Religiöse Orientierung gewinnen
Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, November 2014
4. Religiöse Orientierung und pluralitätsfähiger Religionsunterricht: Leistungen und Reformbedarf
Die Grundaufgabe des evangelischen Religionsunterrichts besteht in der Ermöglichung einer religiösen Orientierung für Kinder und Jugendliche durch religiöse Bildung, die als unverzichtbarer Beitrag zur Schule insgesamt sowie zum Aufwachsen in einer pluralen Gesellschaft anzusehen ist. Das kirchliche Engagement für religiöse Bildung folgt dabei dem Auftrag der Kommunikation des Evangeliums. Durch den evangelischen Religionsunterricht gewinnen Kinder und Jugendliche Zugang zur christlichen Überlieferung — als Grundlage für den eigenen Glauben sowie als Begründung von Wertorientierungen sowohl für das persönliche als auch für das gesellschaftliche Leben. Kennzeichnendes Merkmal des evangelischen Religionsunterrichts bleibt die Chance einer authentischen und lebensbezogenen Begegnung und Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben. Die Situation der Pluralität wird dabei als konstruktiv anzunehmende Herausforderung gesehen sowie als mögliche Chance für Erfahrungen, durch welche die eigene Identität geklärt und bereichert werden kann. Eine so verstandene religiöse Orientierung ist die Voraussetzung für Pluralitätsfähigkeit, die ihrerseits als weiterreichender Horizont zu verstehen ist, in dem die Aufgaben des Religionsunterrichts neu bestimmt werden müssen.
Das Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit tritt nicht an die Stelle der bisherigen Ziele des Unterrichts, sondern es markiert einen weiterreichenden Bezug, mit dem diese auch weiterhin gültigen Ziele eine zusätzliche Bedeutung und Ausrichtung gewinnen. Dabei spielt das evangelische Verständnis von Konfessionalität eine entscheidende Rolle. Denn Pluralitätsfähigkeit bedeutet in evangelischer Sicht keineswegs den Verzicht auf klare religiöse Profile. Vielmehr wird ein evangelisches Profil als Voraussetzung von Pluralitätsfähigkeit zur Geltung gebracht.
4.1 Anforderungen
Pluralitätsfähigkeit als Ziel religiöser Bildung am Lern- und Lebensort Schule muss nach zwei Seiten hin ausgelegt werden. Zum einen muss der Religionsunterricht selbst pluralitätsfähig sein, damit er Kinder und Jugendliche, die unter den Voraussetzungen der Pluralität aufwachsen, überhaupt erreichen kann. Zum anderen handelt es sich bei der Pluralitätsfähigkeit um eine prozessorientierte Kompetenz, deren (Aus-)Bildung im Religionsunterricht unterstützt werden soll.
Pluralitätsfähige Gestalt des Religionsunterrichts
Die Pluralität beginnt bereits im Christentum selbst. Evangelische und katholische Kinder und Jugendliche besuchen ganz selbstverständlich dieselben pädagogischen Einrichtungen und begegnen dabei auch konfessionellen Unterschieden.
Zugleich hat aber auch innerhalb der Konfessionen die Vielfalt deutlich zugenommen. Dies zeigt sich nicht nur in unterschiedlichen Lebensstilen, sondern auch im Verhältnis zur Kirche, an deren Angeboten sich die Mitglieder in individuell sehr unterschiedlichem Maße beteiligen. Weiterhin tritt die Pluralität bei den Glaubensorientierungen selbst hervor, wenn beispielsweise, sozialwissenschaftlichen Umfragen zufolge, solche Unterschiede bei den Mitgliedern der evangelischen Kirche stark ausgeprägt sind — eine Situation, die heute auch in anderen Konfessionen anzutreffen ist.
Der Religionsunterricht kann die Kinder und Jugendlichen, die unter solchen Voraussetzungen aufwachsen, nur erreichen, wenn er folgenden Ansprüchen gerecht wird:
- Die Unterrichtenden müssen bereit und in der Lage sein, die für die Kinder und Jugendlichen in einer Lerngruppe bestimmenden religiösen Prägungen, Orientierungen und Interessen möglichst sensibel wahrzunehmen. In einer Situation, in der aufgrund des Wandels der religiösen Sozialisation immer weniger mit klar ausgeprägten religiösen Identitäten gerechnet werden kann, ist Wahrnehmungsfähigkeit die erste Anforderung eines pluralitätsfähigen Religionsunterrichts.
- Über die Wahrnehmung hinaus führt eine Haltung der bewussten Offenheit und Wertschätzung für unterschiedliche religiöse Voraussetzungen bei den Kindern und Jugendlichen. Als Folge der gesellschaftlichen Pluralisierung und Individualisierung werden Kinder und Jugendliche immer wieder Glaubensüberzeugungen zum Ausdruck bringen, die von den kirchlichen Erwartungen deutlich abweichen. Evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer sollen sich nicht einfach nach der religiösen Marktsituation richten und können nicht gleichsam alles akzeptieren, was ihnen in religiöser Hinsicht begegnet. Sie werden andere Überzeugungen achten, ohne deshalb darauf zu verzichten, ihre eigene Position deutlich zu machen.
- Den Religionsunterricht muss eine klar erkennbare Kommunikationsbereitschaft auszeichnen. Ein solcher Unterricht versteht Dialogfähigkeit nicht nur als Lernziel für eine noch ferne Zukunft, sondern zugleich als beständige Voraussetzung in der Gegenwart.
- Eine solche religiöse Dialogfähigkeit geht über die Kommunikationsbereitschaft insofern hinaus, als sie nicht nur eine kommunikativ freundliche Haltung einschließt, sondern auch einen verständigungsorientierten Umgang mit Gegensätzen meint.
In allen diesen Hinsichten darf die hier geforderte Offenheit allerdings nicht als Beliebigkeit missverstanden werden. Es ist vielmehr auch hier die Perspektive des evangelischen Glaubensverständnisses, welche die Offenheit allererst ermöglicht.
Unterschiedliche Modelle für den Religionsunterricht
In der bildungspolitischen, aber auch in der pädagogischen und religionspädagogischen Diskussion ist umstritten, wie Pluralitätsfähigkeit am besten gefördert werden kann. Die kontroversen Positionen in diesem Streit überschneiden sich mit der Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Konzeptionen für Religionsunterricht, Religionskunde und Ethikunterricht.
