Religiöse Orientierung gewinnen
Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, November 2014
5. Pluralitätsfähige Schule: Wege zu einer dialogischen Kultur religiös-weltanschaulicher Vielfalt
Der Religionsunterricht an der öffentlichen Schule und die Schule als öffentliche Institution sind mit der Vielfalt der religiösen und weltanschaulichen Orientierungen in ähnlicher, aber klar zu unterscheidender Weise konfrontiert. Während beim Religionsunterricht die Möglichkeit besteht, sich von der Teilnahme befreien zu lassen, basiert die Schule auf der Pflicht jedes Kindes und Jugendlichen, an gesellschaftlich verbindlicher Bildung teilzunehmen. Auch außerhalb des Religionsunterrichts muss in der Schule sowohl positive als auch negative Religionsfreiheit gewährleistet sein, freilich anders für die Lehrerinnen und Lehrer als für die Schülerinnen und Schüler. Die Kinder und Jugendlichen bringen unterschiedliche Überzeugungen und Glaubenspositionen selbstverständlich in ihren Schulalltag mit und können der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt nicht ausweichen, sondern müssen sich mit ihr auseinandersetzen und lernen, in einer angemessenen Weise damit umzugehen.
Daher stellt sich für das Schulsystem insgesamt, aber auch für jede Schule konkret eine dreifache Aufgabe:
- Die Bearbeitung religiöser und weltanschaulicher Vielfalt muss als genuine Bildungsaufgabe der gesamten Schule anerkannt und von der Schulleitung sowie von allen Lehrkräften wahrgenommen werden.
- Für das Zusammenleben in der schulischen Gemeinschaft angesichts mannigfacher religiöser und weltanschaulicher Orientierungen müssen von Lehrkräften, Eltern und Schülerinnen und Schülern gemeinsam Regeln und Verfahren gefunden und vereinbart werden.
- Die Gestaltung einer dialogisch offenen Schulkultur erfordert Erfahrungsräume, die kompetenzorientiertes Lernen im Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der religiösen und weltanschaulichen Pluralität ermöglichen. Diese Aufgabe betrifft sowohl das Schulleben als auch die Schulentwicklung und die schulische Programmatik. Sie fällt in erster Linie in die Verantwortung der schulinternen Gremien und Institutionen der Mitverantwortung.
5.1 Religion und Toleranz
Das Recht auf aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet ist extensiv auszulegen und wird, in den verfassungsimmanenten Schranken, grundgesetzlich garantiert. Die grundgesetzlich verbürgte Glaubens- und Religionsfreiheit wird daher auch in der Schule als öffentlichem Raum gewährleistet. Neben der positiven Religionsfreiheit gilt in der Schule somit auch die negative Religionsfreiheit, das heißt die Freiheit, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen für sich abzulehnen.
Angesichts der religiösen Vielfalt in der Gesellschaft, die sich in der Schule widerspiegelt, ist es primär die erzieherische Aufgabe der Schule, ein tolerantes Miteinander der Schülerinnen und Schüler mit ihren vielfältigen religiösen und weltanschaulichen Orientierungen einzuüben und die Achtung vor der Überzeugung von Menschen anderer Herkunft, Religion und Weltanschauung zu fördern.
Allerdings hat der Staat dafür zu sorgen, dass der staatliche Erziehungs- und Bildungsauftrag nach Artikel 7 Absatz 1 GG auch tatsächlich von der Schule wahrgenommen werden kann. Bei unvermeidlichen Spannungen und Konflikten in der gemeinsamen Erziehung und Bildung von Kindern unterschiedlicher Weltanschauungs- und Glaubensrichtungen werden auch die Glaubensfreiheit und das Recht auf Religionsausübung durch die Grundrechte anderer begrenzt. In diesem Falle sind Kompromisse im Sinne eines möglichst schonenden Eingriffs in Grundrechte zu finden, die den ordnungsgemäßen Unterrichtsablauf gewährleisten und die Umsetzung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags ermöglichen.
