Handwerk als Chance

1. Einleitung

(1) Das Handwerk ist ein großer und bedeutender Arbeitszweig unserer Wirtschaft. Es trägt maßgeblich zur Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen in der Region sowie zu Wohlstand, Beschäftigung und sozialer Sicherung bei. Weil das Handwerk vor allem "marktnah" auf den überschaubaren Raum (Dorf, Stadtteil oder Region) bezogen ist, kleine und mittlere Betriebe mit oft familiärer Prägung und sozialer Nähe umfaßt, vielfältige Tätigkeitsfelder und Leistungen bietet, individuell angepaßte Güter und Dienstleistungen erstellt, besitzt es zweifellos besondere strukturelle Chancen zu humanem, sozialverträglichem und gemeinwohlorientiertem Wirtschaften. Die handwerkliche Wirtschaftsform als ein ganzheitliches Wirtschaften im überschaubaren Raum kann geeignet sein, Arbeit und Kapital, Wettbewerb und soziale Sicherung, wirtschaftlichen Erfolg und Teilhabe am Wohlstand der Gesellschaft, Gewinnerzielung und Versorgung der Region in überzeugender Weise miteinander zu verbinden. Damit ist sie ein bemerkenswerter Beispielfall Sozialer Marktwirtschaft. An diesem Beispielfall können exemplarisch Ansätze und Möglichkeiten eines Wirtschaftens aufgezeigt werden, das die Bereiche Ökonomie, Soziale Sicherung, Kultur und Umweltschutz kooperativ miteinander verbindet.

(2) Gerade in einer Zeit anhaltend hoher Arbeitslosigkeit, einer gesamtwirtschaftlichen Stagnation und tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche sind solche Gesichtspunkte von besonderer Bedeutung. Die Internationalisierung und die Globalisierung der Wirtschaft, der technologische Fortschritt und mit ihr die Rationalisierung der Arbeit nehmen ihren Fortgang und verändern auch die Arbeitsbedingungen auch der handwerklichen Betriebe mit entsprechenden Folgen für die arbeitenden Menschen und das Gemeinwesen. Hinzu kommen ökologische Probleme, Fragen der sozialen Sicherungssysteme, der Bildung und vieles andere mehr. In einer solche Situation bedrängender Herausforderungen kommt es darauf an, sich auf Formen des Wirtschaftens zu besinnen, die geeignet sind, sozial- und umweltverträgliche Lösungen zu ermöglichen und den wirtschaftlichen Erfolg mit dem Nutzen für das Gemeinwohl zu verbinden. Das Handwerk hat durch seine besonderen Ausgangsbedingungen durchaus Möglichkeiten und Chancen, sich in diesem Sinne zu bewähren.

(3) Werden diese Chancen vom Handwerk genutzt? Wird von Gesellschaft und Staat erkannt, welche besonderen Chancen das Handwerk für das Gemeinwesen bieten kann, oder wird dem Handwerk das Leben gerade schwergemacht und mit minderem Sozialprestige und geringer Belohnung des Beitrags zum Gemeinwohl der Handwerksberuf unverständlicherweise abgewertet? Kann das Handwerk nicht nur als Beispielfall, sondern sogar als "gutes Beispiel" auch für andere Wirtschaftsbereiche gelten? Ist es berechtigt, in das Handwerk besondere Hoffnungen auf Möglichkeiten zu einem nachhaltigen, humanen und ganzheitlichen Wirtschaften im überschaubaren Raum zu setzen, Hoffnungen, die durch entsprechende Weichenstellungen ansatzweise eingelöst werden können? Wie können Handwerk und mittelständische Betriebe die Bewährungsprobe unter dem Druck wirtschaftlicher Konzentration und weltwirtschaftlicher Zwänge bestehen? Das Interesse der Ethik an diesen Fragen und am Thema Handwerk jedenfalls ist auf dem Hintergrund der Herausforderungen, vor denen unsere Volkswirtschaft heute steht, beträchtlich, und die Hoffnung, daß sich aus den Überlegungen Aspekte für neue, zukunftsweisende Ansätze eines humanen und nachhaltigen Wirtschaftens ergeben können, erscheint berechtigt.
1.1 Anliegen der Denkschrift und zusammenfassender Überblick in 6 Thesen
(4) Im wesentlichen hat sich diese Denkschrift zwei Aufgaben gesetzt:

