Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben
Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance, EKD-Text 117, 2014
1. Einleitung
Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung ist vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland beauftragt worden, über die Notwendigkeit und die Gestaltungsoptionen, die Probleme und die Chancen von Global Governance für nachhaltige Entwicklung und über die Rolle der Kirchen in diesem Prozess nachzudenken. Unter dem Begriff "Global Governance" werden Prozesse und Strukturen für globales politisches Handeln zusammengefasst. An diesen Prozessen und Strukturen sind verschiedene Akteure beteiligt, vor allem Regierungen und staatliche internationale Organisationen, aber auch Wirtschaftsverbände, zivilgesellschaftliche Organisationen und Zusammenschlüsse sowie soziale Bewegungen.
Hierzu gehören auch die christlichen Kirchen. Sie bilden ein weltweites Netzwerk, das mit seinen vielfältigen Fachorganisationen, Werken und Gruppierungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene sowie darüber hinaus in internationalen Zusammenschlüssen aktiv ist. Beispielhaft wurde das Potenzial der Kirche als global wirkender Akteur im Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung im Rahmen des sog. Konziliaren Prozesses deutlich. Der weltweite ökumenische Prozess für eine "Wirtschaft im Dienst des Lebens" entfaltet ein ähnliches Potenzial, und die "vorrangige Option für die Armen" bleibt auch und gerade im Kontext von Klimaveränderung und dramatischer Übernutzung der natürlichen Ressourcen gültig.
Solche Erfahrungen sind für die Suche wirksamer Formen einer Global Governance in hohem Maße relevant. Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung tritt für ein Konzept von Global Governance ein, das zu spürbaren Fortschritten auf dem Weg zu einer globalen nachhaltigen und menschenrechtsbasierten Entwicklung führt.
Soziale Gerechtigkeit, Sicherung bzw. Herstellung von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und finanzieller Stabilität, Schutz der natürlichen Umwelt – diese zum Teil untereinander im Konflikt stehenden Ziele spielen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um politische Prioritäten eine wichtige Rolle und beeinflussen Handeln und Stellungnahmen der Kirchen, der politischen Entscheidungsträger und Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, sozialer Bewegungen und wirtschaftlicher Verbände. Diese politischen Debatten und Handlungen finden überwiegend immer noch im nationalen Rahmen statt. Gleichzeitig verfügen nationale Regierungen längst nicht mehr über die notwendigen Handlungsressourcen und den Einfluss, um diese Ziele im Alleingang zu erreichen. In einer globalisierten Welt sind Regierungen vielmehr auf Kooperationen mit unterschiedlichen Akteuren in den verschiedenen Politikfeldern und auf verschiedenen Ebenen angewiesen.
Mit Global Governance ist zum einen gemeint, dass nationale Regierungspolitik und das klassische System internationaler Politik (bilaterale Beziehungen, die Vereinten Nationen, vertraglich gebundene Allianzen) enger zu verweben sind, und zum anderen, dass dieses System für neuartige, an globalen Problemen orientierte Prozesse und für nicht-staatliche Organisationen deutlich geöffnet wird. Global Governance im Sinne einer globalen Steuerung von Politikprozessen ist somit als Weiterentwicklung der klassischen internationalen Politik zu verstehen, die die Zivilgesellschaft sowie neue Akteure einbezieht und neue Wege und Formen des Miteinanders voraussetzt und zugleich hervorruft. Dabei verweist der Begriff zum einen auf den programmatischen Wunsch, dass es gelingen möge, grenzüberschreitende, internationale Probleme angemessen, d. h. auch gemeinschaftlich auf der internationalen Ebene lösen zu können. Zum anderen hat er die analytische Funktion, anzuzeigen, dass die bisherigen Bemühungen um internationale Lösungen nicht ausreichend sind und zudem eher abnehmen, statt verstärkt zu werden. Die Aufgabe ist deshalb nicht klein: Es gilt gerade in der Krise, in der die internationale Koordination und Abstimmung immer schwieriger geworden ist, dennoch für grenzüberschreitende Kooperation zu werben und nach neuen Vorschlägen Ausschau zu halten, wie ein System "globaler Governance" gelingen kann.