Im Bereich des Ethikunterrichts sowie verwandter Fächer wie LER (Lebensgestaltung — Ethik — Religionskunde, Brandenburg) wird häufig davon ausgegangen, dass Neutralität die beste Voraussetzung für eine Bildung zur Pluralitätsfähigkeit sei. Angestrebt wird dabei eine religionskundliche, allen religiösen Überzeugungen gleichermaßen distanziert begegnende, religionswissenschaftlich „objektive“ Darstellung, die genau deshalb Verständigung erlaube, weil sie sich keine Überzeugung zu eigen mache. Ihre Zuspitzung finden entsprechende Positionen im (französischen) Laizismus, der bestenfalls eine historische und philosophische Darstellung von Religion in der Schule zulässt. Fraglich ist allerdings, ob hier überhaupt noch von einer Bildung zu religiöser Dialogfähigkeit gesprochen werden kann. Wenn Äußerungen lebendiger Religion, einschließlich ihrer Unterschiede, in der Schule nicht zulässig sind, kann es auch nicht zu einem wirklichen Dialog kommen. Im Grunde ist ein solcher Dialog unter diesen Voraussetzungen auch nicht wirklich erforderlich, da die religiösen Unterschiede durch eine vermeintlich objektive Betrachtungsweise überwunden werden sollen.
Besonders in der Erziehungswissenschaft ist die Vorstellung einer Postkonventionalität verbreitet, das heißt einer Form der ethischen Begründung von Normen durch das Prinzip der Verallgemeinerbarkeit (Universalisierung) und damit unabhängig von gesellschaftlichen Vorgaben und jenseits aller religiöser Bindungen. In diesem Falle ist es dann die (Diskurs-) Ethik, die auch die Religionen und Weltanschauungen zu einem friedfertigen und toleranten Zusammenleben verpflichten soll. Erneut begegnet hier die Vorstellung einer allen Glaubensüberzeugungen vor- und übergeordneten Perspektive, die auch dann dem religiösen Selbstverständnis letzter Wahrheit widerspricht, wenn sie ethisch begründet wird. Insofern handelt es sich um eine Variante des Versuchs, den Religionen und Weltanschauungen von außen eine tolerante Haltung aufzunötigen, statt nach einer Begründung für eine solche Haltung in den religiösen Traditionen selbst zu suchen.
Innerhalb der Theologie wird in diesem Zusammenhang mitunter an die sogenannte pluralistische Religionstheologie gedacht. In der noch immer sehr einflussreichen Version, die auf den englischen Religionswissenschaftler John Hick zurückgeht, wird von der neukantianisch gedachten radikalen Nicht-Erkennbarkeit des Göttlichen ausgegangen. In populärer Form zeigt sich dies im Gleichnis vom Elefanten, der im Dunkeln betastet wird, was je nach erfasstem Körperteil zu unterschiedlichen Eindrücken und Urteilen über das Wesen des Elefanten führe. Die Grundfigur ist hier eine Verständigung durch Selbst-Zurücknahme, die jeden Absolutismus ausschließen soll. Bleibendes Problem ist aber der damit verbundene Relativismus (die Auffassung, keine Konfession oder Religion könne überhaupt verlässliche Aussagen bieten) sowie ein tendenziell vereinnahmender Umgang mit dem Fremden, der dessen Fremdheit nicht wirklich zur Geltung kommen lassen kann.
Die harmonisierende Konzentration allein auf das Gemeinsame und Verbindende ist häufig im Blick auf die christliche Ökumene anzutreffen, findet sich aber auch im interreligiösen Bereich. Gegenüber einem solchen „weichen Pluralismus“ wurde in der Religionspädagogik auf die bleibenden Unterschiede, Gegensätze und Widersprüche hingewiesen, deren Tragweite eher einen „harten Pluralismus“ (Karl Ernst Nip- kow) angemessen erscheinen lassen — nicht im Sinne einer Haltung der Unnachgiebigkeit, sondern einer realitätsbezogenen Berücksichtigung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, einer starken Toleranz und einer entsprechenden Differenzkompetenz im Dienste des Friedens.
In eine ähnliche Richtung geht die im Bereich der konfessionellen Kooperation entwickelte Programmformel „Gemeinsamkeiten stärken — Unterschieden gerecht werden“. Diese Position, die beiden Dimensionen, ebenso den Gemeinsamkeiten wie den Unterschieden, in Begegnung und Dialog gerecht werden soll, kann auch bei der Zusammenarbeit zwischen den religionsunterrichtlichen Angeboten verschiedener Religionen angewendet werden. Im Unterschied zu den religionskund- lichen Modellen wird hier gerade nicht davon ausgegangen, dass es eine den Konfessionen und Religionen übergeordnete Perspektive geben könnte. Erst dadurch wird ein wirklicher Dialog erreichbar, weil eine Vermittlung der Positionen dann allein im Dialog selbst, nicht aber durch eine vorausgesetzte diskurs- oder religionstheoretische Zugangsweise zu erreichen ist. Dies setzt im Übrigen eine konsequente Einübung des Perspektivenwechsels und der Koordination von Innen- und Außenperspektive, Selbst- und Fremdwahrnehmung voraus, wie sie inzwischen in der Religionspädagogik weithin als Kennzeichen religiöser Bildung überhaupt verstanden wird. Der für den kooperativen Unterricht bezeichnende wertschätzende Umgang auch mit religiösen und weltanschaulichen Unterschieden kann als spezifischer Beitrag des konfessionellen Religionsunterrichts zur Inklusion gesehen werden (vgl. 2.1). Nicht zuletzt kann bei einem solchen Unterricht erfahrbar werden, dass bleibende Unterschiede die Gemeinsamkeiten nicht aufheben und das miteinander Leben und Lernen interessant werden.
4.2 Bisherige Praxis
Schon jetzt finden sich in der Praxis zahlreiche Beispiele für das erfolgreiche Bemühen um einen Religionsunterricht, der sich an den Kriterien von Identität und Verständigung orientiert und der Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit eröffnet, religiöse Orientierung zu gewinnen. Im Blick auf die im Sinne von Gemeinsamkeit und Differenz zu bearbeitende Pluralität und Heterogenität sind fünf Aspekte zentral: die zunehmende Teilnahme nicht-evangelischer Kinder und Jugendlicher am evangelischen Religionsunterricht; konfessionelle Kooperation; interreligiöses Lernen; Kooperation mit dem Ethikunterricht; fächerübergreifende Themen und fächerverbindender Unterricht.