  • Zum einen geht es ihr um ein Eintreten für eine gemeinwohlorientierte, soziale und ökologische Marktwirtschaft am Beispiel Handwerk, d.h. am Handwerk soll etwas von dem deutlich gemacht werden, was aus christlich sozialethischer Sicht von Wirtschaft und Arbeitswelt erwartet werden muß. Kernanliegen ist die Bewertung des Handwerks und seiner Möglichkeiten sowie der Hinweis auf den Handlungsbedarf in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Die Überlegungen sind von einem Interesse an wirtschaftsethischen und sozialethischen Fragestellungen sowie von einem Interesse an der Lebenssituation der im Handwerk beschäftigten Menschen geleitet.
         
  • Zum anderen geht es um eine Auseinandersetzung mit dem Lebens- und Verantwortungsbereich Handwerk, einem Bereich, in dem Christen leben, den sie als Bewährungsfeld ihres christlichen Glaubens erfahren und in dem sie mit wirtschaftlichen, sozialen und ethischen Grundfragen konfrontiert sind. Sie suchen nach Antworten auf diese Fragen. Evangelische Christen aus dem Bereich Handwerk haben diese Denkschrift mit vorbereitet. Sie haben versucht, diese Fragen zu formulieren. Sie wollen mit ihren Anstößen, Hinweisen und Vorschlägen mit ihrer Kirche in ein Gespräch über ihre Lebenswelt Handwerk eintreten. Im Brennpunkt steht deshalb die Frage nach der Verantwortung für das Handwerk und nach der Bewährung des christlichen Glaubens in Arbeitswelt und wirtschaftlichem Handeln. Die Denkschrift soll ein Beitrag der Kirche für die kirchliche Handwerkerarbeit sein.

Die Kernaussagen dieser Denkschrift sollen im folgenden in sechs Thesen zusammengefaßt werden:

(5) Erstens: Auf wichtige Herausforderungen der Gegenwart in Wirtschaft und Gesellschaft vermag letztlich nur eine sozial und ökologisch verpflichtete Marktwirtschaft angemessen zu antworten.
In einer Zeit langandauernder Massenarbeitslosigkeit, verschärften Wettbewerbs, ökologischer Herausforderungen, zunehmender Belastungen für den Menschen in der Arbeit und zunehmender Internationalisierung der Wirtschaft kommt es gerade auf eine soziale und ökologische Marktwirtschaft an. In einer solchen Situation ist eine entscheidende Aufgabe, ein kooperatives Miteinander von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu fördern und zu erhalten. "Marktwirtschaft pur" und ungezügelte und politisch und sozial zu wenig eingebundener Großstrukturen in der Wirtschaft sind keine Hilfe. Sie werfen nur neue Probleme auf; in vielen Fällen sind sie selbst das Problem. Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik müssen darauf gerichtet sein, daß wirtschaftlicher Erfolg und Dienst am Gemeinwohl nicht zu Gegensätzen werden. Die Konzeption Soziale Marktwirtschaft sowie Traditionen und Arbeitsformen in der handwerklichen Wirtschaft bieten hier wichtige Ansätze. Sie sollten weiterverfolgt und auf dem Hintergrund der gegenwärtig tiefgreifenden Veränderungen fortentwickelt werden.

(6) Zweitens: Ein nachhaltigeres, menschengemäßeres, gemeinwohlorientiertes und ganzheitliches Wirtschaften ist auch heute möglich. Gerade beim Handwerk finden sich dazu bemerkenswerte Ansätze und Möglichkeiten. Sie dürfen nicht unbeachtet bleiben, sondern müssen als Chancen genutzt werden.
Im Handwerk sind viele gute Ansätze durch strukturelle Besonderheiten wie Flexibilität, Vielfältigkeit der Arbeitsaufgaben, soziale Nähe im Betrieb, Kundennähe, Familienbezogenheit, Wirtschaften im überschaubaren Raum gleichsam vorgegeben. Auch die geschichtliche Prägung und Traditionen eines "ehrbaren Handwerks" spielen hier eine Rolle. Nicht immer werden diese Chancen von den Beschäftigten im Handwerk in genügender Weise erkannt und genutzt. Viele Betriebe stehen "im Sog der Industrie" und haben deren Standards und Formen übernommen oder sie sind von eher verkrusteten Strukturen geprägt. Kleinere und überschaubare Betriebe haben aufgrund der Art ihres Arbeitens, aufgrund ihrer Flexibilität und Innovationskraft gute Möglichkeiten, den Anforderungen eines sich verändernden Marktes, den Aufgaben des Umweltschutzes und den Erfordernissen eines humanen Wirtschaftens zu entsprechen. Es muß künftig verstärkt darum gehen, die innere Organisation und Kultur der Zusammenarbeit im Bereich handwerklicher Betriebe weiterzuentwickeln, vom vorherrschenden patriarchalischen Führungsstil zu einer partnerschaftlichen Kooperation zu gelangen und Sinnfindung im handwerklichen Tun nicht nur zu erhalten, sondern nachhaltig auszubauen. Es ist wichtig, daß die handwerklichen Betriebe ihre Möglichkeiten sehen und ihre Besonderheit als eine große Chance erkennen.