5.2 Aufgaben der Schule
Die Schule spiegelt gesellschaftliche Entwicklungen, die von einer zunehmenden Ausdifferenzierung und einer durch Mobilität und Migration bestimmten Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Orientierungen geprägt sind. Diese Pluralität äußert sich in unterschiedlichen Formen, Bezugssystemen, Normen und kulturell bestimmten Lebensstilen, die keineswegs beziehungslos nebeneinander stehen, sondern spannungsvolle, gelegentlich auch widersprüchliche und konflikthafte Konstellationen des gesellschaftlichen Miteinanders nach sich ziehen.
Da die Kinder und Jugendlichen an den religiösen und weltanschaulichen Entwicklungen teilhaben, wäre es pädagogisch verfehlt, Religion und Weltanschauung in der Schule auszuklammern und die Schule als religiös neutralen oder indifferenten Lernort zu konzipieren. Stattdessen müssen Schülerinnen und Schüler in der Vielfalt ihrer Lebensäußerungen in der Schule wahrgenommen werden. Dazu gehört auch die Möglichkeit, dass sie ihren eigenen Überzeugungen Ausdruck verleihen.
Allerdings sind viele Schülerinnen und Schüler der Auffassung, Religion sei als Privatsache anzusehen und deshalb könne man der Vielzahl der religiösen und weltanschaulichen Einstellungen nur in einer Haltung der Gleichgültigkeit und des Relativismus gegenübertreten. Dazu kommt, dass viele Kinder und Jugendliche mangels detaillierter Kenntnisse und authentischer Erfahrungen selbst mit der eigenen (Herkunfts-)Religion kaum vertraut sind und sich ihre religiösen oder nichtreligiösen Lebensentwürfe aus Bruchstücken zu einem individuellen „patchwork“ zusammenstellen. Für sie geht es nicht darum, einen eigenen religiösen oder weltanschaulichen Standpunkt zu wahren und ihn gegenüber anderen abzugrenzen, sondern allererst darum, eine eigene Überzeugung zu entwickeln.
Kontraproduktiv wäre es, der Neigung zu religiöser Gleichgültigkeit und Unverbindlichkeit entgegenzukommen, religiöse und weltanschauliche Lebenskonzepte einzuebnen und sie zu verharmlosen. Wo religiös motivierte Konflikte, in vermeintlich toleranter Absicht, von vornherein gemieden werden, besteht die Gefahr, dass diese sich untergründig und unreflektiert im schulischen und außerschulischen Miteinander auswirken. Ein pädagogisch verantwortlicher Umgang mit religiösen und weltanschaulichen Orientierungen darf sich nicht mit deren vordergründiger Abdrängung in einen nicht mehr dem Dialog und der Auseinandersetzung zugänglichen Raum der Subjektivität begnügen, sondern muss sich der Aufgabe stellen, eine konstruktive Pluralitätsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen zu fördern und entwickeln zu helfen.
Jede Form religiöser und weltanschaulicher Meinungsäußerung und Aktivität in der Schule findet allerdings ihre Grenze am Überwältigungsverbot. Kein Kind und kein Jugendlicher darf von einer Lehrperson zu religiös oder weltanschaulich begründeten Einstellungen oder Handlungen genötigt werden. Dieser Grundsatz schließt auch aus, dass Schülerinnen und Schüler sich untereinander unter Druck setzen, Andersdenkende moralisch oder religiös diffamieren, herabsetzen oder gar Gewalt — gleich in welcher Form — in religiös motivierten Auseinandersetzungen propagieren oder anwenden.
