Leitlinien für eine multifunktionale und nachhaltige Landwirtschaft
Zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union. Eine Stellungnahme der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Text 114, 2011
4. Kritischer Rückblick auf die GAP und ihre bisherigen Reformen
Die alten Begründungszusammenhänge der bisherigen GAP tragen immer weniger und eröffnen der europäischen Landwirtschaft keine Zukunftsperspektiven. Die ursprünglichen Ziele der GAP von 1957 waren an der schweren Hungererfahrung großer Bevölkerungskreise während des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit ausgerichtet. Die ausreichende und sichere Versorgung mit preiswerten Lebensmitteln war und ist immer noch eines der Hauptziele der GAP. Bereits mittelfristig führten die starken agrarpolitischen Anreize zur Ausdehnung der Produktion und zur Produktivitätssteigerung. In Verbindung mit den produktionstechnischen Fortschritten in der Landwirtschaft führte das System schnell zur Überschussproduktion bei Milch, Getreide und Fleisch. Ein erheblicher landwirtschaftlicher Strukturwandel setzte ein. Der rapide Arbeitsplatzabbau im Agrarsektor setzt sich noch immer fort ("Wachsen oder Weichen"). Viele kleine und mittlere Landwirtschaftsbetriebe verfügen über nur geringe Haushaltseinkommen, leiden unter der ständigen Arbeitsverdichtung und hohem Investitionsdruck. In den vor- und nachgelagerten Bereichen der Landwirtschaft bildeten sich Strukturen mit erheblichen Machtkonzentrationen heraus.
Obwohl Fortschritte erreicht wurden, ist eine echte Kehrtwende bei der Übernutzung landwirtschaftlicher natürlicher Ressourcen in der EU bisher nicht vollzogen. Zwar gab es in vielen EU-Mitgliedsstaaten während der letzten Jahrzehnte starke Verbesserungen beim Schutz der Oberflächengewässer und des Grundwassers vor Belastungen aus der Landwirtschaft. Auch beim Luft-, Klima- und Bodenschutz sind große Fortschritte zu verzeichnen. Beim Rückgang der Biodiversität in Agrarlandschaften hingegen konnte bisher in den meisten EU-Staaten noch nicht einmal eine Trendumkehr verzeichnet werden.
Die europäische Landwirtschaft ist zudem extrem abhängig vom Einsatz fossiler Energieträger und Eiweißfutterimporten. Rund 80 % der in der EU eingesetzten Eiweißfuttermittel werden importiert. Die Futtermittelimporte der EU aus Drittstaaten entsprechen einem Flächenäquivalent von 35 Mio. Hektar Ackerland, d. h. mehr als das Doppelte der landwirtschaftlichen Nutzfläche Deutschlands. Hinzu kommt ein zunehmender Bedarf an Importen von Energiepflanzen. Der Anbau von Futtermitteln oder Energiepflanzen hat in den Anbaugebieten der Drittstaaten häufig negative ökologische und soziale Folgewirkungen, wie z. B. Zerstörung von Landschaften mit hohem ökologischen Wert und großer biologischer Vielfalt, Umweltverschmutzung durch intensiven Chemieeinsatz oder Verdrängung von ansässigen Kleinbauern und Indigenen ohne Landtitel. Gleichzeitig führen intensive Tierhaltungsformen ohne ausreichende Flächenausstattung, die durch die Futtermittelimporte möglich sind, zu Stickstoffüberschüssen mit den damit verbundenen Umweltbelastungen für den Wasser- und Bodenhaushalt in der EU. Die dreifache Flächennutzungskonkurrenz zwischen Nahrungsmitteln, Futtermitteln und Treibstoffen ("food – feed – fuel") hat inzwischen zu massiven Kostensteigerungen bei Nahrungsmitteln vor allem in den Drittstaaten geführt, so dass dort die Ernährungssicherheit der armen Bevölkerung gefährdet ist [3].
Die GAP orientierte sich weiterhin an den Zielen der Römischen Verträge von 1959: Versorgungssicherheit, niedrige Nahrungsmittelpreise, die Steigerung der Produktivität durch technischen Fortschritt, Teilnahme der in der Landwirtschaft Tätigen an der allgemeinen Einkommensentwicklung. 1992 kam es zu einer weitreichenden Reform, nachdem das System der garantierten Preise zu immensen Überschüssen geführt hat, die mit Exportsubventionen auf den Weltmärkten abgesetzt wurden und zu Handelskonflikten führten. Handelskonflikte erzwangen seinerzeit die Reform, und ihre Lösung war die Voraussetzung für die Gründung der Welthandelsorganisation WTO. Von den bisherigen Preisgarantien stellte die EU auf direkte Zahlungen an die Bauern um. Eine zusätzliche Fördersäule für Maßnahmen der ländlichen Entwicklung wurde eingeführt, die auch Agrarumweltprogramme und Vertragsnaturschutz einbezog.
Die weiteren GAP-Reformen der letzten Jahrzehnte führten das neue System weiter. Die Anspruchsgrundlage wurde schrittweise von der historischen Referenzmenge auf ein pauschales System der Flächenprämien verlagert (sog. "Entkoppelung"). Das kam sowohl den WTO-Handelsregeln entgegen, als auch der größeren Gleichheit zwischen den Betrieben und dem Abbau der Verwaltungskosten. Zunehmend richtete sich die staatliche Förderung auch an gesellschaftlich erwünschten Leistungen aus, indem sie die Zahlungen an Umweltauflagen knüpfte. Auch bestimmte Betriebsumstellungen, die gesellschaftlich gewünschte Entwicklungen fördern, wurden förderungswürdig, z. B. Stallumbauten für besseren Tierschutz. Eine grundsätzliche Neuausrichtung und Hinterfragung der bisherigen Leitbilder und agrarpolitischen Ziele fand jedoch nicht statt. Die durch die bisherige GAP angelegten systemischen Ungleichgewichte wurden nicht reduziert.
Doch noch bevor die letzten Entscheidungen über die "Agrarreform 2014-2020" gefallen sind, entgleitet der anfänglich so viel versprechende Diskurs über Grundsatzfragen, was Agrarpolitik in Zukunft für die Gesellschaft leisten soll und wie sie sich entsprechend zu ändern habe, in eine halbherzige Reform, die dem Prinzip folgt: weiter so wie bisher. Ein grundlegender Kurswechsel wäre angebracht, weil den pauschalen Subventionen an die Landwirtschaft, die pro Hektar ausgeschüttet werden, zunehmend die Legitimation schwindet. 80% des Agraretats entfallen auf diese Zahlungen, also rd. 40 Mrd. Euro jedes Jahr. Die Höhe und der Charakter des Programms lassen es mehr als angemessen erscheinen, schon jetzt Weichen zu stellen, um Perspektiven für einen Ausstieg aus dem jetzigen System vorzubereiten. Die EU-Agrarpolitik darf dabei nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss eine sehr viel höhere systemische Kohärenz mit den anderen EU-Politikfeldern aufweisen, wie Entwicklungszusammenarbeit, Klimaschutz, Umweltschutz, Ernährung und Gesundheitsschutz, Tierschutz, ländliche Regionalentwicklung oder Verbraucherschutz.