Teilnahme am evangelischen Religionsunterricht
Trotz sinkender Zahl evangelischer Schülerinnen und Schüler hat die Teilnahme am evangelischen Religionsunterricht in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die den evangelischen Religionsunterricht besuchen, obwohl sie selbst nicht evangelisch sind, ist in verschiedenen Bundesländern stark gewachsen. Das gilt gerade auch für einen Teil der östlichen Bundesländer, etwa für Mecklenburg-Vorpommern, wo schon seit längerer Zeit die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler am evangelischen Religionsunterricht teilnimmt, oder auch für Sachsen, wo der Anteil der sich an diesem Unterricht beteiligenden Schülerinnen und Schüler kontinuierlich gewachsen ist.
Viele Kinder und Jugendliche ohne Konfessions- oder Religionszugehörigkeit entscheiden sich zur Teilnahme aus eigenem Interesse an diesem Fach. Selbst wenn im Einzelfall auch schulorganisatorische Gründe bei einer solchen Entscheidung eine Rolle spielen mögen, signalisiert die steigende Teilnahme nicht-evangelischer Schülerinnen und Schüler ein breites Interesse von Eltern bzw. Kindern und Jugendlichen am evangelischen Religionsunterricht. Auch diese Entscheidung erfolgt auf grundrechtlicher Basis und ist daher zu ermöglichen. Offenbar gelingt es hier, auch konfessionslosen Kindern und Jugendlichen ein für sie sinnvolles Lernangebot zu machen. Dabei stellt die Zusammensetzung der Schülerschaft eine religionsdidaktische Herausforderung dar, die in Zukunft bei der Unterrichtsgestaltung, aber auch bei der Lehramtsausbildung eigens berücksichtigt werden muss.
Konfessionelle Kooperation
Bereits in „Identität und Verständigung“ wird ein konfessionell-kooperativer Religionsunterricht befürwortet, der vor allem die verstärkte Zusammenarbeit von evangelischem und katholischem Religionsunterricht im Blick hat, sich aber auch zu orthodoxem, jüdischem oder islamischem Religionsunterricht in ein Verhältnis setzt. Im Zentrum steht dabei eine dialogische Ausgestaltung des Unterrichts, die sich an Gemeinsamkeiten und Unterschieden orientiert. Für viele Lehrerinnen und Lehrer, aber auch für Eltern und für die Öffentlichkeit ist dies ein Zeichen gelebter Ökumene. Die Möglichkeit zur konfessionellen Kooperation und zum interreligiösen Lernen belegt für sie die Reform- und Pluralitätsfähigkeit des Religionsunterrichts. Man sieht darin einen deutlichen „Mehrwert“ an religiösen Lernprozessen, weil sowohl die religiöse Identitätsbildung unterstützt als auch die Dialogfähigkeit gestärkt wird.
1998 folgte ein gemeinsamer Text des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz und des Kirchenamts der Evangelischen Kirche in Deutschland „Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht“. Auf dieser Grundlage hat sich die Kooperation zwischen den beiden Fächern positiv weiterentwickelt: Inzwischen sind es bundesweit bereits mehr als 1500 Schulen, an denen ausdrücklich nach dem konfessionell-kooperativen Modell unterrichtet wird. Die Religionslehrerinnen und -lehrer beider Konfessionen arbeiten an den Schulen zusammen. Der Unterricht wird phasenweise oder für längere Zeiträume, die auch ein ganzes Schuljahr ausmachen können, in gemeinsamen Lerngruppen erteilt. Darüber hinaus wird die Religionslehrerin bzw. der Religionslehrer der je anderen Konfession auch zu bestimmten Themen und Fragestellungen in den jeweils anderen Religionsunterricht eingeladen. In der Lehreraus- und -fortbildung wird die Kooperation ebenfalls erfolgreich praktiziert.
Damit der konfessionell-kooperative Religionsunterricht tatsächlich einen „Mehrwert“ realisieren kann, sind thematische Vorgaben und Absprachen der Kirchen auf der Basis der Bildungsstandards bzw. (Kern-)Curricula beider Konfessionen erforderlich. Darauf aufbauend können die Fachkonferenzen vor Ort eine Kooperation weiter ausgestalten. Inzwischen öffnen fast alle Bildungspläne in Deutschland Fenster zur anderen Konfession und ermöglichen zahlreiche Gemeinsamkeiten. Nicht zuletzt weisen auch die Einheitlichen Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung beider Konfessionen (Kultusministerkonferenz 2007) in den zu erwerbenden grundlegenden Kompetenzen viele Gemeinsamkeiten auf. Bei der Umsetzung der konfessionellen Kooperation ist durchweg darauf zu achten, dass die konfessionsbezogenen Ausgangslagen tatsächlich wahrgenommen werden und ein differenzsensibles Lernen in Gemeinsamkeiten und Unterschieden möglich wird.
Umso weniger vermag es einzuleuchten, dass bei weitem nicht in allen Bundesländern offizielle Vereinbarungen zur konfessionellen Kooperation getroffen werden konnten. Das Modell des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts mag sich nicht gleichermaßen für alle Bundesländer eignen, aber alle christlichen Kirchen sollten sich auch im Blick auf den Religionsunterricht zu offiziell geregelten Formen der Zusammenarbeit verpflichten.
Interreligiöses Lernen
Bereits 1971 hat die EKD darauf hingewiesen, dass die „Grundsätze der Religionsgemeinschaften“ nach evangelischem Verständnis für den Religionsunterricht auch das Bemühen einschließen, „Andersdenkende zu verstehen“. Schon damals wurde erkannt, dass dies auch „für die Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Religionen und nichtreligiösen Überzeugungen“ gelten muss. In der Denkschrift „Identität und Verständigung“ ist „die in Zukunft noch zunehmende Aufgabe interreligiösen Lernens“ (IuV 80) ebenfalls im Blick.
