und Einwanderungsrecht ist so zu gestalten, daß es nicht einer Mentalität der Abschottung Ausdruck und Nahrung gibt.
Die Besinnung auf die nationale Identität der Deutschen darf nicht auf die Fiktion eines homogenen völkischen Staates zielen, sondern muß diese Identität in einer kulturell offenen Republik bewähren.
Die wachsenden sozialen Konflikte müssen im Geist demokratischer Streitkultur und Solidarität gelöst werden.
Die Schuld, die Deutschland in der Vergangenheit gegenüber anderen Völkern auf sich geladen hat, erfordert eine besondere Sensibilität gegenüber Völkern, die von deutscher Machtpolitik betroffen waren, eine besondere Zurückhaltung gegenüber allem, was nach einem deutschen Interventionismus aussehen kann, und eine besondere Verantwortung für gewaltfreie Wege der Konfliktregulierung.
- Das Dilemma militärischer Friedenssicherung im nuklearen Abschreckungssystem lag darin, daß der Einsatz von Kernwaffen, mit dem gedroht wurde, theologisch und ethisch nicht zu rechtfertigen war und das Scheitern des Systems bedeutet hätte.
Die gegenwärtigen regionalen Konflikte stellen uns vor neue Herausforderungen, die auch zu neuen friedensethischen Differenzen in der Kirche geführt haben.
Die einen sagen, daß die vorrangige Option für Gewaltfreiheit den Grenzfall des Einsatzes militärischer Gewalt nicht ausschließt. Denn der Schutz der Opfer von Gewalt kann die Präsenz und den Einsatz militärischer Gegengewalt notwendig machen.
Die anderen (die "prinzipiellen Pazifisten") widersprechen dem Einsatz militärischer Mittel unbedingt. Sie machen geltend, daß Gewalt auch als Gegengewalt und im Dienst der Lebensbewahrung Leben zerstört, daß es positive Beispiele für deeskalierende, friedensfördernde militärische Interventionen kaum gibt und daß der Grenzfall - gesteht man ihn erst einmal zu - faktisch zum Normalfall wird.
Beide, die vorrangige wie die unbedingte Option für Gewaltfreiheit führen aber zusammen in die tätige Verantwortung dafür, daß alle Handlungsspielräume entwickelt und genutzt werden, um Konflikte ursachenorientiert, präventiv und gewaltfrei zu bearbeiten, so daß der Grenzfall militärischer Einsätze wirklich Grenzfall bleibt.
Für die Kirche bedeutet dies gegenwärtig, vorrangig die vorhandenen, im Aufbau und in der Diskussion befindlichen Friedensdienste zu fördern.
Schon 1969 forderte die Kammer für Öffentliche Verantwortung "zusätzliche Investitionen auf dem Gebiet der Friedensdienste". "Die Kirche wird diese Aufgabe der Öffentlichkeit bewußt machen und selbst konkrete Initiativen entfalten müssen." Die Kirche wird "Anregungen für die Förderung der Friedensdienste unabhängiger Verbände und nötigenfalls für die Einrichtung staatlicher Friedensdienste geben können." "Die Christen und die kirchlichen Organe in der Bundesrepublik müssen ihre volle Aufmerksamkeit darauf richten, daß diese neuartigen Aufgaben von Abgeordneten, Parlamenten, Ministerien und in der Öffentlichkeit nachdrücklich vertreten und in Angriff genommen werden." (Werner Danielsmeyer (Hg.), Der Friedensdienst der Christen, Gütersloh 1970, S. 128)
So bittet die Synode den Rat der EKD und die Gliedkirchen, die christlichen Friedensdienste engagiert zu unterstützen und umfassend zu fördern und dahingehend zu wirken, daß ein eigenständiger Dienst am Frieden und an der Gesellschaft aufgebaut wird.