(7) Drittens: Handwerkliche Betriebe können einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Verbesserung des Ausbildungsangebotes leisten.
Das Handwerk leistet mit Ausbildung und Arbeitsplatzbeschaffung einen wichtigen Beitrag für das Gemeinwohl. Gerade die kleineren und mittleren Betriebe haben besondere Chancen, Stellen und Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen und auch verantwortungsbereite und unternehmerische junge Menschen in die Selbständigkeit zu führen. Die Sicherung bestehender, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die damit ausgeprägte Funktion des Handwerks als Stabilisator auf dem Arbeitsmarkt werden in starkem Maße durch diese Existenzgründungen gewährleistet. Immer wieder waren es in der jüngsten Vergangenheit handwerkliche Betriebe, die sich vor allem auch für die Integration von Langzeitarbeitslosen bemüht haben und entsprechende staatliche Programme in Anspruch genommen haben. Diese Chancen müssen intensiver genutzt werden. Wichtig ist auch die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen. Die quantitative und qualitative Ausbildungsleistung der handwerklichen Betriebe kommt der gesamten Volkswirtschaft zugute.

(8) Viertens: Es gilt, wichtige Aufgaben im Handwerk aufzugreifen. Dazu zählen vor allem die Verbesserung der Kooperationen, die Verbesserung des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz, die Förderung der Frauen im Handwerk und die Lösung der Nachwuchsprobleme.
Der Betrieb, der im weitesten Sinne kooperative Arbeitsformen bietet, wird gute Mitarbeiter er- und behalten. Durch Beteiligung der Mitarbeiter, durch Selbstmotivation und Engagement kann mehr und neue Energie für mehr Produktivität erreicht werden. Vorhandene Kooperationsformen gilt es weiter auszubauen und durch neue zu ergänzen. Die Arbeitsplätze in den handwerklichen Betrieben müssen attraktiver gestaltet werden. Dazu ist es nötig, den Mitarbeitern mehr Qualifikations- und Aufstiegschancen zu eröffnen. Um verstärkt die Belastungen und Benachteiligungen von Frauen im Handwerk abzubauen, Frauen eine gleichberechtigte Chance zu bieten und sie als Fach- und Führungskräfte im Handwerk zu gewinnen, wird das Handwerk künftig noch viel deutlicher Vorurteile überwinden und seine Integrationsbemühungen verstärken müssen. Gestärkt werden muß vor allem die Stellung der Meisterfrau. Im Blick auf den notwendigen Gesundheitsschutz müssen bestehende Belastungen abgebaut und Technikeinsatz menschengerecht gestaltet werden. Ein gravierendes Problem des Handwerks ist vor allem die Betriebsübergabe. Die Lösungs der Nachfolgeprobleme verlangt u.a. eine Intensivierung der Meisterausbildung, die Integration von jungen Akademikern, die Intensivierung der Beratung sowie der systematische Ausbau von Betriebsnachfolgebörsen.