Im Zuge der intensiven Phase wirtschaftlicher Globalisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind internationale Institutionen entstanden, die bereits versucht haben, auf internationaler Ebene politisch zu steuern und zu gestalten. Nach dem ersten Weltkrieg entstanden beispielsweise der Völkerbund als Vorläufer der Vereinten Nationen (VN) oder die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Diese Institutionen sind ebenso wie die Vereinten Nationen und später entstandene Institutionen zunächst primär als multilaterale Staatenorganisationen gegründet worden, in denen souveräne Nationalstaaten kooperieren und in der Regel nach dem Konsensprinzip Entscheidungen treffen.
Im Zuge der Jahrzehnte erfuhren diese Institutionen verschiedene Veränderungen, da der zugrunde liegende Institutionentyp an seine Grenzen stieß. Das Konsensprinzip wurde durch den wenige Jahre nach Gründung der Vereinten Nationen einsetzenden Kalten Krieg wenig praktikabel. Hinzu kam im Laufe der Jahre, dass viele private Akteure darauf drängten, in der internationalen Politikgestaltung gehört und einbezogen zu werden. So kennt der Wirtschaftsund Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) seit 1968 einen Beobachter- und Beraterstatus für nicht-staatliche Organisationen; heute haben mehrere tausend internationale Organisationen einen ECOSOC-Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen. Weitere Akteure sind eine Reihe von nichtstaatlichen Organisationen, die sich die Möglichkeit der globalen Kooperation erschlossen haben, um ihren – immer globaler ausgerichteten – Zielen näher zu kommen:
- Gerade die Kirchen kooperieren global: im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und auch in direkten Partnerschaften mit Kirchen und anderen Organisationen weltweit. Denn die christliche Kirche besteht aus einem weltweiten Netzwerk von Kirchen, die mit ihren vielfältigen Fachorganisationen, Werken und Gruppierungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene sowie darüber hinaus in internationalen Zusammenschlüssen aktiv sind. Beispielhaft wurde das Potenzial der Kirche als global wirkender Akteur im Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung im Rahmen des sog. Konziliaren Prozesses deutlich. Solche und ähnliche Erfahrungen sind für die Suche wirksamer Formen einer Global Governance in hohem Maße relevant.
- Rund 100.000 transnationale Unternehmen tragen zur Globalisierung der Wertschöpfungsketten bei und verfügen über mindestens eine Million Tochter- und Beteiligungsunternehmen im Ausland [1]. Diese beeinflussen die Lebensbedingungen an ihren Produktionsstandorten unmittelbar, sei es durch die Gestaltung der Arbeitsbedingungen, durch die Nutzung von (natürlichen) Ressourcen oder durch ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss. Exporte und Importe internationaler Unternehmen haben darüber hinaus erhebliche mittelbare Auswirkungen auf die Lebens- und Umweltbedingungen in anderen Ländern.
- Global operierende Umwelt- und Entwicklungsorganisationen informieren zunehmend über das Ausmaß und den Verlauf von Umweltzerstörung und die weltweiten sozialen Missstände und versuchen, die hierfür Verantwortlichen zu identifizieren und zur Rede zu stellen. Die Zahl der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die grenzüberschreitend aufgestellt sind, ist in den vergangenen drei Dekaden sprunghaft angestiegen. Inzwischen hat sich eine transnationale Zivilgesellschaft herausgebildet. Sie thematisiert die Verletzung sozialer und bürgerlicher Grundrechte weltweit und zwar insbesondere dort, wo diese durch Unternehmen oder Politiken aus den Industrieländern direkt oder indirekt geduldet, verstärkt und mit zu verantworten sind. Mit der Zunahme der ökonomischen Bedeutung von Entwicklungs- und Schwellenländern nimmt die Verantwortung dieser Länder für globale Probleme zu. Die Zivilgesellschaft ist aber längst nicht in allen Ländern gleich gut aufgestellt, und entsprechend unterschiedlich ist auch ihr Einfluss auf die Politik. Grundsätzlich ist sie in demokratisch verfassten Gesellschaften jedoch deutlich einflussreicher.
- Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten ebenfalls in transnationalen Zusammenhängen, bisweilen bilden sie wissenschaftliche Zusammenschlüsse und lassen ihre Expertise in die internationale politische Diskussion über die Definition, Wahrnehmung und Lösung globaler Probleme einfließen. Auch die Zahl institutionalisierter globaler Wissenschaftsgremien wächst. Der Weltklimarat der Vereinten Nationen (IPCC) ist hierfür ein Beispiel.