Die Synode erwartet von den in der Politik Verantwortlichen, zur Bewältigung internationaler Konflikte vorrangig nicht-militärische Instrumente zu fördern und weiterzuentwickeln. Dazu gehören:
- die Stärkung der demokratischen Strukturen und der Zuständigkeiten der UNO, wobei zunehmend das internationale Gewaltmonopol angestrebt werden sollte;
- die Bildung regionaler Konferenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit;
- die Stärkung nicht-staatlicher Organisationen in diesen Bereichen;
- die Präzisierung der Instrumente wirtschaftlicher und anderer Sanktionen;
- die Begrenzung von Waffenhandel und Rüstung - auch in der Dritten Welt;
- der Einsatz der Friedensdividende für strukturelle Veränderungen dort und der Ausbau partnerschaftlich vereinbarter Entwicklungshilfe usw.
Konzeptionen dafür hat z. B. die Stockholmer Initiative zu globaler Sicherheit und Weltordnung im Mai 1991 vorgelegt.
-
Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Nicht nur die mit Waffengewalt betriebene Austragung von Konflikten, sondern auch eine angemaßte "Rettung" Bedrohter und eine angemaßte Bestrafung von Aggressoren fallen unter dieses Verdikt. Selbsternannte Retter wissen ihre eigenen Interessen zu verfolgen; ihr Eingreifen kann gewollt oder ungewollt zu einem Vorwand werden.
Eine wichtige ethische Frage ist die Notsituation eines von unsäglichem Leiden und Tod gepeinigten Volkes, das ohne Hilfe zu lassen offenkundig unverantwortlich wäre.
- Es ist ethisch nicht vertretbar, einer Vergewaltigung zuzusehen.
- Es ist ethisch nicht vertretbar, den Dingen ihren Lauf zu lassen, wenn unschuldige und unbeteiligte Menschen vor aller Augen in unglaublicher Weise schrecklichsten Peinigungen ausgesetzt oder hingemetzelt werden.
- Es ist ethisch nicht vertretbar, für solche Fälle keine Möglichkeiten einer raschen und wirksamen Hilfe vorzusehen.
Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte hat diese Einsicht viele dazu bewogen, die Frage internationaler Einsätze der Bundeswehr (von Hilfseinsätzen bis zu Kampfeinsätzen) unter einem Mandat der UNO zur Hilfe für notleidende und bedrängte Menschen und Völker aufzuwerfen. Strittig ist dabei vor allem die Frage, ob sich die Bundeswehr an Kampfeinsätzen beteiligen darf und soll. Bedeutet ein solcher Einsatz nicht, daß die Bundesrepublik Deutschland die Rückkehr des Krieges als Mittel der Politik akzeptiert?
An dieser Stelle geht es zunächst um die Frage des Grenzfalls, nämlich ob sich die Bundeswehr an internationalen Einsätzen im Rahmen eines UNO-Mandats beteiligen soll, um schwere und systematische Verletzungen grundlegender Menschenrechte in fremden Ländern zu stoppen. Auf diesen auch in der Stuttgarter Erklärung des konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung "Gottes Gaben - unsere Aufgabe" benannten Punkt spitzt sich die Frage zu. Ungeachtet dessen bestehen die grundsätzlichen Fragen eines deutschen Beitrages zu einer internationalen Friedensordnung fort.
Im Blick auf die Positionen, die im Raum unserer Kirche zu Fragen der internationalen Friedensverantwortung vertreten werden, gilt es zu unterscheiden:
- Erlittenes Unrecht im Sinne der Bergpredigt selbst hinzunehmen und zu ertragen ist das eine - den Nächsten aber in Gefahr für Leib und Leben grundsätzlich ohne Schutz und Hilfe zu lassen, ist das andere.
- Auf militärische Gewalt in allgemeiner Weise als Mittel zur Verhinderung von Aggression zu setzen ist das eine - sich militärische Gewalt als ultima ratio vorzubehalten, von nichtmilitärischen Formen des Drucks, der Deeskalation und gewaltfreien Mitteln weitestgehend Gebrauch zu machen und den Grenzfall des militärischen Einsatzes wirklich Grenzfall sein zu lassen, ist das andere.