(9) Fünftens: Das Handwerk selbst sowie mittelständische Betriebe sind ihrerseits eine Chance für die Gesellschaft und das gesamte Gemeinwesen. Deshalb müssen seine Rahmenbedingungen verbessert werden.
Das Handwerk steht vor schwierigen Herausforderungen. Dazu zählen der verschärfte Wettbewerb, der starke Kostendruck, die ökologischen Herausforderungen, Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit, Bildungsprobleme und weltwirtschaftliche Herausforderungen. Das Handwerk kann sich gegenüber der Industrie auf jenen Gebieten nicht halten kann, auf denen sich die Industrie die kostensparenden Vorteile der Massenproduktion und der Großmaschinentechnik zu Nutze macht. Es ist überall dort im Nachteil, wo zur Produktion vorwiegend nur eine Massenleistung erforderlich ist. Zur Verbesserung der Rahmenbedingungen handwerklichen Wirtschaftens ist eine Senkung der Personalnebenkosten unerläßlich. Entscheidend ist vor allem die Entlastung der Sozialversicherungen von versicherungsfremden Leistungen. Auch die Verbesserung der beruflichen Bildung, der Fortbildung sowie der Möglichkeiten zur Existenzgründung sind wichtige Beiträge zur Stärkung einer humanen und gemeinwohlorientierten Wirtschaftsform Handwerk.

(10) Sechstens: Das Gespräch zwischen Kirche und Handwerk muß vertieft werden.
Das Bemühen um eine intensive Beziehung zwischen Kirche und Handwerk gehört zum Auftrag der Kirche. Eine Berufsseelsorge im Handwerk ist nur möglich, wenn sich die in der kirchlichen Gemeindearbeit Tätigen ein größeres Maß an Verständnis für die Probleme der gewerblichen Mittelschichten aneignen. Dies setzt voraus, daß sich kirchliche Werke und Einrichtungen mit diesem Bereich der Arbeitswelt befassen. Sie sollten ihre Hilfe vor allem in menschlicher Hinsicht wirkungsvoll anbieten und auf dem Gebiet der Mittelschichten Sachkenntnis auch innerhalb der kirchlichen Gemeindeseelsorge verbreiten. Es kommt darauf an, daß die Begegnung zwischen Kirche und Handwerk nicht nur eine Frage dieser Gruppen bleibt. Sie sollte sich auch auf Orts- und Gemeindeebene vollziehen, zumal das Handwerk zu den Berufsgruppen gehört, die in größerer Nähe zur Kirche geblieben sind als manche anderen Gruppen in der Gesellschaft.

1.2 Wirtschaft und Handwerk als Themen der Kirche

(11) Das wirtschaftliche Leben ist ein Feld christlicher Verantwortung. Hier werden Menschen mit Gütern und Dienstleistungen versorgt, mit menschlicher Arbeit wird die Existenz gesichert, gemeinsam mit anderen leisten die Arbeitenden hier einen Dienst für Mitmenschen und Gemeinschaft. Wirtschaftliche Leistungen sind ein Beitrag nicht nur zum wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch zum Gemeinwohl und zur Sozialkultur. Das Handwerk ist ein solcher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verantwortungsraum, in dem es um ein erfolgreiches, nachhaltiges, humanes und sozial verantwortliches Wirtschaften geht. Das Thema Handwerk ist ein besonders beachtenswertes Kapitel der Wirtschaftsethik. Es berührt grundlegende Ordnungsfragen unserer sozial und ökologisch verpflichteten marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung.

(12) Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich in ihrer Wirtschaftsdenkschrift "Gemeinwohl und Eigennutz" (1991) in die wirtschaftsethische Diskussion eingeschaltet und ein Verständnis von einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft entfaltet, das gerade von dem Ineinander und Miteinander von wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verantwortung geprägt ist. In der Denkschrift heißt es: "Wer wirtschaftlich handelt, übernimmt Verantwortung für andere Menschen und für die Mitwelt. Solches Handeln bestimmt Tag für Tag das Zusammenleben aller Menschen in der Gesellschaft, wirkt auf die Strukturen des gemeinsamen Lebens wie auf die persönliche Lebensführung nachhaltig ein und spielt für die Zukunft der gesamten Menscheit eine überragende Rolle." In gleicher Weise hat dies auch das gemeinsame Wort der Kirchen "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" (1997) dargelegt. Es betont: "Wesentlich für das Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft ist, daß wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Ausgleich als gleichrangige Ziele und jeweils der eine Aspekt als Voraussetzung für die Verwirklichung des anderen begriffen werden." Soziale Marktwirtschaft ist also ein Ineinander von wirtschaftlichem und sozialem Bemühen. Dieses wirtschaftsethische Anliegen kann am Thema Handwerk in besonders eindrücklicher Weise verdeutlicht werden. Die Denkschrift "Handwerk als Chance" versucht, diese Aspekte an den konkreten Fragen des Handwerks zu erläutern. Die EKD setzt mit dieser Denkschrift eine Diskussion fort, die sie bereits im Jahre 1978 mit Stellungnahme "Chancengleichheit für das Handwerk" begonnen hat.