Die Liberalisierungs-, Deregulierungs- und Privatisierungsprozesse in den 1980er und 1990er Jahren haben eine neue intensive Welle der zunächst vor allem ökonomischen Globalisierung befördert. Internationale Politikprozesse spielten hierbei eine zentrale Rolle. Sowohl Strukturanpassungspolitiken in Entwicklungsländern, die von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank stark beeinflusst wurden, als auch internationale Handelsvereinbarungen, die unter anderem 1994/1995 zur Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) führten, haben nationalstaatliche Handlungsspielräume eingeengt und den Instrumenteneinsatz der Regierungen begrenzt. In den 1990er Jahren wurde dann die Liberalisierung der Finanzmärkte und der internationalen Finanzströme weiter forciert. Regionale Integrationsabkommen reduzierten nationale Handlungsspielräume zusätzlich, wobei die Europäische Union eine der wenigen Ausnahmen ist, die z. B. die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarkts durch die Stärkung der europäischen institutionellen Ebene flankierte. Alles in allem ging der tatsächliche und vermeintliche Verlust an Steuerungsfähigkeit der Nationalstaaten ohne parallele Gründung entsprechend legitimierter Institutionen auf multilateraler bzw. globaler Ebene vonstatten, die die Lücken im Sinne nachhaltiger Entwicklung hätten füllen können.
Der institutionalisierte Multilateralismus galt (und gilt) zudem als schwerfällig, was mit dazu beitrug, dass sich nach der ersten Ölkrise 1973 die G7 als informelles Koordinierungsgremium bildete, dass weitere Clubs hinzukamen und ganz allgemein zu beobachten ist, dass verschiedenste Kooperationsformen mit wechselnden Akteurskonstellationen in immer mehr Politikfeldern anzutreffen sind (s. Kap. 2.2).
In der Politikwissenschaft werden diese als "Regime" bezeichnet. Außer Staaten kooperieren internationale Organisationen, Unternehmen, Gewerkschaften, private Stiftungen, zivilgesellschaftliche Akteure etc. In einzelnen Sektoren kann von einer regelrechten Fragmentierung der globalen Kooperationsbeziehungen gesprochen werden. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der Gesundheitssektor [2].
Die Fragmentierung globalen Regierens hat durchaus Vorteile: Unkonventionelle Kooperationsformen können für begrenzte Probleme kurz- und mittelfristig eine hohe Problemlösungsfähigkeit besitzen; neue Akteurskonstellationen können möglicherweise schneller neue Themen auf die politische Agenda bringen und Problembewusstsein schaffen. Ungeachtet der Einbindung einer Vielzahl von Gruppen, der damit einhergehenden Vielfalt von Prozessen und Strukturen sind heutige Global Governance-Strukturen dennoch in einer längerfristigen Perspektive wenig effektiv: Zum einen erzeugt die Vielzahl der Prozesse und Maßnahmen im Rahmen der vielen Zusammenschlüsse erhebliche Ineffizienzen und verstärkt Inkohärenzen. Die Kommunikations- und die übrigen Transaktionskosten sind hoch. Der Koordinierungsbedarf ist also erheblich, aber es fehlt eine von allen anerkannte koordinierende Instanz.
Zum anderen schwächt diese Fragmentierung das System der Vereinten Nationen, das grundsätzlich am ehesten als globale Koordinierungsinstanz in Frage käme [3]. So kommen Verhandlungen in den "traditionellen" Gremien des institutionalisierten Multilateralismus unter anderem deshalb nicht voran, weil mächtige Regierungen es bevorzugen, in anderen – meist exklusiven – Regimen zusammen zu arbeiten. In VN-Organisationen, die immer stärker mit "Clubs" wie der G8 oder G20 konkurrieren [4], zeigen sich diese Regierungen hingegen kaum kooperationsbereit. Vielmehr drohen internationale Organisationen finanziell auszutrocknen, weil die wirtschaftlich mächtigen Staaten sie nicht nur in politischer Hinsicht wenig unterstützen, sondern auch finanziell höchst unzureichend ausstatten. Stattdessen werden Vorhaben und ihre Finanzierung zunehmend in Staatenclubs entschieden sowie Public-Private-Partnerships finanziell alimentiert. Die klassischen Organisationen des institutionalisierten Multilateralismus, wie beispielsweise die Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder die Welternährungsorganisation (FAO), verlieren gleichzeitig an Einfluss. Zu den Schwächen der neuen Formenvielfalt globaler Politik gehört außer der Aushöhlung des VN-Systems bzw. seiner Prinzipien, dass sich mächtige Akteure ihre Foren aussuchen oder neue schaffen, die ihnen für eine Problemlösung gemäß ihrer Interessen am besten geeignet erscheinen. Forum-Shopping oder "Weltregieren à la carte" sind Begriffe zur Beschreibung dieses Phänomens [5].