Auch in der religionsunterrichtlichen Praxis hat sich das Anliegen interreligiösen Lernens zumindest ein Stück weit durchgesetzt. Die Lehrpläne und Unterrichtsinhalte des konfessionellen Religionsunterrichts werden so gestaltet, dass darin die Beziehungen zu anderen Religionen in Geschichte und Gegenwart Berücksichtigung finden. Die Begegnung vollzieht sich hier in erster Linie auf der Ebene der Unterrichtsinhalte, ohne dass es notwendig zu einem gemeinsamen Lernen mit Angehörigen anderer Religionen kommen muss. Von interreligiösem Lernen kann insofern gesprochen werden, als nicht mehr wie noch in früherer Zeit vor allem auf die Überlegenheit der eigenen Religion abgehoben wird. Stattdessen geht es um prinzipiell dialogisch ausgerichtete Lernprozesse, die von Toleranz, Respekt und Anerkennung des anderen geprägt sind, ohne dass Wahrheitsfragen deshalb ausgeklammert würden.
Zum interreligiösen Lernen gehört auch die persönliche Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen. Dafür gibt es beim Religionsunterricht mehrere, differenziert zu beurteilende Möglichkeiten — angefangen bei Einladungen entsprechender Personen in den Unterricht über Besuche religiöser Einrichtungen bis hin zu einem gemeinsamen Unterricht mit Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit. Für einen solchen Unterricht werden wiederum unterschiedliche Wege realisiert: zeitweise Kooperation zwischen verschiedenen Formen von Religionsunterricht (etwa evangelischer und islamischer Religionsunterricht); dauerhaft gemeinsamer Unterricht im Klassenverband (vor allem in Berufs- und Förderschulen); programmatisches Angebot eines Religionsunterrichts, an dem alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit teilnehmen (sog. Hamburger Weg). Ohne Zweifel gehört zur Pluralitätsfähigkeit nicht nur ein Sprechen über die Religion der anderen, sondern auch ein dialogischer Austausch mit ihnen. Für die bisher verfügbaren Modelle sind jedoch ungelöste Schwierigkeiten kennzeichnend:
- Einladungen und Besuche können eine wichtige Bereicherung sein. Der punktuelle Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern anderer Religionen führt allein aber nicht zu einer authentischen Begegnung. Ähnliches gilt für den Besuch von Kirchen oder Moscheen.
- Religionsunterrichtliche Kooperationen in der Gestalt einer Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Formen von Religionsunterricht über den Bereich des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts hinaus sind wünschenswert, aber bislang noch sehr selten. Dazu liegen auch noch keine wissenschaftlichen Befunde vor.
- In den berufsbildenden Schulen wird der Religionsunterricht weithin als evangelisch-katholisch kooperativer Religionsunterricht erteilt; muslimische Schülerinnen und Schüler beispielsweise nehmen daran nur auf freiwilliger Basis teil.
- Auch der „Religionsunterricht für alle“ in Hamburg wurde bislang allein in evangelischer Verantwortung erteilt. Rechtlich gesehen muss er auch bei einer Schülerschaft, die keine gemeinsame Konfessions- oder Religionszugehörigkeit aufweist, zumindest ein „Mindestmaß an 'evangelischem' Profil“ bzw. eine zumindest „gewisse Schwerpunktsetzung bei dem, was 'evangelisch' ist“ (Christoph Link), aufweisen. Auch in diesem Falle ist die Teilnahme nichtchristlicher Schülerinnen und Schüler nur auf freiwilliger Basis möglich. Dass solche Fragen auch in Hamburg selbst virulent sind, zeigen die neuen Vereinbarungen zwischen der Stadt Hamburg und muslimischen bzw. alevitischen Vereinigungen, die ausdrücklich einen u. a. islamischen Religionsunterricht ermöglichen. Was dies für den Hamburger Weg beim Religionsunterricht bedeutet, lässt sich gegenwärtig noch nicht absehen. Die bisherige Form einer evangelischen Verantwortung für den gesamten Religionsunterricht wird sich kaum durchhalten lassen. Möglicherweise könnte sich der Hamburger Religionsunterricht deshalb in Zukunft dem kooperativen Religionsunterricht annähern, wie er in anderen Bundesländern praktiziert wird und der auch die Möglichkeit einer über das Christentum hinausreichenden Zusammenarbeit einschließt.
Ein übergreifendes Kriterium für interreligiöses Lernen ist darin zu sehen, dass die Selbstinterpretation der Religionen und also auch die jeweilige Glaubensüberzeugung konstitutive Berücksichtigung findet. Eine Beschäftigung mit den Religionen allein unter dem Aspekt der Ethik bleibt unzureichend.
Interreligiöses Lernen sollte konsequent als Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive konzipiert werden, so dass die Schülerinnen und Schüler durch die Auseinandersetzung mit dem anderen und Fremden das Eigene besser verstehen und zugleich für andere offen werden bzw. bleiben. Dafür kann die Präsenz von Lehrpersonen unterschiedlicher Konfessionsund Religionszugehörigkeit (Team-Teaching) ebenso von Vorteil sein wie die Einrichtung von religionsunterrichtlichen Angeboten über die christlichen Formen hinaus. Die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts sollte so gesehen mit dem verstärkten Bemühen um Kooperation verbunden werden, um ein bloßes Nebeneinander verschiedener Formen von Religionsunterricht von vornherein zu vermeiden.
Kooperation mit dem Ethikunterricht
In fast allen Bundesländern existiert ein Ersatz- bzw. Alternativfach für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen. Angesichts vielfältiger religiöser und weltanschaulicher Sinnangebote soll auch ihnen eine klärende Auseinandersetzung ermöglicht werden. Alle Kinder und Jugendlichen müssen sich mit ethischen Fragen auseinandersetzen.
Das Alternativangebot zum konfessionellen Religionsunterricht wird regional unterschiedlich bezeichnet: Ethik, Werte und Normen, Praktische Philosophie, Philosophieren mit Kindern usw. Die Denkschrift „Identität und Verständigung“ strebte eine Kooperation mit diesen Fächern im Rahmen einer Fächergruppe religiöser und ethischer Bildung an und wollte so zum fächerverbindenden Lernen in der Schule beitragen. So gibt es vielerorts Bemühungen um eine Zusammenarbeit zwischen dem Religionsunterricht und dem Ethikunterricht, bislang allerdings noch zu selten.
Die Kooperation wird erschwert, wenn der Religionsunterricht nicht als gleichberechtigter Partner des Ethikunterrichts anerkannt wird. Das ist insbesondere in Brandenburg sowie in Berlin der Fall, wo nur LER bzw. der Ethikunterricht als ordentliche Unterrichtsfächer anerkannt sind, während der Religionsunterricht ein nicht gleichwertiges Alternativfach für Schülerinnen und Schüler ist, die nicht an LER teilnehmen (Brandenburg), bzw. ein freiwilliger Zusatzunterricht (unter Anwendung von Artikel 141 GG in Berlin).
