Leitlinien für eine multifunktionale und nachhaltige Landwirtschaft
Zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union. Eine Stellungnahme der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Text 114, 2011
3. Die Krise der Welternährung und die internationale Verantwortung der Europäischen Union
In der öffentlichen Diskussion in Deutschland sind Verständnis und Wissen über die gesamtgesellschaftliche Relevanz der Landwirtschaft und der EU-Agrarpolitik nicht sehr ausgeprägt. Nach vielen Jahrzehnten des Wohlstands setzen die Bürgerinnen und Bürger Europas die sichere Versorgung mit Lebensmitteln aus aller Welt zu niedrigen Preisen als Selbstverständlichkeit voraus. Die Wertschätzung von Lebensmitteln ist gesunken. Über heutige landwirtschaftliche Produktionsmethoden oder die Arbeits- und Einkommenssituation bäuerlicher Familien ist oft wenig bekannt. Bei einem Blick auf die Welternährungslage wird jedoch sehr schnell klar, dass im 21. Jahrhundert die globale Ernährungssicherheit eine der wichtigsten und zentralen weltpolitischen Aufgaben darstellt – und damit auch die Frage, welche Landwirtschaft die Welt braucht, um Ernährungssicherheit gewährleisten zu können.
Die Landwirtschaft steht weltweit vor gewaltigen Zukunftsherausforderungen. Die internationale Hungerkrise hält an und steuert zurzeit am Horn von Afrika auf einen neuen dramatischen Höhepunkt zu. Im Jahr 2009 überschritt die Zahl der Hungernden erstmals die Schwelle von einer Milliarde Menschen. Die Zahl der chronisch unterernährten Menschen schwankte in den vergangenen Jahren zwischen 925 und 1023 Millionen, das sind 14-15% der Weltbevölkerung. Anhaltende Unterernährung führt zum Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen in Entwicklungs- und Schwellenländern, beraubt hunderte Millionen von Menschen der Chancen zur Lebensentfaltung, verstärkt soziale Spannungen und bedroht langfristig auch den weltweiten Frieden.
Auch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise hat zu einer weiteren Verschärfung der Hungerkrise geführt, weil viele Spekulanten nach dem Platzen der Immobilienblase auf den Agrarsektor ausgewichen sind und dadurch die Nahrungsmittelpreise zumindest zeitweise rapide in die Höhe getrieben wurden und jetzt großen Schwankungen unterliegen. Die ausufernde Spekulation mit Agrarrohstoffen – auch durch viele neue Akteure wie Banken, Versicherungen, Hedge- und Staatsfonds, die bisher kaum in diesem Bereich tätig waren – ist von den Agrarministern der EU und der G20-Staaten zwar schon als Problem erkannt und benannt worden, wirkungsvolle Gegenmaßnahmen sind bisher aber ausgeblieben.
Die gegenwärtige Hungerkatastrophe am Horn von Afrika hat ihre Ursachen nicht nur in akuten Witterungsbedingungen, sie ist ebenso Folge des langfristigen Klimawandels und anhaltender Bürgerkriege.
Auch in den vorausgegangenen Jahrzehnten des globalen Nahrungsmittelüberschusses war es nicht gelungen, den Hunger zu überwinden. Die prekäre globale Ernährungssituation dürfte sich nun durch eine sich anbahnende neue Zeit der Knappheit verschärfen, die u. a mit den begrenzten Vorräten an fossilen Energieträgern, dem Klimawandel und der Übernutzung der natürlichen Ressourcen wie Böden, Wasser und Biodiversität zusammenhängt. Der internationale Ressourcenkonflikt um ertragreiche Ackerböden in Verbindung mit einer ausreichenden Wasserversorgung und guten klimatischen Bedingungen für die Landwirtschaft hat bereits begonnen. Seit mehreren Jahren kaufen oder pachten ausländische Investoren diese Flächen in Entwicklungsländern für eigene Produktionszwecke ("Land Grabbing"). Korrumpierte Regierungen willigen in diese Landverkäufe ein, die häufig in der Vertreibung der lokalen Kleinbauern münden. Eine weitere Ausdehnung der globalen Anbauflächen würde die Zerstörung noch verbliebener natürlicher Ökosysteme bedeuten. Durch den Einsatz neuer Technologien im Ernährungs- und Landwirtschaftssektor wie der Agrogentechnik und der Nanotechnologie entstehen bisher unbekannte Risiken oder Chancen, die sehr sorgfältig zugunsten des Vorsorgeprinzips abgewogen werden müssen.
