Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben
Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance, EKD-Text 117, 2014
3.2 Theologische und ethische Grundlagen für Global Governance
Im Zusammenhang dieses weltweiten ökumenischen Prozesses für eine "Wirtschaft im Dienst des Lebens" bringt die Evangelische Kirche in Deutschland ihre biblisch abgeleiteten theologischen und ethischen Perspektiven in den allgemeinen Diskurs ein, wohl wissend, dass diese Perspektiven für Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen nicht verbindlich sein müssen. Dabei lässt sie sich von dem Glauben an den einen Gott leiten, der sich als Schöpfer, Versöhner und Erlöser dem Menschen zuwendet. Im Glauben an diesen Gott erkennen Christinnen und Christen: Der Mensch ist Gottes Ebenbild. Das begründet die Würde des Menschen und seine Freiheitsrechte. Im Glauben erkennen sie außerdem, dass der Mensch Sünder ist. Das erfordert gesellschaftliche Ordnungsstrukturen, die die Macht des Stärkeren mit den Bedürfnissen der Schwächeren abgleichen. Der Mensch besitzt die Freiheit, die Welt zu gestalten, und übt dadurch Macht aus. Dieser Machtgebrauch ist komplex: Zum einen beinhaltet er die Möglichkeit zu positiver Gestaltungskraft. Zum anderen ist er nicht frei von Versuchungen, vor allem bei der Durchsetzung eigener Interessen. Diese Gefahr wird im Alten und Neuen Testament jeweils schon zu Beginn benannt: in der zweiten Schöpfungsgeschichte (Gen 3,5) und bei der Versuchungsgeschichte Jesu in der Wüste (Mt 4,8 f). Der Machtmissbrauch basiert nicht nur auf gewalttätigem Ringen um Vorherrschaften, sondern ebenso auf der Missachtung und Verletzung der wechselseitigen Abhängigkeiten alles Lebendigen. Die ständige kritische Auseinandersetzung mit Macht durchzieht die Bibel. Herrschen – so führt Jesus gegenüber seinen Jüngern aus (Mk 10,35-45) – soll den Interessen aller dienen. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Überlegungen werden die für Global Governance in ihrer Bedeutung für nachhaltige Entwicklung relevanten theologischen und ethischen Grundlagen im Folgenden unter vier Perspektiven in den Blick genommen: Biblische Perspektiven für Regierungsführung im Dienst der Gerechtigkeit (Kap. 3.2.1), Menschenwürde und Menschenrechte (Kap. 3.2.2), vorrangige Option für die Armen und Konziliarer Prozess (Kap. 3.2.3) und Prinzipien internationaler Politikgestaltung (Kap. 3.2.4).
3.2.1 Biblische Perspektiven für Regierungsführung im Dienst der Gerechtigkeit
Von den Anfängen der Geschichte Israels an wird die Frage der Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung aus der Perspektive der Armen und Schwachen der Gesellschaft zum entscheidenden Kriterium guter Regierungsführung, und es werden hohe Ansprüche an die Regierenden formuliert. Beispielhaft findet dies Ausdruck in Psalm 72,1-4:
"Gott, gib dein Gericht dem König
und deine Gerechtigkeit dem Königssohn,
dass er dein Volk richte mit Gerechtigkeit
und deine Elenden rette.
Lass die Berge Frieden bringen für das Volk
und die Hügel Gerechtigkeit.
Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen
und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen."
Auch die königskritische Prophetie betont von Beginn an sehr grundsätzlich die gefährliche Ambivalenz menschlicher Herrschaft (1 Sam 8). Die Forderung des Volkes nach einem König (1 Sam 8,5) war eine direkte Folge schlechter Regierungsführung, ausgelöst durch die Bestechung und Rechtsbeugung, durch die die Söhne Samuels das Volk unterdrückten. Daraufhin initiierte Samuel einen partizipatorischen Prozess der Einbeziehung des Volkes (1 Sam 10,20-22), schrieb die neue Ordnung nieder und brachte sie in Gestalt eines Bundesschlusses vor Gott.
