Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben
Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance, EKD-Text 117, 2014
3.1 Ökumenische Debatten um eine „Wirtschaft im Dienst des Lebens“
Seit Mitte der 1990er Jahre fordern insbesondere die Kirchen des Südens verstärkt ein, dass Globalisierung im Dienst der Menschen stehen [53] und sich im Einklang mit der Tragfähigkeit der Erde vollziehen muss. Aus dieser Perspektive wird kritisiert, dass die bestehenden Formen und Instrumente von Global Governance weithin unzureichend und nicht Lösung, sondern geradezu systemischer Teil des Problems seien.
Die Generalversammlung des Reformierten Weltbundes (RWB) rief die Kirchen 1997 in Debrezen (Ungarn) "zu einem engagierten Prozess der Erkenntnis, der Aufklärung und des Bekennens (processus confessionis) im Hinblick auf wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung" auf. "Wie leben wir unseren Glauben im Kontext der Globalisierung?" fragte 1998 daran anschließend die Vollversammlung des ÖRK in Harare und betonte, "dass alle Kirchen weltweit beginnen müssen, die Bedeutung und den Sinn des christlichen Bekenntnisses in dieser Zeit zunehmender Ungerechtigkeit und ununterbrochener Umweltzerstörung zu bedenken". Auch der Lutherische Weltbund (LWB) leitete einen Prozess zum "Engagement einer Gemeinschaft von Kirchen angesichts der Globalisierung der Wirtschaft" ein. Es folgte ein weltweiter Prozess gemeinsamer ökumenischer Konsultationen. In deren Folge richteten die Generalsekretäre von ÖRK, LWB, RWB sowie der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) 2002 einen gemeinsamen Brief an die westeuropäischen Kirchen. Darin wurden die Kirchen aufgerufen, ihre Regierungen zu drängen, einer grundlegenden Reform der internationalen finanziellen und monetären Rahmenordnung mit dem Ziel Priorität zu geben, die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen stärker zu beachten und Investitionen an die reale Ökonomie zu binden. Global Governance-Reformen wurde dabei eine besondere Rolle zuerkannt [54].
In den anschließenden Vollversammlungen der Konferenz Europäischer Kirchen (Trondheim 2003), des Lutherischen Weltbundes (Winnipeg 2003), des Reformierten Weltbundes (Accra 2004) und des Ökumenischen Rates der Kirchen (Porto Alegre 2006) standen jeweils entsprechend die Fragen im Mittelpunkt: Wie ist Globalisierung angesichts tendenziell anhaltenden ökonomischen Wachstums in vielen Teilen der Welt, zunehmender Aufspaltung von Arm und Reich sowie fortschreitender ökologischer Ausbeutung gerecht zu gestalten? Wie kann aus christlicher Perspektive die "Wirtschaft im Dienst des Lebens" stehen und nachhaltige, menschenrechtsbasierte Entwicklung realisiert werden, an der möglichst alle Menschen partizipieren können?
Auch die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich in verschiedenen Verlautbarungen [55] für das Leitbild einer sozial gerechten und nachhaltigen ökonomischen Entwicklung ausgesprochen. Eine Wirtschaft, die die Spaltung der Bevölkerung in Bedürftige und Wohlhabende befördert, kommenden Generationen Lebensgrundlagen entzieht und die Tragfähigkeit der ökologischen und ökonomischen Systeme gefährdet, kann nicht widerspruchslos hingenommen werden. Hier muss sich die Kirche zu Wort melden, einmischen und zur Umkehr rufen, wobei dieser Ruf sie selbst mit einschließt. "Letztlich geht es um eine neue politische und wirtschaftliche Prioritätensetzung in Zivilgesellschaft und Politik, d. h. eine Verständigung darüber, in welchem Verhältnis z. B. kurzfristige Gewinninteressen von bestimmten Wirtschaftsakteuren und die langfristigen Überlebensinteressen von Gemeinschaften in der Einen Welt stehen. Es geht letztlich um die Frage, wie wir leben wollen und wie alle Menschen im Einklang mit dem, was wir selbst schätzen, leben können. Das ist eine gewaltige Aufgabe, die gleichermaßen große Weichenstellungen und kleine Schritte jedes Einzelnen verlangen." [56]
Der gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzmarkt beruht immer noch fast ausschließlich auf quantitativem Wachstum, Geschwindigkeit und immer kurzfristiger werdender Profit-Maximierung. Aus christlicher Perspektive sind real- und finanzwirtschaftliche Aktivitäten und ihre Systeme in den Dienst des Lebens zu stellen: Märkte haben vorrangig der Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse eines menschenwürdigen Lebens aller Menschen nachhaltig zu dienen. Global Governance ist daran zu messen, inwieweit sie aus dieser Perspektive die Rahmenbedingungen und Instrumente für eine nachhaltige Sicherung der Grundbedürfnisse schafft und die Marktwirtschaft sozial, ökologisch und kulturell ausrichtet. Global Governance muss in diesem Sinne einen maßgeblichen Beitrag leisten, die strategische Steuerung für die notwendige große Transformation unserer Weltgesellschaft zu organisieren [57].