Die Schule ist als Lernfeld zu begreifen, in dem Schülerinnen und Schüler im alltäglichen Umgang miteinander die Kompetenz entwickeln, auch in religiöser Hinsicht mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden umzugehen. Dazu braucht die Schule eine dialogische Kultur religiös-weltanschaulicher Vielfalt. „Kultur“ meint hier nicht nur einen bereits vorgefundenen sozialen Handlungs-, Wert- und Erfahrungsraum, sondern bezeichnet zugleich eine Gestaltungsaufgabe. In der Spannung zwischen dem, was Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern als gemeinsame Lern- und Lebensumgebung in ihrer Schule erleben, und der Verpflichtung, diesen Raum zu pflegen, im Sinne konsensfähiger Ziele auszubauen und „im Dialog“ lebens- und lernförderlich weiterzuentwickeln, konstituiert sich die jeweils eigene Schulkultur vor Ort. Dabei richtet sie sich in diesem Kontext auf die „religiösweltanschauliche Vielfalt“ als Gegenstand der Gestaltung und Bearbeitung. Eine „dialogische Kultur religiös-weltanschaulicher Vielfalt“ schließt also ein, dass die Mannigfaltigkeit religiöser und weltanschaulicher Orientierungen zur Geltung kommt, deren lebensbedeutsame Relevanz bewusst gemacht und der Umgang miteinander in respektvoller Verständigung eingeübt wird. Pädagogisches Ziel einer solchen Kultur ist es, zu einer über sich selbst aufgeklärten Religion und Weltanschauung beizutragen, die das religiöse oder weltanschauliche Lebenskonzept des anderen nicht zur Abgrenzung, Ausgrenzung oder Erniedrigung benutzt, also nicht gegen ihn, sondern mit ihm gemeinsam die Lebenswirklichkeit gestaltet. In einer solchen religionssensiblen Schulkultur werden Kinder und Jugendliche nicht trotz ihrer Religion und Weltanschauung, sondern mit ihrer Religion und Weltanschauung anerkannt und geschätzt.
Religiöse Bildung fördert die verständigungsorientierte gegenseitige Anerkennung und trägt damit zur Integration bei. Es liegt im wohlverstandenen Eigeninteresse jeder Schule, sich dieser Bildungsaufgabe anzunehmen. Die damit verbundenen Chancen sind erheblich: Wenn die Schule ein wichtiger Ort gesellschaftlicher Integration ist, kann eine Schulgemeinschaft durch ein solches Profil nur gewinnen und sich zu einer Experimentierstätte für demokratisches Leben und für das Lernen von Verantwortung entwickeln. Die dynamischen Prozesse und Strukturen in der modernen Gesellschaft erfordern ein hohes Maß an Partizipation und verantwortlichem Engagement aller Bürgerinnen und Bürger. Eben dies kann in der Schule eingeübt und exemplarisch erlernt werden. Wenn sich Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern um die Gestaltung einer entsprechenden Kultur bemühen, werden grundlegende Prinzipien wie Respekt, Achtung und Rücksichtnahme, Normen und Konfliktlösungsverfahren sowie Perspektivenwechsel und Verantwortungsübernahme anschaulich und als Gestaltungskräfte sozialer Interaktionen erfahrbar. Es versteht sich von selbst, dass solche Aufgaben und Möglichkeiten im Rahmen von Ganztagsangeboten noch einmal erheblich an Gewicht gewinnen und dass dabei auch außerschulische Partner wie die kirchliche Jugendarbeit eine wichtige Rolle spielen können.
Es kommt entscheidend darauf an, in welcher Weise die Leitung einer Schule einen solchen Entwicklungsprozess initiiert, unterstützt, fördert und auch durch personelle und finanzielle Ressourcen ermöglicht. Es erfordert Mut, Durchsetzungskraft und gute Argumente, um das Problem religiös-weltanschaulicher Vielfalt auf die Tagesordnung einer Schule zu setzen. Ohne tatkräftige, breite Unterstützung von Lehrkräften und Eltern wäre eine nachhaltige Ausgestaltung und Sicherung einer solchen Schulkultur zum Scheitern verurteilt. Oft genug ist jedoch ein konkreter Problemdruck der Auslöser für ein gemeinsames Nachdenken darüber, wie mit reli-giös-weltanschaulich veranlassten Konflikten pädagogisch umzugehen ist. Dies kann zum Ansatzpunkt für eine programmatische Neuorientierung der Schule werden.
