Reformation und Islam

Ein Impulspapier der Konferenz für Islamfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Juni 2016

3. Reformatorische Sichtweisen auf den Islam

3.1 Martin Luther und die »Türken« – eine historische Verortung

Um das Verhältnis Martin Luthers (1483 – 1546) zum Islam richtig zu verstehen, ist es unerlässlich, den historischen Kontext zu betrachten, in dem Luther seine Schriften zum Islam veröffentlichte.

Von »Islam« und »Muslimen« sprach man seinerzeit noch nicht. Die Anhänger des Propheten nannte man »Türken«, »Sarazenen«, »Mahometisten«, »Muselmanen«, manchmal auch »Ismaelitae« oder schlicht »Heiden«. »Türckischer Glaub«, das hieß seinerzeit vor allem anderen: »Türkengefahr«. Der osmanische Sultan Suleiman hatte im Jahr 1521 Belgrad erobert, 1526 fiel das ungarische Mohács, 1529 standen »die Türken« vor Wien. Würde auch Wien bald fallen? Würden »die Türken« dann ganz Mitteleuropa erobern? Wie war diese ungeheure, nie dagewesene Bedrohung zu deuten? Was war zu tun? Das waren die Fragen, die Luther und seine Zeitgenossen in den späten 1520er-Jahren bewegten. Sie erforderten von der Politik geeignete militärische Maßnahmen und von den christlichen Theologen eine Auseinandersetzung mit der fremden und nach damals allgemeiner Überzeugung falschen, ja ungeheuerliche Irrlehren verbreitenden Religion. Als nötig wurde daher die Selbstvergewisserung der Christen im Glauben erachtet, durch Katechismen und durch polemisch-apologetische Schriften.

In diesem mentalen Kontext entstanden Luthers Schriften »widder die Türcken«, die beiden Hauptschriften nicht zufällig im Jahr der größten Gefahr, 1529, als die osmanischen Truppen Wien belagerten [11]. Nicht zufällig entstand auch der kleine Katechismus im selben Jahr: Je stärker die Bedrohung von außen, desto nötiger schien es, dass der »gemeine Mann« und seine Kinder wissen und verstehen, was es heißt, ein Christ zu sein.

Der Grundton dessen, was Luther zu sagen hat, wird in der folgenden Passage aus der »Heerpredigt widder den Tuercken« exemplarisch deutlich. Was sollen die Deutschen tun, die seinerzeit »ynn der Tuerckey gefangen sind odder noch gefangen moechten werden«, fragte er und antwortete:

»So lerne nu, weil du noch raum und stat hast, die zehen gebot, dein vater unser, den glauben und lerne sie wol, sonderlich diesen artickel da wir sagen ›Und an Jhesum Christ seinen einigen Son unsern Herrn, der empfangen ist vom heiligen geist, geborn von der iungfrawen Maria, gelitten hat unter Pontio Pilato, gecreutzigt, gestorben und begraben, Nidder gefaren zur hellen, Am dritten tag aufferstanden von den todten, auffgefaren gen hymel, sitzend zur rechten Gottes des allmechtigen Vaters, von dannen er komen wird zu richten die lebendigen und die todten &c..‹ Denn an diesem artickel ligts, von diesem artickel heissen wir Christen und sind auch auff den selbigen durchs Euangelion beruffen, getaufft und ynn die Christenheit gezelet und angenomen, und empfahen durch den selbigen den heiligen geist und vergebung der sunden, dazu die aufferstehung von den todten und das ewige leben. Denn dieser artickel macht uns zu Gottes kinder und Christus bruder, das wir yhm ewiglich gleich und mit erben werden.

Und durch diesen artickel wird unser glaube gesondert von allen andern glauben auff erden, Denn die Jueden haben des nicht, Die Tuercken und Sarracener auch nicht, dazu kein Papist noch falscher Christ noch kein ander ungleubiger, sondern allein die rechten Christen. Darumb, wo du ynn die Tuerckey komest, da du keine prediger noch buecher haben kanst, da erzele bey dir selbs, es sey ym bette odder ynn der erbeit, es sey mit worten odder gedancken, dein Vater unser, den Glauben und die Zehen gebot, und wenn du auff diesen artickel koempst, so drucke mit dem daumen auff einen finger odder gib dir sonst etwa ein zeichen mit der hand odder fuss, auff das du diesen artickel dir wol einbildest und mercklich machest, Und sonderlich, wo du etwa wirst ein Turckisch ergernis sehen odder anfechtung haben. Und bitte mit dem Vater unser, das dich Gott behuete fuer ergernis und behalte dich rein und feste ynn diesem artickel, Denn an dem artickel ligt dein leben und seligkeit.« [12]