(13) In dieser Denkschrift sollen nicht nur die Ordnungsfragen und die strukturellen Probleme eine Rolle spielen. Das Handwerk ist auch Lebensraum und Arbeitsfeld, in dem Menschen gemeinsam mit anderen erfolgreich wirken oder scheitern, einen notwendigen Beitrag zur Versorgung der Bevölkerung leisten oder versagen, sich bewähren können oder durch äußere Belastungen behindert werden. Christliche Handwerker haben deshalb ihre Kirche gedrängt, eine Denkschrift über das Handwerk zu verfassen, weil sie diese Fragen der Verantwortung im Licht der christlichen Ethik reflektiert und diskutiert wissen wollen. Die Lebensfragen des Handwerks aufgreifen heißt, die Lebensfragen der Menschen in der Arbeitswelt Handwerk aufgreifen, sie und ihre Situation zu verstehen versuchen, ihre Anliegen bedenken, ihre Klagen hören, ihre Vorschläge ernstnehmen.

(14) Die Beschäftigung der Kirche mit dem Handwerk ist auch eine Form der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Mitverantwortung der Kirche. Es geht hier nicht um eine abstrakte Diskussion über ein wirtschaftsethisches Thema, sondern es geht beim Handwerk um Fragen der Bewährung unserer Wirtschaftsordnung, um Arbeit und Beschäftigung, um eine humane Arbeitswelt und um Fragen der internationalen Verantwortung.

1.3 Das kirchliche Engagement für die Beschäftigten im Handwerk hat eine lange Tradition

(15) Handwerk und Kirche haben in der Geschichte der Christenheit vielfältig zusammengewirkt. Die Reformation hat in den deutschen Städten und insbesondere beim Handwerk ihre stärkste Resonanz und Stütze erfahren. "Die Freiheit eines Christenmenschen" und das spezifisch evangelische Arbeitsethos kamen der mentalen Situation des Handwerks unmittelbar entgegen und gaben den Handwerkern eine neue geistliche Motivation. Die Städte bildeten auch in der Neuzeit die wichtigsten Träger des protestantischen Ethos. Johann Hinrich Wichern hat sich in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der Probleme der Handwerker besonders angenommen und u.a. evangelische Gesellen- und Meistervereine gegründet, auf die auch die heutigen Vereinsbildungen zurückgehen. Diese Vereine bemühten sich aufgrund des Gebots christlicher Nächstenliebe, Handwerker zu sammeln und an der Lösung sozialer und gesellschaftlicher Probleme mitzuwirken.

(16) Es ist nicht zu übersehen, daß protestantische Handwerkerkreise sich überwiegend in der allgemeinen Handwerkerbewegung engagierten, die 1848 mit dem "Deutschen Handwerker- und Gewerbekongreß" ihren ersten Höhepunkt erreichte. Ebenso finden sich protestantische Handwerksgesellen vorwiegend in der "Gesellen- und Arbeiterbewegung", die ebenfalls 1848 im "Gesellen- und Arbeiterkongreß" erste deutliche Akzente setzte. Die evangelischen Handwerkerverbände hingegen hatten zumeist keinen großen Zulauf. Demgegenüber hat die katholische Vereinsbewegung die Handwerker und Gesellen stärker im Horizont kirchlicher Willensbildung halten können. Diese wurden durch die stark berufsständische Zielsetzung der päpstlichen Sozialenzykliken (Rerum Novarum 1891 und Quadrogesimo Anno 1931) sozialethisch deutlich unterstützt.

(17) Es ist nicht zu leugnen, daß die Kirche im Zuge der industriellen Revolution teilweise von der Wirklichkeit der industriellen Arbeitswelt und damit auch des Handwerks isoliert wurde und den Kontakt nicht in der erforderlichen Intensität halten konnte. Deshalb erwies sich auch die Gemeinsamkeit zwischen Kirche und Handwerk in der Zeit des Nationalsozialismus als nicht stark und tragfähig genug, um den Gleichschaltungsversuchen und Angriffen der Nationalsozialisten standhalten zu können. Die Zeit ist reif, um die Erfahrungen der Vergangenheit auszuwerten und neue Zukunftsperspektiven zu gewinnen.