Gerade die Welternährungskrise (vgl. Kasten 2), aber auch die unterschiedlichen Entwicklungen bei der Armutsbekämpfung und der intranationalen Umverteilungspolitik zeigen, dass zudem die Rolle der Nationalstaaten bei der Problembewältigung größer ist, als dies etwa in der politikwissenschaftlichen Globalisierungsliteratur der vergangenen 20 Jahre für möglich gehalten wurde. Ob und unter welchen Bedingungen sich steigende Nahrungsmittelpreise auf den Hunger in einem Land auswirken, hängt zunächst vor allem von der nationalen Agrar- und Ernährungspolitik ab. Ob Wirtschaftswachstum (auch) zur Reduzierung von absoluter Armut genutzt wird und ob relative Einkommensunterschiede stark zunehmen oder nicht, ist ganz wesentlich von nationalen Politiken beeinflusst (s. Kap. 2.3).
Ohne funktionierende Nationalstaaten sind auch schwerlich gemeinsame internationale Vereinbarungen und Reformen möglich, und sie können kaum effektiv sein. Denn wenn der Rechtsstaat kaum noch funktioniert, wenn Governance auf der nationalen Ebene nahezu unmöglich ist, können die notwendigen Nachhaltigkeitsmaßnahmen auf nationaler Ebene nicht implementiert werden.
Es kann festgehalten werden, dass neue internationale Kooperationsformen entstanden sind, die dazu beitragen, verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure in die globale Politik einzubinden, (Denk-)Blockaden aufzubrechen, wenn es wenigstens teilweise gelingt, rasche Fortschritte bei der Lösung einzelner Probleme zu erzielen. Dennoch wird es für die langfristige und kohärente Bewältigung der meisten globalen Herausforderungen darauf ankommen, möglichst alle Staaten und die relevanten Akteure einzubeziehen. Zentrale Aufgabe ist es also, Rahmenbedingungen und Formen für einen transparenten, inklusiven Multilateralismus mit funktionierenden Institutionen zu finden. Nur dann kann Global Governance für eine nachhaltige und menschenrechtsbasierte Entwicklung gelingen. Dies ist keine leichte Aufgabe, und einfache Lösungen liegen nicht auf dem Tisch.
Vor diesem Hintergrund ist diese Studie angestoßen worden. Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung erachtet es angesichts der großen Herausforderungen des globalen Überlebens für notwendig, die Diskussion über Global Governance und eine Weiterentwicklung des institutionellen Rahmens weiter voranzutreiben. Diese Studie setzt ausgehend von drei zentralen Herausforderungen des globalen Wandels an den Agenden, Prozessen und Strukturen internationaler Politik an. Sie belässt es aber nicht dabei, sondern gibt Empfehlungen für eine Position der Evangelischen Kirche in Deutschland. Es wird wie folgt vorgegangen:
- Zunächst werden drei "Wellen des globalen Wandels" dargestellt, mit denen sich Global Governance befassen muss: entgrenzte Ökonomie, der Aufstieg einiger großer Schwellen- und Entwicklungsländer sowie globale Umweltveränderungen.
- Es folgen theologische Überlegungen zur Begründung einer Positionierung der evangelischen Kirche in diesem Kontext.
- Auf dieser Basis werden dann einzelne internationale Politikprozesse beleuchtet, die besonders großes Potenzial bergen, nachhaltiger Entwicklung umfassend näher zu kommen.
- Anschließend werden das bestehende Institutionengeflecht der Global Governance dargestellt und wichtige Reformvorhaben näher beleuchtet, um Ansatzpunkte herauszukristallisieren, die von der Evangelischen Kirche in Deutschland im Sinne des Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und der "vorrangigen Option für die Armen" unterstützt werden sollten.
Somit werden Reformvorschläge gemacht, die aus Sicht der Kammer zu einer höheren Wirksamkeit der Global Governance im Sinne einer nachhaltigen und menschenrechtsbasierten Entwicklung führen.