Schon dieses Zitat zeigt: Luthers Auseinandersetzung mit dem Islam war kein gelehrter, akademischer Diskurs über das Verhältnis zweier großer Religionen. Sondern es war für ihn ein Kampf um den rechten Glauben am Ende der Zeit. Das Reich der Türken, zu dieser Einsicht war er bei der Auslegung der Schrift gekommen, sei das rätselhafte letzte Reich, von dem der Prophet Daniel einst gesprochen habe: »Nach ihnen aber wird ein anderer aufkommen, der wird ganz anders sein als die vorigen und wird drei Könige stürzen. Er wird den Höchsten lästern und die Heiligen des Höchsten vernichten und wird sich unterstehen, Festzeiten und Gesetz zu ändern« (Dan 7,24 – 25). Gott lasse die Türken auftreten und siegen, weil er die Papstkirche strafen wolle, die sich dem rechten Evangelium verweigere, so Luthers Überzeugung. Der Türke sei die Rute Gottes für die verlotterte Christenheit, eine letzte Prüfung, die es zu bestehen gelte. Luther schrieb:

»Des »Tuercken Kriegen« ist »ein lauter frevel und reuberey, dadurch Gott die welt strafft, wie er sonst manch mal durch boese buben auch zu weilen frume leute straffet. Denn er [der Tuercke] streit nicht aus not odder sein land ym fride zu schutzen, als ein ordenlich Obirkeit thut, sondern er suecht ander land zu rauben und zubeschedigen, die yhm doch nichts thun odder gethan haben, wie ein meer reuber odder strassen reuber. Er ist Gottes rute und des Teueffels diener, das hat keinen zweifel.« [13]

Weil das seines Erachtens so war, lehnte Luther die Pläne für einen Kreuzzug gegen die Türken ab. Gewiss habe der Kaiser die Christenheit mit aller Kraft gegen die Angreifer zu verteidigen. Aufgabe der Christen sei es aber nicht, gegen die Rute Gottes zu kämpfen – wie sollte das auch zum Erfolg führen? Aufgabe der Christen sei es vielmehr, Buße zu tun, zu beten und sich auf das wahre Evangelium zu besinnen. Nur auf diese Weise könne der Türkengefahr ernstlich begegnet werden.

Stand in den Schriften aus den 1520er-Jahren die »Türkengefahr« ganz im Vordergrund, so hat Luther sich in den letzten Jahren seines Lebens intensiver mit dem Islam als Religion auseinandergesetzt. Angestoßen wurde diese Auseinandersetzung dadurch, dass ihm erstmals eine lateinische Übersetzung des Korans in die Hände fiel. Kannte er den Inhalt des Buches der »Türken« bisher nur vom Hörensagen und aus Quellen, die ihm wenig glaubwürdig erschienen, so las er im Frühjahr 1542 den Koran in der lateinischen Übersetzung Robert von Kettons. Luther schrieb:

»[I]tzt diese Fastnacht hab ich den Alcoran gesehen Latinisch, doch seer ubel verdolmetscht, das ich noch wuenschet einen klerern zusehen. So viel aber daraus gemarckt, das dieser Bruder Richard [Ricoldus] sein Buch nicht ertichtet, Sondern gleich mit stimmet. [...] Das rede ich darumb, das ich diesem bruder Richard gleuben mus, der so lange zuvor den Alcoran verlegt hat [...]. Darumb ichs fur nuetzlich und not angesehen, dieses Buechlin zuverdeudschen (weil man kein bessers hat), Das doch bey uns deudschen auch erkand werde, wie ein schendlicher Glaube des Mahmets Glaube ist, Da mit wir gesterckt werden in unserm Christlichen Glauben.« [14]

In der Folge dieses Leseeindrucks gab Luther eine Reihe von Büchern heraus, die sich mit dem Islam befassen. Er edierte die »Widerlegung des Koran« des Ricoldus und übertrug sie ins Deutsche. Zugleich setzte er sich dafür ein, dass der Koran als Buch erschien. In einem Brief an den Rat der Stadt Basel aus dem Jahr 1542 ermutigte er die Ratsherren, den Druck des »Alcoran« durch Theodor Bibliander zu gestatten, und schrieb ein Vorwort zu dieser ersten gedruckten Koranausgabe. Luther begründete seine Haltung wie folgt:

»Mich hat das bewogen, das man dem Mahmet oder Turcken nichts verdrieslichers thun, noch mehr schaden zu fugen kan (mehr denn mit allen waffen), denn das man yhren alcoran bey den Christen an den tag bringe, darinnen sie sehen mugen, wie gar ein verflucht, schendlich, verzweivelt buch es sey, voller lugen, fabeln und aller grewel, welche die Turcken bergen und schmucken und zu warzeichen ungern sehen, das man den alcoran ynn andere sprache verdolmetscht. Denn sie fulen wol, das yhnen grossen abfal bringet bey allen vernunfftigen hertzen.« [15]