Fächerübergreifende Themen und fächerverbindender Unterricht
Im Religionsunterricht werden regelmäßig Themen und Fragestellungen behandelt, die über die Grenzen eines einzelnen Faches hinausreichen. Besonders deutlich ist dies in der Sekundarstufe II: Hier werden ethische und erkenntnistheoretische Themen bearbeitet, zum Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft, Schöpfung und Evolutionstheorie, Formen der Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit usw.; dazu kommen, besonders in berufsbildenden Schulen, ethische und religiöse Bezüge der Arbeitswelt, Menschenbilder, ökonomische Fragen usw. Auf diese Weise stärkt der Religionsunterricht fächerübergreifende, zum Teil auch ausdrücklich interdisziplinäre Zusammenhänge, die für die Bildung insgesamt bedeutsam sind. Zugleich wird auch hier die Ausbildung von Pluralitätsfähigkeit unterstützt, etwa wenn das Verhältnis zwischen religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungen (Atheismus, Materialismus, Monismus usw.) analysiert wird.
Fächerverbindende Zusammenarbeit kommt in der Praxis der Schule insgesamt weit seltener vor, als dies wünschenswert wäre. Immer wieder ist der Religionsunterricht an solchen Formen der Zusammenarbeit beteiligt — im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften, Projekten und Projekttagen, aber auch im Rahmen des regulären Unterrichts. Dabei werden ebenfalls Themen bearbeitet, die unter dem Aspekt der religiösen und weltanschaulichen Pluralität besondere Probleme aufwerfen.
Unter allen fünf beschriebenen Aspekten — wachsende Heterogenität der Schülerschaft, konfessionelle Kooperation, interreligiöses Lernen, Zusammenarbeit mit dem Ethikunterricht, fächerübergreifende Themen und fächerverbindender Unterricht — erweist sich der Religionsunterricht schon heute als ein Bildungsangebot, durch das die Pluralitätsfähigkeit und der Erwerb entsprechender Kompetenzen entschieden gefördert werden. Dennoch sind hier in Zukunft weitere Anstrengungen erforderlich.
4.3 Schritte zur Weiterentwicklung
Aus den Beobachtungen zur Praxis des Religionsunterrichts sowie aus deren Erörterung und Bewertung ergeben sich Perspektiven für die Weiterentwicklung des evangelischen Religionsunterrichts:
Pluralitätsfähige Religionsdidaktik
Die Anforderungen an die Religionsdidaktik haben sich nachhaltig verändert. Sie sind deutlich gewachsen, und sie werden in Zukunft wohl noch deutlich weiter wachsen. Ihre Pluralitätsfähigkeit muss diese Didaktik zugleich in mehreren Richtungen verstärken.
Zumindest in gewisser Hinsicht ist hier von einem grundlegenden Wandel auszugehen. Noch vor 50 Jahren konnte in der Religionsdidaktik davon die Rede sein, dass der Religionsunterricht ein Angebot an die getauften Christen in der Schule sein wolle. Insofern sollte er als „Kirche in der Schule“ verstanden werden. Demgegenüber besuchen heute viele Schülerinnen und Schüler den Religionsunterricht, die weder der evangelischen Kirche angehören noch getauft sind. Zum Teil handelt es sich um Angehörige anderer Konfessionen oder Religionen, zum Teil um konfessionslose Kinder und Jugendliche. Dazu kommt noch eine fast durchweg von Individualisierung und Pluralisierung bestimmte religiöse Sozialisation, bei der zunehmend weniger ein positives Verhältnis zur Kirche angebahnt oder bewusst evangelisch ausgerichtete Überzeugungen vermittelt werden. Deshalb stellen sich die im Folgenden genannten Herausforderungen auch keineswegs allein in der Schule, sondern auch an gemeindlichen Lernorten wie der Konfirmanden- und Jugendarbeit.
Das Interesse am evangelischen Religionsunterricht, das in der weit über die Kirchenmitgliedschaft hinausreichenden Beteiligung von Kindern und Jugendlichen zum Ausdruck kommt, ist ausdrücklich zu begrüßen. Die Offenheit des evangelischen Religionsunterrichts für andere muss aber auch didaktisch nachvollzogen werden. Lernangebote sind so auszugestalten, dass sie nicht nur dann Erfolg versprechen, wenn eine religiöse Sozialisation vorausgesetzt werden kann oder eine innere Zustimmung zu der christlichen Glaubensüberlieferung, der sich der evangelische Religionsunterricht und die in ihm tätigen Lehrkräfte verpflichtet wissen. Lange Zeit herrschte das Verständnis vor, dass der Religionsunterricht Erfahrungen mit der Kirche und mit christlicher Religion, die von den Schülerinnen und Schülern in die Schule bereits mitgebracht werden, kritisch reflektieren soll. Angesichts der heutigen Zusammensetzung von Lerngruppen und ihrer Er-fahrungen kann das oft nicht mehr greifen. Wo es beispielsweise an Erfahrungen mit dem Gottesdienst fehlt, lassen sich entsprechende Erfahrungen nicht einfach zum Thema machen. Die Religionsdidaktik hat deshalb ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten beispielsweise eines erfahrungsbezogenen, elementarisierenden, performativen oder konstruktivistischen Religionsunterrichts entwickelt, die auf die veränderte Situation eingehen. Diese Ansätze müssen in Zukunft aber noch stärker auf die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft im Religionsunterricht ausgerichtet werden, beispielsweise auch mit Hilfe individualisierter Lernangebote und innerer Differenzierung sowie unter Aufnahme unterschiedlicher Vorverständnisse und Zugangsweisen. Die Grundsituation eines Religionsunterrichts, der kein Einverständnis im Glauben voraussetzen kann, darf nicht überspielt werden. Darüber hinaus sind umfassendere Formen der Evaluation anzustreben, damit eine vergleichende empirisch gestützte Auswertung von Erfahrungen mit unterschiedlichen religionsdidaktischen Ansätzen unter dem Aspekt ihrer Pluralitätsfähigkeit möglich werden kann.