Die so verstandene Bildungs- und Gestaltungsaufgabe kann nicht nur einem Fach zugeordnet werden, auch wenn dem Religionsunterricht hier eine besondere Verantwortung zukommt. Vielmehr ist sie als Querschnittsaufgabe aller Lehrkräfte an einer Schule aufzufassen. Auch in den Lehrerkollegien spiegelt sich religiöse und weltanschauliche Vielfalt, die bei der Wahrnehmung der unterschiedlichen pädagogischen Herausforderungen ausbalanciert und in ein produktives Verhältnis gebracht werden muss. Die Kollegien sind daher selbst Anschauungsfelder für den Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt. Für manche Kollegien dürfte die Auseinandersetzung mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt als pädagogische Bil- dungs- und Gestaltungsaufgabe ein langfristiger Lernprozess sein, zumal dann, wenn ideologische Verhärtungen und Posi-tionen mit dem Anspruch absoluter Geltung, fachliche Prioritäten oder schlicht Gleichgültigkeit und Ignoranz die Offenheit und das Interesse für das beschriebene Problem gegenwärtiger Bildung lähmen. Gleichwohl wird eine Schule das Thema religiöse und weltanschauliche Vielfalt nicht ignorieren können, wenn sie sich nicht in pädagogische Aporien verlieren oder gar an ihrem Auftrag scheitern will, junge Menschen auf ein Leben in einer komplex strukturierten Gesellschaft vorzubereiten.
Eine zentrale Aufgabe der Schule bei der an Gemeinsamkeiten und Unterschieden orientierten Auseinandersetzung mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt ist es, ein grundlegendes Wissen über Religionen und Weltanschauungen zu vermitteln. Dies gilt nicht nur für den Religions- oder Ethikunterricht, denn alle Fächer haben mittelbar oder unmittelbar mit religiös-weltanschaulichen Aspekten der Bildung zu tun. Darüber hinaus müssen Schülerinnen und Schüler aber auch die Möglichkeit haben, religiöse und weltanschauliche Praxis anschaulich zu erfahren, sich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede auszutauschen und angemessene Begegnungsund Verständigungsformen einzuüben. Erst in diesen mehrperspektivischen Zugangsweisen können Kinder und Jugendliche diejenigen Kompetenzen entwickeln, die für den Umgang mit dem Fremden erforderlich sind.
Die Gestaltung einer entsprechenden Schulkultur ist nicht spannungs- und konfliktfrei. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass sich an Traditionen wie dem Kopftuch oder an religiösen Symbolen wie dem Kruzifix, an konkreten Verhaltensweisen im Blick auf Essen, Kleidung, Kontakte mit Andersgläubigen, an der Auslegung der Heiligen Schriften oder an der Hochschätzung der eigenen Religion und Überzeugung und der Herabwürdigung anderer Überzeugungen immer wieder Konflikte entzünden, die im Einzelfall auch zu Diskriminierung und Ausgrenzung führen können. Die Schule muss darauf bestehen, solche Situationen mit pädagogischen Mitteln, das heißt vor allem im argumentativen Diskurs, zu bearbeiten. Lehrkräfte, aber auch Schülerinnen und Schüler benötigen daher eine ausgeprägte Konfliktfähigkeit, die über ein breites Instrumentarium pädagogischer Interventionsmöglichkeiten von gemeinsam erarbeiteten Regeln und Schulverfassungen über Beratungsangebote bis hin zu Me-diationsstrategien, aber auch pädagogischen Sanktionen verfügt. Erst wenn diese Mittel in Grenzfällen nicht mehr greifen, bedarf es ggf. weitergehender Maßnahmen, um den Schulfrieden zu gewährleisten.
Um den Erwerb der Kompetenzen fördern und unterstützen zu können, braucht die Schule pädagogisch arrangierte Erfahrungsräume, in denen Kinder und Jugendliche zum einen ihre Glaubensüberzeugungen ausdrücken, zum anderen die Überzeugungen anderer kennenlernen können. Für solche Erfahrungsräume bieten sich im alltäglichen Schulleben vielfältige Möglichkeiten. Die Konzipierung und Gestaltung solcher Räume ist aber zugleich auch eine Aufgabe der Schulentwicklung und des Schulprofils.