Die Verheißung von Gerechtigkeit und Frieden sowie Gottes besondere Liebe zu den Armen ist ebenso zentraler Inhalt der Sendung und Verkündigung Jesu. In seiner ersten öffentlichen Predigt nach Lukas 4,18-21 bezieht sich Jesus auf die alttestamentlichen Verheißungen aus Jesaja 61, in denen den Armen Befreiung und "Evangelium" zugesprochen wird, wenn es heißt: "Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren" (Lk 4,21). In Christus ist das verheißene Reich Gottes, in dem Frieden und Gerechtigkeit herrschen sollen, schon jetzt mitten unter uns (Lk 17,21), auch wenn es sich in den Strukturen der Welt noch zu entfalten hat. Christinnen und Christen sind herausgefordert, an dieser Entfaltung tatkräftig mitzuwirken. Prägnant finden sich diese Überlegungen in einem kurzen Satz aus den Sprüchen Salomos, der als Titel dieser Veröffentlichung gewählt wurde: "Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben" (Spr 12,28).
3.2.2 Menschenwürde und Menschenrechte
In christlicher Perspektive ist die unverlierbare Würde des Menschen begründet in seiner Gottebenbildlichkeit. Im ersten Schöpfungsbericht Gen 1,26-28 heißt es:
"Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei. [...] Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und er schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch, und füllet die Erde und machet sie euch untertan."
Christliche Grundüberzeugungen über die Würde des Menschen flossen in die Ausformulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit ein. Die Achtung, der Schutz und die Gewährleistung der bürgerlichen und politischen sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte sind elementare Eckpfeiler einer tragfähigen guten Regierungsführung einschließlich der Global Governance. Weil nach christlicher Überzeugung jedem Menschen von Gott eine unverlierbare Würde zukommt – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Kultur, Alter, Moral, Leistung, Religion –, stehen Christen und Christinnen in besonderer Verantwortung, für die Einhaltung und Umsetzung der Menschenrechte einzutreten.
Angesichts vieler Erfahrungen, die zeigen, wie gering ein Menschenleben oft geachtet wird, und angesichts dessen, was der Mensch selbst an Gewalt und Erniedrigung anderen Geschöpfen zufügt, ist dies eine bleibend wichtige Erkenntnis und Herausforderung zugleich. Christen und Christinnen sollen dazu beitragen, dass alle Menschen als solche leben können, die sie vor Gott schon sind: von Gott geliebte und wertgeschätzte Menschen mit einer unverlierbaren Würde. Die unteilbaren Menschenrechte in ihrer umfassenden Bedeutung für alle Menschen einzufordern, ist eine folgerichtige Konsequenz dieser im Glauben gewonnenen Erkenntnis.
Christen und Kirchen haben den Auftrag, diesen universalen und unteilbaren Menschenrechten Geltung zu verschaffen. Sie suchen den Verbund mit anderen Akteuren. Dabei umfasst das normative Konzept der Menschenrechte nicht allein die Achtung, den Schutz und die Gewährleistung individueller und gemeinschaftlicher Rechte und Freiheiten auf nationaler Ebene, sondern erfordert auch, dass die Ausgestaltung der internationalen Beziehungen einer Umsetzung der Menschenrechte auf nationaler Ebene zumindest nicht entgegen steht. Alle Vertragsstaaten der internationalen Menschenrechtspakte sind gehalten, die Menschenrechte bei eigenen Politikmaßnahmen mit Effekten jenseits der Grenzen zu beachten. Die Verpflichtungen bleiben bestehen, wenn Staaten im Rahmen internationaler Organisationen agieren oder miteinander Verträge schließen. In der Wiener Menschenrechtserklärung, die 1993 zum Abschluss der Wiener Menschenrechtskonferenz verabschiedet wurde, hält die Staatengemeinschaft fest, dass die Menschenrechte für jeden Staat die zentrale Verpflichtung darstellen, die vorrangigen Schutz genießt – auch vor anderen Normen des internationalen Rechts. Auch die Charta der Vereinten Nationen anerkennt die Verpflichtung von Staaten, sich allein und gemeinsam für die Achtung der Menschenrechte einzusetzen (Art. 55 und 56). Menschenrechte bilden dadurch die Grundcharta der Internationalen Beziehungen und setzen auch die Standards für andere Akteure. Folgerichtig wird in den "Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte", die im Juni 2011 im Menschenrechtsrat einstimmig angenommen wurden, gerade mit Blick auf Unternehmen und andere private Akteure festgehalten, dass sie in ihren Aktivitäten die gebotene Sorgfalt aufwenden müssen, um sicherzustellen, dass sie nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitragen.