Ihre Aufgaben wird eine pluralitätsfähige Religionsdidaktik nur dann erfüllen können, wenn sie stärker als bisher über den Kontext des Faches und auch der Schule hinaus denkt. Erfahrungen mit neuen Modellen für die Zusammenarbeit zwischen evangelischer Jugendarbeit und Schule unterstreichen dies auf ihre Weise. Unterschiedliche Ansätze und Erfahrungen aus der Tradition schulischer und außerschulischer Pädagogik und Religionspädagogik können einander sinnvoll ergänzen. Die Bedeutung informeller und non-formaler religiöser Bildung auch für den Religionsunterricht ist längst erkannt, wird in den didaktischen Modellen aber noch kaum systematisch aufgenommen. Auf diese Weise werden nicht zuletzt mögliche Synergieeffekte oder Vernetzungsmöglichkeiten etwa zwischen Religionsunterricht und Konfirmanden- oder Jugendarbeit nicht genutzt.
Obwohl seit inzwischen mehr als 20 Jahren Erfahrungen mit konfessionell-kooperativem (evangelisch-katholischem) Religionsunterricht verfügbar sind, steht eine entsprechende Didaktik, die speziell auf diese Zusammenhänge eingestellt ist, noch immer an den Anfängen. Die mitunter anzutreffende Auffassung, konfessionelle Kooperation sei lediglich eine Frage der Organisation — eben dass evangelische und katholische Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet werden —, geht aber an den Erfordernissen der Praxis vorbei. Wenn beispielsweise evangelische Kinder und Jugendliche auch ein Verständnis für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Blick auf die katholische Tradition erreichen sollen, ist dazu ein didaktisch reflektiertes und bewusst gestaltetes Angebot erforderlich.
Noch mehr gilt die Forderung nach der Ausbildung einer auf neue Aufgaben und Herausforderungen eingestellten Didaktik im Blick auf interreligiöse Lernzusammenhänge sowie im Verhältnis zu nicht-religiösen Weltanschauungen. Die damit verbundenen religionsdidaktischen Aufgaben machen ein enges Zusammenspiel von Praxis und Theorie erforderlich, bei dem die praktischen Erfahrungen mit didaktischen Prinzipien verbunden werden können. Dabei muss auch die Zusammenarbeit zwischen Religionspädagogik und Systematischer Theologie gestärkt werden. Immer wieder geht es um Verhältnisbestimmungen zwischen unterschiedlichen Glaubensweisen, um die Frage nach Wahrheit sowie um Weltanschauungen — um Problemstellungen also, die zu den Aufgaben systematisch-theologischer Arbeit gehören. Auch wenn die Ergebnisse dieser Arbeit nur selten unmittelbar in die schulische Praxis übernommen werden können, ist der Einfluss einer konstruktiv-kritischen Zusammenarbeit zwischen Systematischer Theologie und Religionspädagogik besonders wichtig.
Während die Arbeit an fächerübergreifenden Themen in der Religionsdidaktik seit langem reflektiert wird, fand der fächerverbindende Unterricht selbst vergleichsweise wenig Beachtung. Darin spiegelt sich eine in der Schule wenig ausgebildete interdisziplinäre Praxis und damit eine Grenze, die für die Zukunft nicht länger maßgeblich sein kann. Sinnvoll wäre es, in dieser Hinsicht systematische Schul- und Unterrichtsversuche in Gang zu bringen. Schulen in evangelischer Trägerschaft, die sich schon in früherer Zeit um einen solchen fächerverbindenden Unterricht bemüht haben, könnten dabei eine wichtige Rolle spielen.
Ein pluralitätsfähiger und mehrseitig dialogisch offener Religionsunterricht ist auf interdisziplinäre Kooperationen angewiesen, nicht zuletzt auch mit lebens- und naturwissenschaftlichen Fächern. Organisatorische Unterstützung für solche kooperative Vorhaben gehört deshalb zu den vordringlichen Aufgaben von Schulleitungen, aber auch von Kirche sowie staatlicher Schulaufsicht.
Weiterentwicklung der rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen
Für die Evangelische Kirche in Deutschland bleibt die grundgesetzliche Verankerung des evangelischen Religionsunterrichts nach Artikel 7 Absatz 3 GG Ausgangspunkt aller Überlegungen zu seiner rechtlichen und organisatorischen Gestaltung. Die Möglichkeit der Teilnahme am schulischen Religionsunterricht als Ausdruck der positiven Religionsfreiheit muss ebenso gewahrt bleiben wie die Möglichkeit der Teilnahme an einem alternativen Unterricht, wenn die Abmeldung vom Religionsunterricht aus Gewissensgründen erfolgt. Die rechtliche und organisatorische Konkretion der Religionsfreiheit in der Schule darf für die Schülerinnen und Schüler zu keiner Ungleichbehandlung bei der Wahrnehmung der einen oder anderen Ausdrucksform führen.
Der Religionsunterricht ist rechtlich nicht nur ein evangelischer, katholischer oder orthodoxer, sondern auch ein jüdischer oder, in Zukunft, ein islamischer, ggf. alevitischer Religionsunterricht. Die Erfüllung des Rechtsanspruchs auf Religionsfreiheit in der Schule wird zunehmend dort problematisiert, wo Schülerinnen und Schüler verschiedener Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen aufeinandertreffen oder wo die Zahl der konfessionslosen Schülerinnen und Schüler die Zahl der konfessionell gebundenen übersteigt. Die Verschiedenheit der konfessionellen Angebote mit ihrem je eigenen Rechtsanspruch stellt die Schule nicht selten vor erhebliche Herausforderungen. In manchen Schulen werden konfessionell begründete separate Lerngruppen inzwischen in Frage gestellt unter Verweis auf die gesellschaftliche Bedeutung des interreligiösen und interkulturellen Dialogs sowie die pädagogische Bedeutung gemeinsamen Lernens. Hinzu kommt, dass ein differenziertes religionsunterrichtliches Angebot als zu „ressourcenintensiv“ angesehen wird. Deshalb reagieren manche Schulen mit schuleigenen Lösungen, welche die verfassungsmäßig garantierten Religionsrechte nicht mehr eindeutig und kenntlich abbilden und die insofern als problematisch zu beurteilen sind.