5.3 Schulleben
Die beschriebene pädagogische Aufgabe der Schule stellt sich regional und schulformbezogen unterschiedlich dar. Die multikulturelle und multireligiöse Situation in einer Hauptschule in einer Metropole mit einer Mehrheit an Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher ethnischer Provenienz erfordert andere pädagogische Strategien als die an einem Gymnasium im ländlichen evangelischen Umfeld; die große Mehrheit nicht religiös orientierter Schülerinnen und Schüler in einer ostdeutschen Oberschule benötigt andere pädagogische Szenarien als die an einer von katholischer Tradition geprägten Realschule im Westen. Die Schülerschaft einer berufsbildenden Fachoberschule unterscheidet sich von der des allgemeinbildenden Gymnasiums. Daher ist es vornehmlich die Aufgabe der eigenverantwortlichen Schule, die Situation der Schülerinnen und Schüler genau wahrzunehmen und Erfahrungsräume bereitzustellen, die das Lernen im Blick auf religiöse und weltanschauliche Gemeinsamkeit und Differenz fördern. Dazu bedarf es eines pädagogischen Konzeptes, sollen religiöse Lerngelegenheiten nicht in eine Vielzahl unkoordinierter Anlässe diffundieren.
Im Folgenden werden unterschiedliche Erfahrungsräume skizziert, die jedoch nicht überschneidungsfrei dargestellt werden können. Die Skizze dient dazu, die Fülle der Möglichkeiten und Anlässe für das Lernen in Hinsicht auf religiöse und weltanschauliche Vielfalt, die sich im Schulalltag bieten, in den Blick zu nehmen:
Situative Erfahrungsräume sind punktuelle oder auch rhythmisierte Schulveranstaltungen mit religiösem Charakter oder Thema, bei denen sich die Schulgemeinschaft zu gemeinsamen Feiern, zu Besinnung und Nachdenken versammelt. Je nach Ausgestaltung der Veranstaltungen gilt das Gebot der Freiwilligkeit. Dazu gehören z. B.
- Gottesdienste zu herausgehobenen Gelegenheiten im Schuljahr (z. B. Einschulung, Entlassung, Schuljahresabschluss, Jubiläen u.a.m.),
- Schulandachten, „Worte zum Tage“, meditative Auszeiten und Pausenangebote,
- zentrale Feste und Feiern im Kirchenjahr und in anderen Religionen,
- ökumenische Veranstaltungen zu besonderen Anlässen und Themen (z.B. Friedensgottesdienste, Erinnerungsfeiern etwa zur Reichspogromnacht, Trauerfeiern u. a. m.).
Gemeinschaftsbezogene Erfahrungsräume beziehen sich auf den intensiven und offenen Austausch in kleineren Gruppen, in denen ohne Zeitdruck Fragen des Lebenskonzepts und der Beziehungen etwa in einer Lerngruppe thematisiert, Orientierungsmöglichkeiten für den Einzelnen und die Gruppe ausgelotet und praktische Möglichkeiten des religiös-kulturellen Lernens mit Fremden erprobt werden. Auch Konflikte mit religiös-weltanschaulichem Hintergrund können in gemeinschaftsbezogenen Formen bearbeitet werden. Dazu gehören, auch in Zusammenarbeit mit der örtlichen Kirchengemeinde durchgeführte,
- Tage religiöser Orientierung und religiöse Schulwochen,
- Schülertreff-Clubs, Gospel-Arbeitsgruppen, meditative Pausentreffen,
- Einkehrtage, „Auszeit im Kloster“,
- Studienfahrten (z. B. Taize),
- Erinnerungsarbeit und Schüleraustausch (z.B. mit Jugendlichen aus Israel),
- Bearbeitung von Konflikten und Störungen mit religiösweltanschaulichem Hintergrund, etwa bei fundamentalistischen und intoleranten Verhaltensweisen.