Der Brief nach Basel bringt auf den Punkt, wie Luther über »Mahmet« und den »Alcoran« dachte: Für ihn ist es ein Buch voller Lügen und Fabeln und allerlei Gräuel. Zwar wusste Luther durchaus von Elementen im Islam, die ihn beeindruckten: der strenge Monotheismus, das asketische Leben ihrer »Priester«, ohne Wein und Saufen und Fressen, die Disziplin und Stille des Gebets, samt Geschlechtertrennung, ordentlicher Kleidung und Verschleierung der Frauen. Luther schrieb:

»Zum andern wirstu auch finden das sie ynn yhren kirchen offt zum gebet zu samen komen und mit solcher zucht, stille und schoenen eusserlichen geberden beten, das bey uns ynn unsern kirchen solche zucht und stille auch nirgent zu finden ist. Denn da sind die weiber an sonderlichem ort und so verhuellet, das man keine kan ansehen, das auch unsere gefangen brueder ynn der Tuerckey klagen uber unser volck, das nicht auch ynn unsern kirchen so still, ordenlich und geistlich sich zieret und stellet. [...] Sie trincken nicht wein, sauffen und fressen nicht so, wie wir thun, kleiden sich nicht so leichtfertiglich und froelich, bawen nicht so prechtig, brangen auch nicht so.« [16]

Doch das, so Luther, sei alles nur äußerlich, ein Blendwerk, vor dessen Wirkung sich der Christ in Acht zu nehmen habe. In der Sache und im Kern sei der Islam falsch, die »Türken« ehrten »den teuffel an Gottes stat« [17]. Nichts könne ihnen daher mehr schaden als eine Veröffentlichung des aus seiner Sicht schändlichen »Alcoran«, der viele Themen behandle, die der christliche Leser aus der Bibel kenne, allerdings in grotesker Verzerrung. Es sei, so schrieb Luther, als habe der Teufel alle Irrlehren, die in der Geschichte des Christentums aufgetreten seien, versammelt und auf einen Haufen geworfen.

»So ist zu mercken, das alle den unflat, so der Teufel durch andere Ketzer hin und wider gestrewet, den hat er durch Mahmet auff einen hauffen heraus gespeiet.« [18]

Harte Polemik und energische Apologie, das war vor dem Hintergrund der Kriegsgefahr und seines apokalyptischen und christologischen Denkens der Grundton der Auseinandersetzung Luthers mit dem Islam. Der Christenglaube ist für ihn ohne jeden Zweifel der rechte Glaube, die Lehre des »Mahmet« eine schändliche Ketzerei. Im Koran möge vieles zunächst nach christlicher Lehre klingen, aber es fehle alles, was wichtig sei, oder es werde grotesk verzerrt: die Lehre von Christus, vom Sohn Gottes, von der Trinität, von der Sünde, vom Kreuz, von der Auferstehung, von der Vergebung allein aus Gnade, vom Gericht und vieles andere mehr. Darüber hinaus habe der Koran ein zweifelhaftes Verhältnis zur Gewalt, und er enthalte offenkundige Lügen. Alles in allem: Er sei ein »Moerdisch, Tyrannisch und wuetig« Gesetz, das »nicht Gottes Gesetz sein kann [...], Denn es ist kurtz zu reden Ein Gesetz des todes und wuetens«. [19]

3.2 »Türken«, »Tataren« und »Mahometisten« – Muslime in den lutherischen Bekenntnisschriften

Eine übergeordnete Verwendung des Begriffs »Religion« ist erst ab dem 18. Jahrhundert gebräuchlich [20]. In den Bekenntnisschriften wird dementsprechend nicht von der »Religion Islam« gesprochen, sondern es werden Bezeichnungen wie »Türken«, »Tataren« und »Mahometisten« (Mohammedaner) verwendet, die sich aus dem historischen Kontext des 16. Jahrhunderts erklären. Die Kategorie, unter der die Bekenntnisschriften »die Mohammedaner« maßgeblich verhandeln, ist die einer christlichen Häresie.

Die Vorstellung einer eigenständigen »Religion« im heutigen Sinne existierte seinerzeit nicht. »Religio« wurde das öffentliche Bekenntnis genannt. Insofern hatten Altgläubige und Protestanten eine unterschiedliche »Religion«. Darüber hinaus unterschied man zwischen »Häretikern«, die an denselben Gott in falscher Weise glaubten bzw. Irrlehren verbreiteten, und »Heiden«, die an andere Götter glaubten, wie z. B. Polytheisten. Muslime wurden schon vor der Reformation teils zu »Häretikern«, teils zu »Heiden« erklärt. Luther und Calvin folgten der Tradition, die in Muslimen Häretiker sah.