(18) Die evangelische Handwerkerarbeit hat ihren Ursprung in den evangelischen Handwerkervereinen. Sie waren freie Zusammenschlüsse von evangelischen Handwerkerinnen und Handwerkern. Häusliches Leben und beruflicher Alltag des "ehrbaren" Handwerkers der Zunftzeit waren von christlicher Sitte und Brauchtum geprägt. Auch neben den Zünften gab es Zusammenschlüsse: die Bruderschaften, die überwiegend oder ausschließlich religiöse Zielsetzungen hatten. Etliche konnten ihre Traditionen bis heute fortführen. Im Bewußtsein ihrer Mitverantwortung für das Gemeinwesen und auf Grund ihres Engagements für ihre Kirche und die Sache des Glaubens suchten sie als Christen die Gemeinschaft mit ihresgleichen.

(19) In den Zusammenkünften und Aktionen der Handwerkervereine ging es um Fragen der Religion ebenso wie um eine vom Glauben geprägte Lebensführung in den Dingen des handwerklichen Alltags bis hin zu Entscheidungsfragen der Politik. Es waren vor allem die Handwerker selbst, die aktiv wurden und sich als evangelische Zusammenschlüsse bemerkbar machten. Die kirchliche Handwerkerarbeit hat auf diesen Grundlagen aufgebaut und eine "offene Handwerkerarbeit" geschaffen, die in ihrem Kern vom Engagement der ehrenamtlich tätigen Handwerker bestimmt ist, organisatorisch aber von hauptamtlichen kirchlichen Kräften und kirchlichen Zuschüssen getragen wird. Die vereinsgebundene Form wurde also beibehalten.

(20) Nach 1945 lebten viele Gesellen- und Meistervereine in enger Verbindung zur Kirche wieder auf, nachdem die Nationalsozialisten vorhandene Verbände so stark bedrängt hatten, daß der Verband Evangelischer Gesellen- und Meistervereine 1935 offiziell aufgelöst wurde. Privat haben aber einige Vereine als Freundeskreise oder innerhalb des Männerwerks der Kirche weiterbestanden. Insbesondere im Ruhrgebiet sowie in den Städten Siegen, Köln, Würzburg und München haben sich nach 1945 rasch neue Vereinigungen gebildet. In der Evangelischen Kirche in Deutschland ist die Handwerkerarbeit in der "Evangelischen Bundesarbeitsgemeinschaft Handwerk und Kirche in der Männerarbeit der EKD" zusammengefaßt. Eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem Verband Evangelischer Gesellen- und Meistervereine und der Männerarbeit der EKD gab es seit 1964 bei der gemeinsamen Herausgabe der Zeitschrift Kirche und Handwerk.

(21) Heute wird der kirchliche Dienst an den Handwerkern vorwiegend in Form offener Arbeit wahrgenommen. Die kirchliche Handwerkerarbeit ist im Bereich der evangelischen Landeskirchen als Teil des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt, als Arbeitszweig evangelischer Akademien, als Beauftragung von Pfarrern, als Teil der Männerarbeit oder als Ressort des zuständigen Landeskirchenamtes organisiert. In einzelnen Kirchengemeinden vor Ort gibt es gelegentlich aufgrund einer besonderen Situation oder aufgrund des Engagements bestimmter Persönlichkeiten Handwerksarbeitskreise. Gemeinsam mit der katholischen Kirche besteht ein "Zentraler Besprechungskreis Kirche und Handwerk", der sich zweimal jährlich mit Handwerkervertretern und Vertretern des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks trifft. Dieser Kreis wurde 1966 zunächst als evangelischer Gesprächskreis gegründet und ist 1995 in der Folge des Konsultationsprozesses der beiden Kirchen in einen evangelisch-katholischen Kreis umgewandelt worden. Dieses Gremium, dem Fachleute sowohl von kirchlicher als auch handwerklicher Seite angehören, führt einen regelmäßigen Gedankenaustausch, aus dem letztlich auch die Anregung zu der vorliegenden Denkschrift erwachsen ist.