Die Weltbevölkerung wird bis zum Jahr 2050 von jetzt rund 7 Milliarden Menschen auf ca. 9,3 Milliarden Menschen wachsen. Damit steigt insbesondere in Asien und Afrika der Bedarf an Lebensmitteln weiter rapide an. Zudem verschieben sich bei steigendem Einkommen die Ernährungsstile in Richtung eines höheren Konsums von tierischen Produkten, was erhebliche Veredelungsverluste z.B. bei der Fleischerzeugung nach sich zieht. Zusätzlich werden landwirtschaftliche Flächen zunehmend für die Produktion von nachwachsenden Rohstoffen beansprucht. Durch die massive Ausdehnung von internationalen Mega-Cities und mangelhafter Raumplanung werden wichtige landwirtschaftliche Produktionsräume immer mehr eingeschränkt. Gleichzeitig sind die Verluste von bereits erzeugten Lebensmitteln sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern mit ca. 30% sehr hoch. Ein Großteil dieser Verluste in Entwicklungsländern entsteht nach der Ernte infolge mangelhafter Infrastruktur, Transportproblemen, Defiziten bei Lagerung und Verpackung sowie fehlender Investitionen in die gesamte Lebensmittelverarbeitungskette. Bei der Reduzierung der Nachernteverluste gibt es noch erhebliche Potenziale. In den Wohlstandsländern spricht man hingegen von Lebensmittelverschwendung, da unbedenklich verzehrbare Lebensmittel in den Müll wandern. Mangelnde Einkaufsplanung bei Händlern und Konsumenten, übertriebene Vorsicht bei Haltbarkeitsdaten und Wegwerfen aufgrund nicht-normierter Form und Aussehen z. B. bei Obst und Gemüse tragen dazu bei. Überernährung verbunden mit geringer Nährstoffdichte der Lebensmittel hat dazu geführt, dass weltweit über 1 Milliarde Menschen Übergewicht aufweisen.
Weltweit werden seit vielen Jahren rein rechnerisch genügend Lebensmittel produziert, um alle Menschen ausreichend zu ernähren. Dennoch hungern fast eine Milliarde Menschen – drei von vier von ihnen leben auf dem Lande. Die Hälfte aller Hungernden und Unterernährten leben in kleinbäuerlichen Familien, die sich von den vorhandenen Ressourcen nicht ausreichend ernähren können, u. a. weil das verfügbare Land zu klein, zu wenig fruchtbar ist oder in ökologisch ungünstigen Gebieten liegt. Die anhaltende chronische Unterernährung großer Bevölkerungsgruppen in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern hat viele verschiedene Ursachen. Schlechte Regierungsführung, Diskriminierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen, strukturelle Armut, schlechte wirtschaftliche Rahmenbedingungen, unzureichender Zugang zu Land, die Folgen des Klimawandels und kriegerische Auseinandersetzungen zählen zu den Hauptursachen.
Doch auch die EU-Agrarpolitik hat jahrzehntelang mit dazu beigetragen – und tut dies noch immer –, dass Entwicklungs- und Schwellenländer ihre eigenen Landwirtschaftssektoren nicht ausreichend weiter entwickeln konnten. Lange Zeit führten subventionierte Dumpingpreise auf den Weltagrarmärkten dazu, dass viele Entwicklungsländer lieber scheinbar billige Lebensmittel importierten und dabei ihre Eigenversorgung und ihre ländliche Entwicklung massiv vernachlässigten. Damit folgten sie auch den Empfehlungen und Vorgaben der Weltbank. Sie veränderten sich von Netto-Lebensmittelexporteuren zu Netto-Lebensmittelimporteuren. Verstärkt wurde dies durch entsprechende internationale und bilaterale Handelsabkommen, die nicht auf Augenhöhe ausgehandelt wurden, sondern zulasten der Ernährungssouveränität der Entwicklungsländer gingen. Inzwischen befinden sich diese Staaten oft in einem Zielkonflikt, einerseits ihre städtische Bevölkerung auch weiterhin mit preiswerten Import-Lebensmitteln versorgen zu wollen und gleichzeitig damit ihre ländlichen Regionen und Kleinbauern von einer ökonomischen Weiterentwicklung auszuschließen. Es gibt unter diesen Ländern auch solche, die ihrer politischen und ökonomischen Verantwortung für die Ernährungssicherung ihrer Bevölkerung nicht gerecht werden.
Die EU spielt sowohl als Importeur als auch als Exporteur von Agrarrohstoffen auf den internationalen Agrarmärkten eine sehr wichtige Rolle und trägt damit eine erhebliche globale Verantwortung für die von ihr ausgehenden Marktimpulse. Im Jahr 2010 führte die EU Agrarerzeugnisse im Wert von 127 Mrd. US-$ aus und führte Agrarerzeugnisse im Wert von 173 Mrd. US-$ ein. Haupthandelspartner waren andere Industrienationen sowie einzelne Schwellenländer. Als Exporteur von Lebensmitteln, deren Erzeugung zumindest indirekt subventioniert wurde, schädigt die EU jedoch auch lokale Agrarmärkte in den ärmeren Ländern des globalen Südens und erzwingt dort über Handelsabkommen Marktöffnungen. Gleichzeitig schützt die EU den Zugang zu den europäischen Märkten über diverse Handelshemmnisse – trotz handelspolitischer Initiativen wie "everything but arms" ("Alles außer Waffen") für die am wenigsten entwickelten Länder.
Der Handel mit Entwicklungsländern ist – obwohl vom Volumen für die EU eher gering – für diese doch von besonderer Bedeutung, da es bis in die jüngste Vergangenheit hinein immer wieder zu Störungen ihrer lokalen Märkte gekommen ist, wenn EU-Agrarprodukte, teilweise auch durch Subventionszahlungen, dort billiger angeboten wurden als einheimische Produkte. Dies wirkt sich negativ auf die Ernährungssicherung der lokalen Bevölkerung, vor allem der Bauern und Bäuerinnen, aus. Gleichzeitig strebt die EU dort über Handelsabkommen Marktöffnungen an, während der Zugang zu den europäischen Märkten über diverse nicht tarifäre Handelshemmnisse für Entwicklungsländer immer noch sehr schwierig ist. Mangelnde Kohärenz mit den entwicklungspolitischen Erfordernissen der EU-Politik ist die Folge.