Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben
Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance, EKD-Text 117, 2014
Leitgedanken der Studie
Globalisierung begleitet die Weltgeschichte spätestens seit der Ausbreitung des Kolonialismus im 16. Jahrhundert. Heute durchdringt die Globalisierung jedoch im Vergleich zu früheren Globalisierungsphasen wesentlich mehr Lebensbereiche und macht sich an nahezu jedem Ort der Erde bemerkbar. Sie ist durch dichte weltumspannende Beziehungen gekennzeichnet, die die Lebenswirklichkeit sehr vieler Menschen weltweit und viele Bereiche von Wirtschaft, Gesellschaft und staatlichem Handeln verändert haben. Globalisierung ist ein dynamischer Prozess, der sich in den letzten Jahrzehnten in qualitativer und quantitativer Hinsicht immer mehr ausgebreitet hat. Die Globalisierung der Produktion und des Handels kamen zuerst, gefolgt von den globalen Möglichkeiten neuer Kommunikationstechnologien und der Deregulierung der Finanzmärkte und ihrer noch weitergehenden Entkopplung von der Realwirtschaft. Der Aufstieg einiger Schwellenländer hat zu Verschiebungen der ökonomischen und politischen Machtverhältnisse zugunsten dieser Länder und zu einem Gewichtsverlust der alten Industrieländer geführt. Zugleich bleibt die globale soziale Ungleichverteilung unerträglich hoch. Das auf hohem Verbrauch von Ressourcen beruhende Wachstumsmodell der Industrieländer hat krisenhafte, teilweise nicht rückholbare globale Umweltveränderungen verursacht. Diese Entwicklungen machen entschiedenes politisches Handeln auf nationaler und globaler Ebene notwendig. Es bedarf einer effektiven Global Governance-Architektur, damit Wirtschaft und Politik einen nachhaltigen menschenrechtsbasierten Entwicklungspfad einschlagen können.
"Die Globalisierung gestalten kann nur, wer klare Wertvorstellungen jenseits des Wirtschaftlichen hat", so Johannes Rau in seiner "Berliner" Rede vom Mai 2002. Solche Wertvorstellungen sind für Christinnen und Christen in den biblischen Schriften des Alten und Neuen Testaments gegründet. Aus diesen Schriften können das Eintreten für Recht und Gerechtigkeit, die Achtung der von Gott geschenkten Menschenwürde und die Parteinahme für die Schwachen als zentrale Kriterien einer guten Regierungsführung abgeleitet werden. Der Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und Impulse aus der Ökumenischen Bewegung für eine "Wirtschaft im Dienst des Lebens" liefern weitere wichtige Leitbilder für die Entwicklung von Kriterien für eine Global Governance. Global Governance ist daran zu messen, inwiefern sie die Rahmenbedingungen und Instrumente dafür schafft, dass die Erwartungen aller Menschen heute und die der künftigen Generationen an ein von Gerechtigkeit geprägtes und menschenwürdiges Leben erfüllt werden. Dabei wird es wichtig sein, dass die Evangelische Kirche ihre Wertvorstellungen und die davon abgeleiteten politischen Kriterien nicht nur in der Ökumene, sondern auch in globalen Dialogen mit anderen Religionen zu den normativen Grundlagen von Global Governance einbringt und zur Diskussion stellt.
Gegenwärtig wird Global Governance durch ein Nebeneinander von institutionalisiertem, formalisiertem Multilateralismus staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, selektiven multilateralen Kooperationen und Club-Formaten gekennzeichnet. Die Vereinten Nationen drohen insbesondere von den Clubs an den Rand gedrängt zu werden, obwohl sie letztlich die einzige multilaterale Institution darstellen, auf deren Grundlage eine hinreichend legitimierte Global Governance-Architektur aufbauen kann. Veränderungen der extrem fragmentierten Architektur und ihrer Mechanismen sind daher zwingend erforderlich, um den elementaren globalen Herausforderungen angemessen zu begegnen. Verschiedene hochrangige Kommissionen haben für die Vereinten Nationen Vorschläge für ambitionierte institutionelle Reformen erarbeitet, die jedoch von führenden Mitgliedern der G8 und G20 nicht aktiv unterstützt wurden und nicht zuletzt deshalb wirkungslos geblieben sind.
Die Ursachen für das Scheitern aller bisherigen Reformen müssen in Zusammenhang mit der extremen Fokussierung der Industrieländer auf kurzfristige nationale Interessen in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten sowie den globalen ökonomischen und politischen Machtverschiebungen gesehen werden. Es scheint eine Neusortierung insbesondere der Industrie- sowie der großen aufstrebenden Schwellen- und Entwicklungsländer notwendig zu sein, um eine globale Nachhaltigkeitspolitik in Angriff zu nehmen. In Rio wurde 2012 vereinbart, dass die Vollversammlung der Vereinten Nationen 2013 Entscheidungen über universelle Ziele für nachhaltige Entwicklung fällt, die Teil der globalen Entwicklungsagenda nach 2015 sein sollen. Dieser Prozess eröffnet die Möglichkeit, ein gemeinsames globales Programm zu verabreden, in dem nationales und globales Handeln ineinander greift. Somit bestünde die Chance, politische und wirtschaftliche Strategien aller Länder an der Verringerung der Armut und Ungleichheit zu orientieren und gleichzeitig daran, innerhalb der ökologischen Grenzen des Planeten und der lokalen Ökosysteme zu verbleiben.
Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung hält es für notwendig, einen "Global Council für soziale, ökologische und wirtschaftliche Fragen" einzurichten, der weltweit eine menschenrechtsbasierte nachhaltige Entwicklung vorantreibt. Dieser Global Council könnte durch eine Neugründung entstehen oder aus einem Transformationsprozess, in dem sich der Weltwirtschaftsund Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) und die G20 reformieren und fusionieren. Der Global Council soll ein Rat sein, der sich auf Leitlinien für ein nachhaltiges Wirtschaften verständigt und der Empfehlungen erarbeitet, an denen sich Organisationen der Vereinten Nationen, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und auch die Welthandelsorganisation orientieren. Der Rat sollte zugleich über die Einhaltung von menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen Mindeststandards wachen bzw. andere dafür zuständige Gremien unterstützen und koordinieren. Der Global Council darf und soll allerdings keine "zentralistische Weltregierung" sein. In ihm sollten neben den stimmberechtigten und von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gewählten Staatenvertreterinnen und -vertretern, die alle Kontinente angemessen repräsentieren sollten, auch (ohne Stimmrecht) alle relevanten internationalen Organisationen sowie die Zivilgesellschaft vertreten sein. Details über Zusammensetzung, Finanzierung, Streitschlichtungs- und Sanktionsmechanismen gehören zu den vielen Fragen, die auf dem multilateralen – sicherlich mühsamen und lang dauernden – Prozess hin zu solch einer Kohärenz stiftenden Institution zu klären sind.