Die Menschenrechte erfordern infolgedessen eine rechtsbasierte und gerechte Gestaltung der Weltwirtschaft. Dies bedarf auch starker und wirksamer Instrumente der Rechtsdurchsetzung auf nationaler und internationaler Ebene. Zu einer menschenrechtsbasierten Gestaltung der Globalisierung gehört zudem eine transparente und partizipatorische Ordnungspolitik als notwendige Rahmenbedingung des globalen Marktes auf allen Ebenen – national, regional und international.
3.2.3 "Vorrangige Option für die Armen" und Konziliarer Prozess
Im Blick auf die Anforderungen an Global Governance ist eine biblisch begründete Perspektive eindeutig: In der Bibel spannt sich ein Bogen von der ausdrücklichen Forderung nach Rechten sozialer Sicherung für Schwache und Benachteiligte im Alten Testament bis hin zu den neutestamentlichen Texten, in denen sich Jesus mit den Ärmsten und Schwächsten identifiziert (Gleichnis vom großen Weltgericht, Mt 25,31ff). Die biblische Botschaft betont die Ausrichtung des gemeinsamen Lebens an den Maßstäben der Gerechtigkeit. Frömmigkeit und soziales Handeln sind somit untrennbar verknüpft, Spiritualität und Engagement für Gerechtigkeit sind die zwei Seiten der einen Medaille des christlichen Glaubens.
Für die Entwicklung eines neuen ökonomischen und politischen Paradigmas sind die in der ökumenischen Diskussion entfalteten Perspektiven der "vorrangigen Option für die Armen" [58] und des Konziliaren Prozesses wichtige Leitbilder. Der Konziliare Prozess entstand in den 1980er Jahren als Reaktion der Kirchen und Gruppen im Ökumenischen Rat der Kirchen auf die globalen politischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen und Probleme [59]. Unter dem Dach des ÖRK verpflichteten sich die Kirchen zu einem "Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung". Bei der Weltversammlung 1990 in Seoul bekannten sie: "Wir sind uns gegenseitig rechenschaftspflichtig, wir brauchen einander, um zu begreifen, wer wir vor Gott sind. Eine weltweite geschwisterliche Gemeinschaft wird erst wachsen, wenn wir gelernt haben, auf einander zu hören, uns mit den Augen der anderen zu sehen." [60] Damit wird deutlich, dass Kirche eine weltweite Lerngemeinschaft ist, in der Menschen einander brauchen und in der sie sich nur gemeinsam den drängenden und kontextuell verschiedenen Herausforderungen stellen können.