Der fachspezifische Bildungsauftrag des evangelischen Religionsunterrichts leitet sich aus dem allgemeinen Bildungsauftrag der Schule ab und entspricht zugleich dem Bildungsanliegen der Kirche (Religionsunterricht als „gemeinsame Angelegenheit“). Folgende Voraussetzungen, die nicht nur für den evangelischen Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach im Sinne von Artikel 7 Absatz 3 GG zu gelten haben, sind aus Sicht der Evangelischen Kirche in Deutschland grundlegend und insofern zukunftsweisend zugleich:
- die rechtliche und organisatorische Verankerung des Religionsunterrichts als durchgehendes Pflichtfach in allen Schuljahrgängen in den Schulen grundsätzlich aller Schulformen sowie als zugelassenes Prüfungsfach in schulischen Abschlussprüfungen, wobei die Umsetzung dieser Vorgabe durch die Schulaufsicht auch überprüft werden muss,
- die Bewertung der Schülerleistung im Religionsunterricht und die Versetzungsrelevanz des Bewertungsergebnisses,
- die Erteilung des Religionsunterrichts in deutscher Sprache unter staatlicher Fach- und Rechtsaufsicht sowie seine Begleitung und Mitverantwortung durch Kirchen oder Religionsgemeinschaften,
- die Erteilung des Religionsunterrichts durch staatlich ausgebildete und grundsätzlich staatlich beschäftigte Lehrkräfte auf der Basis staatlich sowie durch die Kirchen und Religionsgemeinschaften genehmigter Lehrpläne und Schulbücher.
Zur weiteren Stärkung der Pluralitäts- und Dialogfähigkeit des evangelischen Religionsunterrichts sollten folgende Bedingungen gewährleistet sein:
- Der evangelische Religionsunterricht wird überall dort erteilt, wo die schulrechtlich vorgegebene Mindestzahl evangelischer oder sich am evangelischen Religionsunterricht beteiligender Schülerinnen und Schüler, ggf. auch schuljahrgangsübergreifend, erreicht wird. Er ist offen für Schülerinnen und Schüler anderer Religionsgemeinschaften oder Weltanschauungen sowie für konfessionslose Schülerinnen und Schülern und lädt sie zur Teilnahme ein. In diesem Sinne versteht sich der evangelische Religionsunterricht als ein Angebot für alle, die seiner Einladung aus freier Entscheidung folgen möchten. Diese Offenheit sowie die sich daraus ergebende Heterogenität erfordert auch eine ausreichende Versorgung der Schule mit Religi-onslehrkräften, die sich nicht allein an der Anzahl evangelischer Schülerinnen und Schüler bemessen lässt.
- Im Dialog mit der katholischen Kirche ist zu klären, ob und unter welchen Voraussetzungen konfessionell-kooperativer Religionsunterricht als Option in allen Schuljahr-
97 gängen und in den Schulen aller Schulformen ermöglicht werden kann. Maßgeblich ist das Anliegen, durch konfessionelle Kooperation ein verbessertes Lernangebot zu schaffen, bei dem Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen gestärkt und der Umgang mit bleibenden Unterschieden eingeübt werden kann. Der Unterricht basiert auf einem Lehrplan und auf Unterrichtsmaterialien, die in Abstimmung mit den beiden Kirchen vorgegeben und zugelassen werden. Auch in Zukunft sollen dabei die besonderen Erfordernisse in Förderschulen oder im beruflichen Bildungswesen Berücksichtigung finden.
Entscheidend wird es sein, die Einrichtung konfessionell-kooperativer Angebote durch klare Vereinbarungen zwischen den Kirchen auf eine sichere Grundlage zu stellen und in der Praxis zu erleichtern. Zur praktischen Realisierung kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht. Übergreifendes Ziel muss es sein, die auch bei der konfessionellen Kooperation maßgeblich bleibende Bekenntnisbindung ebenso zum Tragen zu bringen wie die Kooperation als dialogisches Prinzip. Deshalb bleibt der konfessionell-kooperative Religionsunterricht der Kon-fession zugeordnet, der die unterrichtende Lehrkraft angehört. Im Falle von phasenweiser Kooperation oder bei Team-Teaching müssen von Fall zu Fall angemessene Zuordnungen gefunden werden.
Der konfessionell-kooperative Religionsunterricht ist offen für Schülerinnen und Schüler anderer Religionsgemeinschaften oder Weltanschauungen sowie für konfessionslose Schülerinnen und Schüler. Auch er ist in diesem Sinne ein Angebot für alle, die seiner Einladung aus freier Entscheidung folgen. - Darüber hinaus bietet der kooperative Religionsunterricht die Möglichkeit, geeignete Themenstellungen auch gemeinsam mit einem jüdischen oder islamischen Religionsunterricht in der Schule zu bearbeiten. Auch dabei wird die rechtliche Eigenständigkeit des jeweiligen Religionsunterrichts nicht aufgegeben.
Die Kooperation mit einem islamischen oder, wo möglich, einem jüdischen Religionsunterricht dient dem interreligiösen Lernen. Insofern ist auch diese Form der Kooperation an Gemeinsamkeiten und Unterschieden ausgerichtet. Sie sollte in Zukunft auch dort, wo sie beispielsweise mit organisatorischen Schwierigkeiten verbunden ist, deutlich gestärkt und ebenso von Seiten der Schule unterstützt werden. Dazu müssen ggf. lokale und regionale Absprachen getroffen werden, damit hier gezielt zumindest Versuche kooperativen Lehrens und Lernens eingerichtet werden können. Dabei sind die bei interreligiöser Zusammenarbeit veränderten theologischen Voraussetzungen und die spezifische Differenz zwischen Kooperationen christlicher Konfessionen untereinander und zwischen Kooperationen unterschiedlicher Religionen zu berücksichtigen. - Schon in seinen Thesen zum Religionsunterricht von 2006 hat es der Rat der EKD ausdrücklich begrüßt, „wenn sich der Religionsunterricht und der Ethikunterricht wechselseitig als Dialogpartner verstehen“. Vorausgesetzt wird dabei allerdings ausdrücklich, dass nicht versucht wird, „den Religionsunterricht durch allein vom Staat verantwortete Pflichtfächer wie Religionskunde oder Werteunterricht zu verdrängen. Ebenso abzulehnen ist es, wenn der Religionsunterricht dadurch abgewertet wird, dass dieser Unterricht nur bei gleichzeitiger Teilnahme am staatlichen Pflichtfach Religionskunde oder Werteunterricht und also bei einem für Kinder und Jugendliche kaum plausiblen Mehraufwand besucht werden kann“.