Projektförmige Erfahrungsräume zielen auf die gemeinsame Gestaltung eines Vorhabens, das religiöse Implikationen oder thematische Bezüge zu religiösen Fragen aufweist:
- Gestaltung eines Andachtsraums oder eines Raumes der Stille,
- thematische Projekte im Rahmen des Ganztagsangebots (z. B. Ausstellung zu Kirchen, Synagogen und Moscheen in einer Stadt, Musicalaufführung mit religiösen Themen, Beteiligung an der Stolperstein-Aktion, Konzipierung einer Religionsrallye, Mitarbeit in einem Eine-Welt-Projekt, Erarbeitung eines interreligiösen Festkalenders),
- fachbezogene Projekte (z. B. zum Bereich Kunst und Religion, Musik und Religion, Politik/Geschichte und Religion),
- Sozialpraktikum (konzeptionell ausgestaltete Erfahrungsphase im sozialdiakonischen Bereich).
Personal bestimmte Erfahrungsräume nehmen Grenzerfahrungen wie schwere Verletzungen der menschlichen Würde, Krankheit, Tod, Erfahrungen des Scheiterns, Katastrophen, Verbrechen u. a. m. auf, die den Einzelnen, aber auch eine Lerngruppe oder sogar die gesamte Schulgemeinschaft vor existentielle Fragen stellen. Dabei ist ggf. dann professionelle Hilfe, Begleitung und Beratung in Anspruch zu nehmen, wenn das pädagogische Handlungsspektrum erschöpft ist:
- Bearbeitung individueller Lebensprobleme,
- Bearbeitung von Krisenerfahrungen etwa bei Todesfällen oder bei schwerer Erkrankung,
- erschütternde Ereignisse in gesellschaftlichen oder globalen Kontexten wie Amokläufe oder Naturkatastrophen.
Dabei zeigt das Beispiel der Schulseelsorge, die sich in den letzten Jahren weithin zu einem vitalen und innovativen Arbeitsfeld entwickelt hat, wie solche personal bestimmte Erfahrungsräume auf die Schule insgesamt ausstrahlen können. Ihre bewusste Ausgestaltung trägt bei zur Schulkultur sowie zur Schulentwicklung. Auch dadurch kann der Umgang mit kultureller und religiöser Vielfalt unterstützt werden.
5.4 Schulentwicklung und Schulprofil
Schulentwicklung meint den systematischen, zielgerichteten und selbstreflexiven Prozess, der der Verbesserung der Qualität der Schule als Institution und des Unterrichts dient. Dabei sind Entwicklungsprozesse auf der Mikroebene der einzelnen Schule und auf der Makroebene des regionalen und gesamten Bildungssystems zu unterscheiden. Der Begriff des Schulprofils bezeichnet das pädagogische Gesamtbild einer Schule mit all ihren Besonderheiten, ihren typischen Ausprägungen und der daraus resultierenden Unverwechselbarkeit. Zum Profil gehören u. a. das Leitbild einer Schule, die Traditionen, auf die sich eine Schule beruft, die Leitlinien für den Umgang der Schulgemeinschaft untereinander, die Schwerpunkte der Bildungs- und Erziehungsarbeit sowie die unter- richtlichen und außerunterrichtlichen Aktivitäten, die das Schulleben entscheidend mitprägen. Das pädagogische Profil einer Schule artikuliert sich im Schulprogramm, das man als „Gesicht“ einer Schule bezeichnen könnte.
Auf der Ebene der Schulentwicklung sind die Landesgesetzgeber und die Schuladministrationen zur Gewährleistung der Glaubens- und Religionsfreiheit nach Artikel 4 GG verpflichtet und haben daher auch in den Schulen die Möglichkeit der Religionsausübung zu sichern. Nur dann, wenn durch religiöse oder weltanschauliche Betätigung von Schülerinnen und Schülern eine konkrete, nicht durch pädagogische Maßnah-men behebbare Beeinträchtigung für den Schulfrieden ausgeht oder wenn eine solche Betätigung nicht mit den Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern vereinbar ist, können diese Grundrechte beschränkt werden. Deshalb kann die Inanspruchnahme der Glaubens- und Religionsfreiheit nicht unter Berufung auf eine abstrakte Gefahr oder auf die Neutralität des Staates aus dem Schulleben verbannt oder auf den Religionsunterricht beschränkt werden. Um der pädagogischen Aufgabe willen, angesichts religiöser und weltanschaulicher Vielfalt einen verständnisbereiten Umgang untereinander einzuüben, sollte die Schule vielmehr als offener Raum der Begegnung und Auseinandersetzung angelegt sein. Die Einzelschule braucht dafür eigene Gestaltungsmöglichkeiten, um solche Begegnungen und Auseinandersetzungen unterstützen zu können.