- Für das eigene Land eine Mitbeteiligung an internationalen militärischen Konflikten zu fordern (bis hin zu Kampfeinsätzen) ist das eine - jedoch internationale Vorkehrungen zu treffen und Grundlagen zu schaffen, daß den Opfern von Unrecht und Gewalt geholfen und Leben von Menschen erhalten werden kann, ist das andere.
- Auf die Ermöglichung von militärischem Eingreifen in internationalen Krisenherden zu dringen ist das eine - auf die Schaffung fundierter Grundlagen zur Hilfe für Menschen, die unter Unrecht und Gewalt in unerträglicher Weise leiden, zu setzen und auf solcher Grundlage selbstlos zu helfen, ist das andere.
Menschenrechtsverletzungen sind eine grausame Realität in unserer Welt. Sie gehen uns alle an. Sie sind nicht eine innere Angelegenheit des Einzelstaates, sondern der gesamten Staatengemeinschaft. Das hat der Internationale Gerichtshof bereits vor Jahren festgestellt. Einzelstaatliche Souveränität darf nicht als Schutzwall mißbraucht werden, hinter dem unveräußerliche Menschenrechte verletzt werden. Hier erleben wir zur Zeit eine Weiterentwicklung des Völkerrechts. Umfassender Rechtsschutz unter internationaler Kontrolle für ethnische und andere Minderheiten ist Voraussetzung für eine dauerhafte und friedliche Verwirklichung der Selbstbestimmung der Völker nach innen und außen. Das humane Überleben verlangt eine Überwindung von Denkweisen und Strukturen der Vergangenheit. Notwendig ist eine ehrliche, harte Arbeit an konzeptionell orientierten, langfristigen Lösungsvorschlägen und Beiträgen, wie die Weltgeschichte in Zukunft mit ihren Problemen fertig wird: Bewahrung der Schöpfung, Gerechtigkeit und Frieden (Richard von Weizsäcker).
In der Geschichte der Nationalstaaten wurde ein Abbau von Gewalt und die Überwindung des eigenmächtigen Faust- und Fehderechts von Individuen und Gruppen erreicht durch
- Monopolisierung der Gewalt in der Hand des Staates,
- teilweisen Souveränitätsverzicht der Bürger,
- Schutz von Leib, Leben und Eigentum sowie Aufrechterhaltung der Ordnung durch eine eigens dafür geschaffene Institution,
- Strafandrohung des Staates an potentielle Rechtsbrecher,
- kontrollierten Einsatz von Waffengewalt auf der Grundlage des Rechts durch eine (im demokratischen Staat parlamentarisch kontrollierte) Polizei.
Es ist wenig wahrscheinlich, daß in absehbarer Zeit eine vergleichbare Entwicklung für die Völkergemeinschaft erreicht werden kann, denn es geht hier um einen zeitlich nicht abzuschätzenden, geschichtlichen Prozeß
- der Entwicklung einer internationalen Rechtsordnung mit internationalen Gerichten und Sanktionsmöglichkeiten,
- des Souveränitätsverzichts der Staaten,
- des Aufbaus einer internationalen (Polizei-) Eingreiftruppe und ihrer schnellen Präsenz in Krisenregionen.
Das utopisch erscheinende Fernziel entbindet uns aber nicht von der Pflicht, bereits heute mit der Bereitschaft zu langem Atem in einem Prozeß von Näherungsschritten zur Gewalteindämmung beizutragen. Nur im Rahmen eines solchen Anliegens, die Anwendung militärischer Gewalt konsequent und umfassend zu monopolisieren und auf den Grenzfall der ultima ratio einzugrenzen, ist die Drohung mit und der Einsatz von militärischer Gewalt ethisch noch vertretbar. Eine derartige strikte Eingrenzung meint im Kern eine Absage an die Gewalt und unterstreicht die vorrangige Option für Gewaltfreiheit.