Ohne die deutlichen Unterschiede zwischen Religionsund Ethikunterricht zu verwischen, bleibt die Kooperation dieser Fächer wünschenswert. Sie bietet die Möglichkeit, beispielsweise religiöse und nicht-religiöse Aspekte zentraler Themen gemeinsam zu bearbeiten. Auf diese Weise können Vorurteile abgebaut sowie zusätzliche Lernchancen genutzt und kann insgesamt die Pluralitätsfähigkeit aller Schülerinnen und Schüler gestärkt werden. - Es ist zu begrüßen, wenn der fachspezifische Bildungsauftrag des evangelischen Religionsunterrichts in der Schule über den Unterricht hinaus gemeinsam mit denjenigen wahrgenommen wird, die in der Schule ebenfalls Verantwortung für die religiöse, ethische und philosophische Bildung tragen. Diese Gemeinsamkeiten können wahrgenommen und realisiert werden etwa in gemeinsamen Fachkonferenzen, gemeinsamen Fachabsprachen, gemeinsamen Schulveranstaltungen, Schulfeiern und Schulriten, gemeinsamer Begehung kirchlicher bzw. anderer religiöser Feiertage während der Schulzeit, gemeinsamen Besuchen religiöser Stätten außerhalb des Unterrichts etc. Derartige Gemeinsamkeiten sind besonders geeignet, sowohl die Pluralitäts- und Dialogfähigkeit des evangelischen Religionsunterrichts als auch der Schule hervorzuheben und zu stärken. Die bleibende Berechtigung evangelischer oder christlich-ökumenischer Schulgottesdienste wird dadurch nicht in Frage gestellt.
Lehrerbildung und wissenschaftliche Begleitung
Es versteht sich von selbst, dass die veränderten Aufgaben für den Religionsunterricht auch eine veränderte Ausbildung voraussetzen. Beispielsweise kann ein Ausbau der konfessionellen Kooperation oder auch der Kooperation mit einem jüdischen und islamischen Religionsunterricht kaum erwartet werden, wenn solche Kooperationsformen nicht auch im Studium angebahnt und ansatzweise praktiziert werden. Kooperative Lehrveranstaltungen im Rahmen des Religionslehramtsstudiums sind deshalb ausdrücklich zu begrüßen. Das gilt auch im Blick auf die Ausbildung für den Ethikunterricht.
Schließlich hat sich am Beispiel des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts gezeigt, dass die Einführung neuer religionsdidaktischer Modelle von einer wissenschaftlichen Begleitung erheblich profitieren kann. Dieses Instrument wird im Bereich der Religionspädagogik und der Kirchen noch viel zu wenig genutzt. Es steht außer Frage, dass die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts in hohem Maße von einer gezielten wissenschaftlichen Begleitforschung profitieren kann.
4.4 Religionsunterricht als Ort der Reflexion religiöser Vielfalt in der Schule
Aus der Stellung des Religionsunterrichts in einer Schule, die zunehmend von religiöser und weltanschaulicher Vielfalt geprägt ist, ergeben sich auch neue Aufgaben für diesen Unterricht, und zwar auch im Blick auf die Schule insgesamt. Ein Religionsunterricht, der dem Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit dient, sollte gleichzeitig als ein Ort verstanden und ausgestaltet werden, an dem die in der eigenen Schule vorhandene sowie mehr oder weniger bewusst gelebte Vielfalt reflexiv aufgenommen und eingeholt werden kann. Im Religionsunterricht können verschiedene Arten und Weisen, mit dieser Vielfalt umzugehen, ausdrücklich thematisiert werden. Darüber hinaus kann gemeinsam erörtert werden, welche Formen des Umgangs mit der Pluralität sich mit welchen Folgen verbinden und welche deshalb den Vorzug vor anderen verdienen. So können die Schülerinnen und Schüler sich Kriterien erarbeiten oder aneignen, die ihre Urteils- und Handlungskompetenz auch im Alltag der Schule stärken.
Damit bezieht sich der Religionsunterricht auf eine Lebenspraxis, die in ihren religiösen und weltanschaulichen Hintergründen in der Schule sonst kaum einmal thematisch wird. Durch die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Pluralität trägt der Religionsunterricht auch in dieser Hinsicht zum allgemeinen Bildungsauftrag der Schule bei. Denn der kompetente Umgang mit der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt gehört inzwischen zu den Aufgaben der Schule insgesamt.
Wenn der Religionsunterricht diese Aufgabe tatsächlich erfüllen soll, wird für diesen Unterricht allerdings eine didaktische Orientierung erforderlich, die nicht nur in einem interdisziplinären Sinne über das Fach hinausweist, sondern auch in einem sozialen oder institutionellen Sinne. Ein solcher Religionsunterricht kann beispielsweise erfahrungsbezogen Themen aus der eigenen Schule aufnehmen: Wie soll in der Schule Weihnachten gefeiert werden, wenn nicht alle Schülerinnen und Schüler dem Christentum angehören? Kann oder muss es an der Schule eine gemeinsame Feier zum Ramadan geben? Soll in der Schulmensa nur noch schweinefleischfreies oder vegetarisches Essen angeboten werden? Gibt es auch an der eigenen Schule Diskriminierungserfahrungen aufgrund der Religionszugehörigkeit? usw. Solche Fragen müssen zwar von der Schule insgesamt geklärt werden, also etwa im Lehrerkollegium. Zugleich bleibt es aber sinnvoll, im Religionsunterricht auch die spezifisch evangelischen, vom christlichen Glauben ausgehenden Sichtweisen und Beurteilungsmöglichkeiten zu thematisieren.
Als schulbezogener Reflexionsort religiöser und weltanschaulicher Pluralität übernimmt der Religionsunterricht auf diese Weise bewusst Mitverantwortung für die Gestaltung der Schule und der in ihr gelebten Beziehungen zwischen Menschen mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit oder auch ohne eine solche Zugehörigkeit. Diese Mitverantwortung verweist zugleich auf das wachsende Erfordernis religiöser und religionsbezogener Angebote etwa im Schulleben. Dieses Erfordernis ist nicht auf Ganztagsschulen beschränkt, tritt aber bei ihnen besonders deutlich hervor. Um solche Fragen muss es gehen, wenn im Folgenden nicht mehr allein vom Religionsunterricht, sondern von der Schule gesprochen wird.