Aus pädagogischer Perspektive ist es wünschenswert, auch im Sinne der Transparenz für Eltern und Öffentlichkeit, dass vermehrt Schulen die Bearbeitung von Fragen religiöser und weltanschaulicher Orientierungen als spezifischen Akzent ihres Schulprofils ausweisen und als integralen Teil in ihr Schul-programm aufnehmen. Einübung in Spielregeln einer offenen, multireligiösen Gesellschaft, die aktive Suche nach Gemeinsamkeiten auch angesichts religiöser und weltanschaulicher Differenz, respektvoller Umgang miteinander, Achtung vor der Religionsfreiheit des anderen könnten zum Markenzeichen von Schulen werden, die erkannt haben, welche Bedeutung Religionen und Weltanschauungen in Deutschland und weltweit sowohl für das friedliche gemeinschaftliche Zusammenleben als auch für Konflikte haben.
5.5 Kompetenzen der Lehrkräfte
Das Bildungsziel „Pluralitätsfähigkeit“ ist nur in einer gemeinsamen Anstrengung aller Lehrkräfte einer Schule erreichbar. Die mitunter zu beobachtenden Vorbehalte und Distanz zur pädagogischen Gestaltung religiöser und weltanschaulicher Vielfalt resultieren auch daher, dass sich viele Lehrkräfte nur unzureichend für diese Aufgabe ausgebildet fühlen. Erfreulicherweise haben manche Bundesländer begonnen, in die Gesetze und Verordnungen zur Lehrerausbildung auch den Umgang mit Heterogenität im Rahmen interkultureller Bildung an exponierter Stelle als Ziel des Lehramtsstudiums auszuweisen. Interreligiöse Fragen spielen dabei aber noch zu selten eine Rolle. Auch für die zweite Phase der Lehrer- und Lehrerinnenbildung werden zunehmend Ziele wie „Vielfalt als Herausforderung annehmen und Chancen nutzen“ oder „die kulturelle und soziale Vielfalt in der jeweiligen Lerngruppe beachten“ vorgegeben. Unklar ist allerdings, anhand welcher Inhaltsbereiche die erforderlichen professionellen Kompetenzen erworben werden sollen, wie verbindlich entsprechende Angebote der Hochschulen sind und in welcher Weise förderliche Ausbildungsmodule an den Studienseminaren integriert werden.
Unabweisbar benötigen alle Lehrkräfte Basiskenntnisse über zentrale Traditionen und Glaubensrichtungen der großen Religionen, über deren religiöse Alltagspraxen und ethische Normen. Ähnliches gilt für zentrale weltanschauliche Strömungen. Probleme des religiösen und weltanschaulichen Fundamentalismus sollten zum Standardrepertoire des erziehungswissenschaftlichen oder philosophischen Studienanteils gehören, sofern kein eigener Studienanteil etwa im Sinne eines religionsbezogenen Grundlagenstudiums eingerichtet ist oder eingerichtet werden kann. Bei der Vermittlung solcher Basiskenntnisse sollten die Evangelisch-theologischen Fakultäten bzw. die Institute für Evangelische Theologie einbezogen werden.
Während des Studiums, des Vorbereitungsdienstes und der Berufseingangsphase sollen Lehrkräfte in Ausbildung grundlegende Kompetenzen erwerben, die sie befähigen, die Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Herkünfte und Positionen bei den Schülerinnen und Schülern in ihrer Schule wahrzunehmen. Hierbei ist es wichtig, deren pädagogische Tragweite einzuschätzen, mögliche Konflikte und Spannungen zu antizipieren und ihnen wirkungsvoll zu begegnen, pädagogische Handlungsmöglichkeiten für einen toleranten, religionsoffenen und respektvollen Umgang miteinander zu entwickeln und einzuüben sowie Chancen für interreligiöse Lehr- und Lerngelegenheiten und für einen dialogischen Gestaltungsprozess der religiösen Vielfalt im Schulleben zu nutzen.