Der Ruf des Evangeliums ist dabei durchaus differenziert: "[...] für die Reichen hieß er, befreit euch von der Macht des Geldes, [...] die Verzweifelten rief er auf, die Hoffnungslosigkeit zu überwinden, die Privilegierten ermahnte er, ihren Reichtum und ihre Macht zu teilen, [...] die Schwachen, sich selbst mehr zuzutrauen." [61]
Im Zusammenhang des Konziliaren Prozesses wurde in der Ökumene besonders der biblische Impuls einer "vorrangigen Option für die Armen" aufgegriffen und verstärkt. Durch ihn sind Christinnen und Christen aufgerufen, den Wert wirtschaftlichen Handelns daran zu messen, wieweit es die Armen betrifft, ihnen hilft und sie befähigt, Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen. In Deutschland wurde dies beispielsweise in dem Gemeinsamen Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997 aufgenommen, das bis heute eine zentrale Orientierungsgröße für die christliche Weltverantwortung darstellt. Darin heißt es: "In der Perspektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Sie hält an, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstands leben." [62] Die Klimaveränderung und dramatische Übernutzung der natürlichen Ressourcen verschärft diese Perspektive. Die Umweltkrise trifft und gefährdet die Armen viel stärker als Wohlhabende, und zweifellos wird die Überwindung von Armut und Ungleichheit nicht ohne partiell erhöhten Ressourceneinsatz möglich sein. Jedoch stehen Wissen und Technologien bereit, um Ökosysteme zu schützen oder wiederherzustellen und die Belastungen für das Klima und die Umwelt drastisch zu reduzieren – und zugleich das menschliche Wohlergehen zu verbessern. Die Perspektive der "vorrangigen Option für die Armen" stellt nicht allein die Frage nach Überwindung der extremen Einkommensungleichverteilung, sondern auch die Frage nach der schroffen Ungleichheit im Ressourcenverbrauch sowohl zwischen armen und reichen Ländern als auch zwischen Armen und Reichen innerhalb einer Gesellschaft. Damit die einen überleben können, werden die anderen ihren Verbrauch mindern müssen.
3.2.4 Prinzipien internationaler Politikgestaltung
Die Gestaltung und Koordination grenzüberschreitender Politik in einer global vernetzten Welt bedarf nicht nur institutioneller Prozesse und Verfahren, sondern muss auch auf weithin akzeptierten Normen und Prinzipien beruhen. Startpunkt jeder Fundierung globaler Regelwerke sind die oben bereits beschriebenen Menschenrechte aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und ihre Kodifizierungen in bindenden völkerrechtlichen Verträgen und zahlreichen weiteren Menschenrechtsstandards. In verschiedenen Zusammenhängen hat die Weltgemeinschaft weitere auf diesen menschenrechtlichen Grundstandards aufbauende fundamentale Kooperations- und Fairnessregeln formuliert und in Ansätzen bereits in mehreren internationalen Verträgen und Abkommen der Vereinten Nationen verankert. Diese Prinzipien wurden und werden grenz-, kultur- und religionsüberschreitend als gemeinsame Werte identifiziert und anerkannt und verdienen im Kontext sich verdichtender und verändernder globaler Beziehungen zwischen Menschen, Völkern, Gesellschaften, Unternehmen, Volkswirtschaften und Staaten besonderen Schutz als gemeinsamer Nenner und Fundament, auf dem globale Regelwerke und Institutionen errichtet werden können [63]. Für Christen und Christinnen lassen sich diese Prinzipien auch aus dem Gebot der Nächstenliebe und der Verantwortung des christlichen Glaubens für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ableiten. Zu diesen Prinzipien gehören insbesondere:
- Solidaritätsprinzip: Die wechselseitige Verpflichtung der Mitglieder einer Solidargemeinschaft, füreinander einzutreten, kann prinzipiell und vereinbarungsgemäß auch die gesamte Völkergemeinschaft umfassen. In der Millenniumserklärung haben die Regierungen weltweite Solidarität in diesem Sinne als einen der zentralen normativen Werte benannt: "Die globalen Probleme müssen so bewältigt werden, dass die damit verbundenen Kosten und Belastungen im Einklang mit den grundlegenden Prinzipien der Billigkeit und sozialen Gerechtigkeit aufgeteilt werden. Diejenigen, die leiden oder denen die geringsten Vorteile entstehen, haben ein Anrecht darauf, Hilfe von den größten Nutznießern zu erhalten.” [64]
- Do no harm-Prinzip: Zu den wichtigsten "Anstandsregeln" des Zusammenlebens in einer Weltgemeinschaft zählt die Verpflichtung, bei allem Tun und Lassen keinen Schaden an Mensch und Natur anzurichten [65]. Das Prinzip hat gerade in einer Zeit, in der die wohlhabende Welt zu einem guten Teil ihren Wohlstand auf eine Lebens- und Wirtschaftsweise stützt, die sich wesentlich der Auslagerung (Externalisierung) sozialer oder ökologischer Lasten in andere Teile der Welt oder in die Zukunft verdankt, eine zentrale Bedeutung als normative Maxime nationaler und internationaler Politikgestaltung.
- Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit: Die Rio-Deklaration hat 1992 dieses Prinzip, das mittlerweile Eingang in eine Reihe internationaler Verträge – insbesondere im Bereich des Klimaschutzes – gefunden hat, folgendermaßen eingeführt: "Angesichts der unterschiedlichen Beiträge zur globalen Umweltverschlechterung tragen die Staaten gemeinsame, wenngleich unterschiedliche Verantwortlichkeiten. Die entwickelten Staaten erkennen die Verantwortung an, die sie in Anbetracht des Drucks, den ihre Gesellschaften auf die globale Umwelt ausüben, sowie in Anbetracht der ihnen zur Verfügung stehenden Technologien und Finanzmittel bei dem weltweiten Streben nach nachhaltiger Entwicklung tragen." [66]
- strong>Vorsorgeprinzip: Grundsatz 15 der Rio-Deklaration von 1992 führt aus: "Zum Schutz der Umwelt wenden die Staaten im Rahmen ihrer Möglichkeiten allgemein das Vorsorgeprinzip an. Drohen schwerwiegende oder bleibende Schäden, so darf ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.” [67] Beispielsweise liegt die Beweispflicht für die Ungefährlichkeit der Einführung gentechnisch veränderter Organismen in die Landwirtschaft bei den Befürwortern, da hinsichtlich der Risikoeinschätzung ein wissenschaftlicher Dissens besteht.
- Subsidiaritätsprinzip: Politische Entscheidungen sollten tendenziell auf der untersten möglichen politischen Ebene unter weitestgehender Einbeziehung der von diesen Entscheidungen betroffenen Bürgerinnen und Bürgern getroffen werden. Die jeweils nächsthöhere Ebene ist erst dann einzubeziehen, wenn die Tragweite und Verantwortungsdimension der zur Frage stehenden Entscheidung über das jeweils untergeordnete Gemeinweisen hinausreichen und dort nicht hinreichend zu lösen ist. Bezogen auf die globale Ebene stützt Subsidiarität auch das demokratische Recht auf Selbstbestimmung von Gemeinschaften und Staaten, soweit die gleichen Rechte anderer nicht verletzt werden.
- Prinzip der freien vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung: "Diesem Prinzip zufolge haben Gemeinschaften das Recht, ihre Zustimmung zu vorgeschlagenen Projekten und Aktionen von Regierungen oder global agierenden Unternehmen zu geben oder zu verweigern, falls sie ihre Lebensbedingungen und die Territorien betreffen, die sie nach dem Gewohnheitsrecht besitzen, in Anspruch nehmen oder anderweitig nutzen. Dieses Prinzip ist ein Schlüsselelement der Deklaration der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker von 2007 und wird im Übereinkommen der ILO über indigene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern (169/1989) anerkannt. Jedoch ist dieses Prinzip nicht auf die Rechte indigener Völker beschränkt. Es ist z. B. auch im Rotterdamer Übereinkommen über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für bestimmte gefährliche Chemikalien sowie Pestizide im internationalen Handel von 1988 niedergelegt." [68]
Die genannten Prinzipien basieren auf der universellen Grundlage gleicher (Menschen-)Rechte und befördern auf je verschiedene Weise das Anliegen, vermeidbaren Schaden von besonders verletzlichen Bevölkerungsgruppen abzuwenden. Darüber hinaus zielen sie positiv auf eine Verbesserung der Lebenssituation prioritär der besonders verletzlichen und schlecht gestellten Menschen. Es geht insbesondere darum, deren Kapazitäten zur Entfaltung ihrer Existenz und zur Erhöhung ihrer Widerstandsfähigkeit gegen Krisen und Katastrophen (Resilienz) zu stärken. Der Schutz der Rechte der verletzlichsten Bevölkerungsgruppen entspricht der im christlichen Glauben verwurzelten besonderen Verantwortung, für die Rechte der Armen einzutreten, und der "vorrangigen Option für die Armen".