Ein internationaler Ad-hoc-Konsens über den Einsatz militärischer Gewalt durch Streitkräfte der UNO-Mitglieder gegen einen Aggressor ist nicht bereits identisch mit einer solchen Monopolisierung des Einsatzes von Gewalt. Recht und rechtsprechende Gerichte lassen sich nicht durch Ad-hoc-Übereinkünfte einer Ansammlung von Staaten ersetzen. Ein solcher für einen Einzelfall erzielter Konsens der Völker zu einem internationalen Kampfeinsatz setzt immer zugleich pragmatisch-opportunistische Rücksichtnahmen voraus. Gemeinsame Bestrafungsaktionen von Staaten gegen einen Aggressor sind nicht weniger problematisch als gemeinsame Bestrafungsaktionen von Privatpersonen gegen einen meuchelnden Nachbarn. Sie können rasch zum Vorwand und zu einem Akt angemaßter Ordnungsbefugnis werden, sich mit bestimmten Interessen verquicken und eine Interventionsmentalität fördern. Eine derartige Konfliktaustragung unterscheidet sich nicht wesentlich von bisherigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Völkern. Das Anliegen, den Einsatz militärischer Gewalt strikt einzugrenzen, wird dadurch zunichte gemacht. Selbst unter einem UNO-Mandat wäre auf dieser Grundlage ein Einsatz der Bundeswehr nicht vertretbar.
Die Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Kampfeinsätzen muß davon abhängig gemacht werden, daß die Völkergemeinschaft in der UNO erste konsequente Schritte auf dem Weg zur internationalen Monopolisierung der Gewalt und zur Schaffung einer Friedensordnung unter der Herrschaft des gegebenenfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Rechts einleitet.
Zu den Stationen auf diesem Weg gehören u.a.
- die Ausweitung der Befugnisse des Internationalen Gerichtshofs und seine verstärkte Nutzung,
- die Ausweitung des Instrumentariums zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verletzungen der Menschenrechte,
- die konsequente Verwirklichung des Art. 43 der UN-Charta (Abschluß von Sonderabkommen der UN-Mitglieder zur Bereitstellung von Einheiten),
- die Stärkung demokratischer Strukturen innerhalb der UNO und die demokratische Kontrolle eines UN-Eingreifpotentials,
- die Erarbeitung internationalen Rechts zur Wahrung des Friedens und zum Schutz von Menschenrechten einschließlich Sanktionsmechanismen zu deren Durchsetzung,
- die Umsetzung der "Agenda für den Frieden" des UN-Generalsekretärs einschließlich der die Souveränität der Einzelstaaten berührenden Vorschläge.
Auf Dauer ist die Beteiligung der Bundeswehr von einem überzeugenden Fortgang dieses Prozesses abhängig zu machen sowie davon, daß konzeptionell sichergestellt wird, daß gewaltfreie Mittel als vorrangige Option zur Konfliktbewältigung eingesetzt werden und der militärische Einsatz als ultima ratio immer der Grenzfall bleibt. Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich entschlossen und konstruktiv für die Verwirklichung dieser Ziele einsetzen. Sie muß sich innerstaatlich um einen politischen und rechtlichen Konsens bemühen, damit sie ihren Verpflichtungen zur Durchsetzung von Frieden und Menschenrechten in einer sich entwickelnden internationalen Friedensordnung nachkommen kann, wenn die genannten Voraussetzungen wirklich vorliegen.
Ungeachtet der Frage der Beteiligung an derartigen Einsätzen bleibt es vorrangige Aufgabe,
- eine friedenserhaltende internationale Rechtsordnung und
- Konzeptionen einer neuen Friedenspolitik unter bewußter Einbeziehung von tiefgreifenden, am Maßstab der Gerechtigkeit orientierten Veränderungen der Weltwirtschaftsordnung politisch zu entwickeln.
Gerade die Frage internationaler Einsätze der Bundeswehr kann und darf nicht von den anderen wichtigen Aufgaben einer internationalen Friedensarbeit isoliert werden.
Osnabrück, den 11. November 1993
Der Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
gez. Schmude