Der Erwerb eines solchen anspruchsvollen Kompetenzspektrums bedarf insbesondere in der Berufseingangsphase sowie im Fortbildungsbereich wirksamer Unterstützung durch die Expertise der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Entsprechende Angebote in Kooperation mit Vertretern und Vertreterinnen anderer Religionen sollten flächendeckend vorgehalten werden.
5.6 Der Religionsunterricht als Anstoß für eine neue Schulkultur
Wenn die Entwicklung und Gestaltung einer dialogischen Schulkultur, die für die religiös-weltanschauliche Vielfalt offen ist, als programmatische und praktisch-pädagogische Aufgabe von der gesamten Schule wahrgenommen werden soll, bedarf es qualifizierter Initiativen, die die Herausforderung bewusst machen und reflektieren, sie in die schulische Öffentlichkeit tragen, den Eltern vorstellen, Kollegien für die Bearbeitung gewinnen und Konzepte für ihre Integration in Schulleben, Schulprofil und Schulprogramm entwickeln helfen. Lehrkräfte, die evangelischen, katholischen, islamischen oder jüdischen Religionsunterricht erteilen, könnten in Zusammenarbeit als Katalysatoren für den notwendigen nachhaltigen Entwicklungsprozess wirken, denn sie sind nicht nur Expertinnen und Experten auf diesem Gebiet, sondern üben den Umgang mit religiöser Vielfalt in ihrem eigenen Experimentierfeld Religionsunterricht täglich ein.
Dabei kommt ihnen zugute, dass die Religionspädagogik fundierte Konzepte für interreligiöses Lernen bereitstellt, dass die Kirchen über ein breit gefächertes Unterstützungs- und Fortbildungsangebot verfügen und dass vielfältige Erfahrungen von Schulen sowie von Lehrkräften dokumentiert sind, die Anregungen für schuleigene Entwicklungsprozesse liefern können.
Entscheidend für die Ausgestaltung einer entsprechenden Schulkultur dürfte sein, dass auch „religionslose“ ebenso wie atheistisch geprägte oder weltanschaulich anders orientierte Lehrkräfte, vor allem aber auch Eltern für diese schulische Gestaltungsaufgabe interessiert werden. Nicht zuletzt kommt der Schulleitung eine entscheidende Bedeutung in einem solchen Lern- und Entwicklungsprozess zu. Dieses Bemühen um Kooperationspartnerinnen und -partner wird umso eher Erfolg haben,
- je profilierter der Religionsunterricht an der Schule etabliert ist,
- klarer er sich als gleichwertiges, anspruchsvolles Fach im Konzert der Fächer zu erkennen gibt,
- offener und wertschätzender er selbst mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt umgeht,
- überzeugender er dafür eintritt, dass die Glaubens- und Religionsfreiheit eine elementare Grundlage unseres Zusammenlebens darstellt,
- stärker er sich für die schulische Gemeinschaft einsetzt und das Schulleben durch spezifische Angebote mitprägt.
Wenn die Schule es allen Schülerinnen und Schülern ermöglichen muss, religiöse Orientierung zu gewinnen, sich heute und in Zukunft in den religiösen und weltanschaulichen Konflikten zurechtzufinden, eine eigene religiöse oder weltanschauliche Identität zu entwickeln und für ein tolerantes Zusammenleben in einer demokratisch verfassten Gesellschaft einzutreten, dann könnte und sollte der Religionsunterricht zum Anstoß für eine neue Schulkultur werden, die das Gewinnen einer religiösen Orientierung in der Vielfalt als zentrale pädagogische Aufgabe ernst nimmt und die sich ebenso der Suche nach Gemeinsamkeiten verpflichtet weiß wie dem toleranten Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Differenz.