1.4 Die Arbeit der Kirche mit Handwerkern

(22) Die Kirche sieht es als ihre Aufgabe an, ihren Gliedern in ihrer konkreten Lebenswelt beizustehen, ihren Glauben zu stärken und Hilfen für die Bewährung ihres Glaubens im Alltag der Welt zu geben. Es sind immer wieder gerade die engagierten Christen unter den Handwerkern, die ihrer Erwartung Ausdruck geben, die Kirche möge sich nicht nur um die Freizeitwelt ihrer Glieder kümmern, sondern vor allem auch um ihren Lebensbereich Arbeit und Wirtschaft. Gerade weil es im Lebensalltag des Handwerks nicht einfach nur um ökonomische Spezialthemen geht, sondern um umfassende Lebensfragen wie Sicherung der wirtschaftlichen Existenz, Mitverantwortung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Mitwirkung am öffentlichen Leben in der Region, Integration von Menschen, Gerechtigkeit im Wirtschaftsleben u.a.m. ist die Kirche für die Handwerker ein wichtiger Gesprächspartner. Das Wagnis des Kleinunternehmers, die wirtschaftlichen Rückschläge und Erschwernisse, die Konflikte oder das Gelingen von Kooperation und Partnerschaft im Betrieb, die soziale Verantwortung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Probleme der Frauen im beruflichen Alltag (Familie und Arbeitswelt), die Integration von Schwächeren, die soziale Anerkennung und das Eingebundensein in die Gesellschaft - für all das soll die Kirche in ihrem seelsorgerlichen und lebensbegleitenden Dienst Aufgeschlossenheit zeigen und solidarischer Gesprächspartner sein.

(23) Handwerkerinnen und Handwerker erleben in vielen Fällen ihren beruflichen Lebensbereich durchaus als eine Chance zu ganzheitlichem Wirtschaften in ihrem Stadtteil oder Dorf. In vielen wesentlichen Fragen des Betriebes haben sie Mitentscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeit. Sie erfahren die Situationen konkreter Mitverantwortung für ihren Betrieb, für soziale Fragen, für die Schonung der Umwelt oft unmittelbarer als Angehörige größerer Betriebe. Die Bedrohung von Arbeitsplätzen, den Anpassungsdruck in einer veränderten wirtschaftlichen Situation, die Belastung einer wirtschaftlichen Rezession, die Probleme der Betriebsübergabe, das Unrecht von Wettbewerbsverzerrungen, all dies und anderes mehr erleben Handwerker in großer Unmittelbarkeit. Aber sie leiden auch unmittelbarer an diesen Problemen. Deshalb erwarten sie von ihrer Kirche Verständnis und Orientierung. Die kirchliche Handwerkerarbeit sieht deshalb die Aufgabe, Handwerkerinnen und Handwerker zu begleiten, das Gespräch mit ihnen zu führen, Möglichkeiten der Mitarbeit in der Kirche aufzuzeigen.

(24) Handwerkerinnen und Handwerker wollen von ihrer Kirche gerade als die wahrgenommen werden, die einen bestimmten Beruf haben, und sie suchen den Dialog in der Kirche gerade auch über ihre beruflichen Probleme. Auffallend ist hierbei die besondere Treue von Menschen aus dem Handwerk zu ihrer Kirche. Sie sind sich dessen bewußt, daß sie einen nicht unmaßgeblichen Beitrag leisten können zum gesellschaftspolitischen Dienst ihrer Kirche und daß sie Teil ihrer Kirche sind.

(25) Das positive Bild vom Handwerk, das in dieser Denkschrift entfaltet wird und auf die Chancen des Handwerks hinweist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade in der gegenwärtigen Phase viele Handwerker in einer bedrückten, manchmal sogar verzweifelten Grundstimmung sind. Es vollzieht sich zur Zeit ein starker wirtschaftlicher und technologischer Umbruch, der viele überfordert. Die rasche technologische Entwicklung muß mitvollzogen werden, viele Handelsketten und Verbrauchermärkte schaffen eine heftige Konkurrenz, die steigenden Umweltauflagen bedeuten schwierige Umstellungsprobleme und Kostenprobleme, die Nachbarschaft der handwerklichen Betriebe ist im Blick auf Lärm und Belastungen empfindlicher und intoleranter geworden, die Schwarzarbeit hat rapide zugenommen, Betriebsübernahmeprobleme und Generationenkonflikte kommen hinzu. Die kirchliche Handwerkerarbeit hört in ihren Gesprächen mit Handwerkern und Handwerkerinnen die Klage darüber, daß das allgemeine Klima kälter geworden ist. Bei vielen ist eine Müdigkeit und Ratlosigkeit zu verspüren. Hier ist es die Aufgabe der Kirche, sich solidarisch zu zeigen und auf die Seite dieser Schwächeren zu stellen.

