Leitlinien für eine multifunktionale und nachhaltige Landwirtschaft
Zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union. Eine Stellungnahme der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Text 114, 2011
1. Anlass der Stellungnahme
In den kommenden Monaten stehen innerhalb der Europäischen Union wichtige politische Weichenstellungen zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) an, die für die Zukunft der Landwirtschaft und der ländlichen Gebiete in den EU-Mitgliedsstaaten ausschlaggebend sein werden. Doch unabhängig davon, wie diese Entscheidungen ausfallen, werden deren Konsequenzen nicht nur auf den europäischen Raum beschränkt bleiben. Die Kammer für nachhaltige Entwicklung der EKD möchte mit dieser Stellungnahme ins Bewusstsein rufen, dass davon auch die weltweite Ernährungssituation, die wirtschaftlichen Perspektiven der ländlichen Bevölkerung in den armen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas wie auch Fragen des internationalen Ressourcen-, Klima- und Umweltschutzes berührt sind. Die Kammer spricht sich dafür aus, dass eine Reform der Europäischen Agrarpolitik auch der internationalen Verantwortung der Europäischen Union Rechnung tragen muss. Damit möchte die Kammer für nachhaltige Entwicklung der EKD eine breite öffentliche Debatte in Kirchengemeinden, in der Politik und den Verbänden über jene Gesichtspunkte anstoßen, die für eine grundlegende Neuordnung der agrarpolitischen Rahmenbedingungen leitend sein sollen. Die Auseinandersetzung um agrarpolitische Fragen ist von widerstreitenden Interessen und Positionen geprägt, die auch in unseren Kirchen und in den Gemeinden zum Ausdruck kommen. Umso dringlicher scheint es, dass die Debatte über diese wichtige Zukunftsfrage auch im Raum der Kirche mit Nachdruck und im Bewusstsein unserer Verantwortung für die Schöpfung geführt wird – gerade jetzt, da die landwirtschaftliche Entwicklung Europas an einem Scheideweg steht.
In der EU wird derzeit auf verschiedenen Ebenen – in der EU-Kommission, im EU-Parlament, im Rat der Europäischen Union und in den Mitgliedsstaaten selbst – intensiv über eine Neuausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik für die neue Förderperiode von 2014 bis 2020 beraten. Dabei steht nicht nur der Umfang des zukünftigen EU-Agrarbudgets, das derzeit bei 55 Milliarden Euro im Jahr liegt, zur Diskussion. Es geht auch um eine überfällige inhaltliche Neuorientierung der EU-Agrarpolitik.
Im November 2010 hat die EU-Kommission mit ihrer Mitteilung "Die GAP bis 2020" ihre ersten Vorschläge für die Reform der europäischen Agrarpolitik nach 2013 vorgestellt. Das EU-Parlament ist den Empfehlungen der EU-Kommission weitgehend gefolgt und hat deren Eckpunkte in einer Entschließung am 23. Juni 2011 bekräftigt. Für Oktober 2011 wird die Vorstellung der Legislativvorschläge der EU-Kommission für die GAP-Reform erwartet.
Als wesentliche Ziele der Agrarreform benennt die EU-Kommission
- eine rentable Nahrungsmittelerzeugung, die u. a. die Sicherung der landwirtschaftlichen Einkommen und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Agrarsektors umfasst;
- die nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen und den Klimaschutz;
- eine ausgewogene räumliche Entwicklung.
Kommission und Parlament bekennen sich ausdrücklich dazu, dass die öffentliche Unterstützung für den Agrarsektor und für die ländlichen Gebiete für die Erreichung der gesetzten Ziele auch in Zukunft aufrechterhalten werden muss. Als Grundstruktur der agrarpolitischen Programme soll ein zwei Säulen-Modell beibehalten werden, das einerseits Direktzahlungen an die Landwirte, andererseits allgemeine Ausgaben für die Förderung der ländlichen Räume vorsieht. Die Kommission will einen Teil der Direktzahlungen der ersten Säule zukünftig an zusätzliche ökologische Auflagen binden ("Greening") und auch die zweite Säule stärker an neuen Leitthemen der ländlichen Entwicklung wie "Umwelt, Klimawandel und Innovation" orientieren.
Der Grundgedanke, dass als Gegenleistung für die landwirtschaftliche Förderung aus öffentlichen Mitteln zukünftig klar definierte Leistungen, die im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse liegen, erbracht werden müssen, wird unter dem Motto "public money for public goods" diskutiert und vom amtierenden EU-Agrarkommissar Ciolos auch nachdrücklich vertreten. Damit ist auch nach Auffassung der Kammer für nachhaltige Entwicklung der EKD eine richtige Wegmarke gesetzt, wenngleich die vorliegenden Reformvorschläge der EU-Kommission es diesbezüglich noch an Konsequenz vermissen lassen.
Als ganz und gar unbefriedigend erweisen sich jedoch die bisherigen Reformpläne im Blick auf die internationale Verantwortung der europäischen Agrarpolitik. Zwar benennt die Kommission ausdrücklich die Notwendigkeit, auf die zunehmenden Probleme der weltweiten Ernährungssicherheit eine Antwort geben zu müssen, als eine der zentralen Herausforderungen der GAP-Reform. Auch bekräftigt sie, die Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung berücksichtigen zu wollen. Die Reformvorschläge bleiben in ihrer Perspektive aber weitgehend auf den Binnenhorizont der EU beschränkt. Sie zollen der Frage nach der internationalen Verträglichkeit der anstehenden Politikentscheidungen keinen Tribut. Die Zielsetzung, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Landwirtschaft weiter zu steigern und die Produktivität zu erhöhen, darf nicht zu Lasten der natürlichen Lebensgrundlagen und der Ernährungssicherung in den armen Ländern gehen. Unter den Vorzeichen einer weiterhin bekräftigten Weltmarktorientierung konterkarieren die derzeitigen Vorschläge das Erfordernis, die negativen Auswirkungen der GAP auf die landwirtschaftliche Entwicklung der armen Länder sowie die internationalen Handelsverzerrungen abzubauen.