(26) Die Arbeitsformen der kirchlichen Handwerkerarbeit sind

  • gemeinsame Zusammenkünfte, bei denen aktuelle, das Handwerk und das Gemeinwesen betreffende Fragen diskutiert und ethische sowie religiöse Aspekte bedacht werden (wie etwa Sozialstaat, Arbeitslosigkeit, Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen, Europa, Selbständigkeit, Unternehmerethik, Betriebsnachfolge u.a. Themen),
         
  • Betriebsbesuche, seelsorgerliche Gespräche, gemeinsame Aktionen und Projekte (wie etwa Handwerksförderung in Ostafrika als entwicklungspolitischer Beitrag ),
         
  • Veranstaltung von Handwerkertagen, die Durchführung von Treffen und geistlichen Veranstaltungen bei den Handwerksmessen (verbunden mit einem volksmissionarischen Anliegen),     
  • Mitwirkung bei "Freisprechungsfeiern" (Abschlußfeiern der Gesellenausbildung) und Gildentagen,
         
  • Kontakte mit Jugendlichen im beruflichen Lebensalltag,
         
  • Betreuung von Handerwerkerdiskussionskreisen, die Beschäftigung von Fachgruppen (Ausarbeitung von Stellungnahmen und Arbeitshilfen),
         
  • Durchführung von Studienfahrten und Studientagungen,
         
  • die Veranstaltung von Andachten und Handwerkergottesdiensten sowie Begegnungen mit Kirchenleitungen.

(27) An dieser Stelle seien auch die neuralgischen Punkte der kirchlichen Handwerkerarbeit nicht verschwiegen:

  • Die kirchliche Handwerkerarbeit gewinnt oft den Eindruck, daß sich ihre Kirche zu ausschließlich auf die Lebenswelt des gehobenen Mittelstandes und die Freizeitwelt ihrer Mitglieder konzentriert und zu wenig auf die Christen, die stark geprägt sind von den Problemen des Berufs und der wirtschaftlichen Verantwortung. Viele christliche Handwerker haben das Gefühl, daß ihre Kirche geprägt ist von denen, die ihre Stärke eher im theoretischen Bereich sehen und nicht sehr viel Verständnis haben für die Lebensthemen derer, die ihre Produkte mit ihren Händen herstellen. Selbst dann, wenn in der Tat die Arbeitswelt im Blick der Kirche ist, ist es oft die industrielle Arbeit.
         
  • Die Verbindung zur jüngeren Generation in der kirchlichen Handwerkerarbeit und zu den Frauenorganisationen im Handwerk (Unternehmerfrauen im Handwerk) ist stark verbesserungsbedürftig. Viele kirchliche Handwerkerkreise beschränken sich auf ältere Handwerkerinnen und Handwerker, die ständisch organisiert sind. Die jüngeren Handwerkerinnen und Handwerker zeigen oft nicht die Bereitschaft, sich den Organisationen im Handwerk anzuschließen. Die abhängig Beschäftigten im Handwerk (Lehrlinge, Angelernte und Gesellen) stehen zum Teil zu wenig im Blickpunkt der kirchlichen Arbeit.
         
  • Die Handwerkerarbeit geschieht keineswegs "flächendeckend", sondern sie beschränkt sich auf die Tätigkeit bestimmter (weniger) zuständiger Personen in der Kirche. Dieser kirchliche Arbeitszweig ist zum Teil personell stark unterbesetzt.     
  • Verbesserungsfähig ist auch die Zusammenarbeit mit den Gemeinden. Viele Gemeinden kennen nicht die Handwerker und Handwerkerinnen in ihren Reihen, viele Pastorinnen und Pastoren haben keinen Kontakt zum Handwerk. Die Themen und Lebensfragen des Handwerks werden in den Gemeindeveranstaltungen zu wenig aufgegriffen. Nur in vergleichsweise wenigen Gemeinden hat sich eine gute Zusammenarbeit mit der kirchlichen Handwerkerarbeit eingespielt.
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