In den lutherischen Bekenntnisschriften gibt es nur wenige Aussagen über Muslime, von denen im Folgenden einige Beispiele genannt werden:

»Deshalb werden alle Irrlehren verworfen, die diesem Artikel widersprechen, wie die Manichäer, die zwei Götter annehmen: einen bösen und einen guten; ebenso die Valentinianer, Arianer, Eunomianer, Mohammedaner und alle ähnlichen« [21] (Augsburger Bekenntnis, Art. 1).

Die theologische Verhältnisbestimmung ist von einer christozentrischen Apologetik geprägt. Sie (die »Türken« u. a.) »mögen zwar nur einen wahrhaftigen Gott glauben und anbeten, aber sie wissen doch nicht, wie er gegen sie gesinnt ist« [22] (Großer Katechismus).

Die »Türken« als Vertreter des Osmanischen Reiches gelten zudem als »Erbfeind« des christlichen Namens und der Christen [23] (Vorrede zum Augsburger Bekenntnis).

Auch der Vorwurf der Werkgerechtigkeit taucht in verschiedenen Glaubensartikeln auf: »Denn das Reich des Antichristen ist ein neuer Gottesdienst, der von menschlicher Autorität ausgedacht wurde, der Christus verstößt, gleich wie auch das Reich Mohammeds Gottesdienste hat und Werke hat, durch die es vor Gott gerechtfertigt werden will, und nicht glaubt, dass die Menschen vor Gott umsonst gerechtfertigt werden durch den Glauben um Christi willen« [24] (Apologie des Augsburger Bekenntnisses, Art. 15).

Trotz der Ängste vor der »Türkengefahr« finden sich in den Bekenntnisschriften vergleichsweise wenige dämonisierende Aussagen. Im Vergleich mit dem Papsttum galt der Islam als die geringere Gefahr: »Türken« und »Tataren«, »so große Feinde der Christen« sie auch sind, »sie lassen (jeden), der es will, an Christus glauben und verlangen (bloß) leiblichen Zins und Gehorsam von den Christen« [25] (Schmalkaldische Artikel Teil II, Art. 4).

3.3 Reformierte Traditionen

Wie für Luther, so war auch für die Reformierten der historische Kontext maßgeblich für ihre Haltung zum Islam. Die mittelalterliche Sicht auf den Islam, die sich aus der Erfahrung der Kreuzzüge speiste, und die aktuelle Bedrohung durch das Osmanische Reich führten hier ebenfalls zu einer überwiegend negativen Perspektive. Auch fehlten weitgehend eigene Erfahrungen mit Muslimen, die zu einer Revision dieser Sicht hätten führen können. Wie bei Luther basierte ebenso bei den Reformierten die Kenntnis des Islam als Religion auf den damals verfügbaren Quellen [26]. Es gab jedoch unter ihnen einige Gelehrte, die diese Kenntnisse durch eigene Studien vertieften, mit unterschiedlichen Akzentuierungen [27].

Huldrych Zwingli (1484-1531) sah den Islam als eine (christliche) Häresie an. Die »Türken« waren für ihn eine große Bedrohung der westlichen Christenheit und eine Strafe und Prüfung für die Christen: »... also tut er [sc. Gott] yetz in der gegenwürtigen türckischen anfechtung, die er allen Christen zu gutem lasst hereinfallen« [28]. Einen Kreuzzug, zudem unter der Führung des Papstes, lehnte er ab. In der friedlichen Mission an den Muslimen sah er eine Alternative zur kriegerischen Auseinandersetzung [29].

Wenngleich Zwingli kein Buch über den Islam bzw. die »Türken« veröffentlicht hat, hat er doch während seiner Baseler Studienzeit die Gelegenheit gehabt, eine lateinische Koranübersetzung zu lesen. Er kam zu folgendem polemischen Urteil über den islamischen Glauben: »Ich find in der Türggen Alcoran wol das Wüssen irs Gloubens; ich gib im aber darumb ghein Glouben; dann es ist grösser narrenwys nie von einem Glouben erfunden, weder sy habend« [30].

Theodor Bibliander (1506-1564) griff Zwinglis Idee der Mission unter Muslimen auf. Ein Jahr nach dessen Tod wurde er Professor für Altes Testament an der Schola Tigurina und widmete sich intensiv dem Studium des Arabischen, mit dem Ziel, als Missionar nach Ägypten zu gehen. Heinrich Bullinger überzeugte ihn schließlich, in Zürich zu bleiben.

Auf Theodor Bibliander gehen entscheidende Veröffentlichungen zurück, die Grundlage für die Kenntnis des Islam im Umfeld der Reformation wurden: So 1542 die Schrift »Ad nominis Christiani socios consultatio« (An die Gefährten des christlichen Namens gerichtete Untersuchung) [31], die das Leben Mohammeds in apologetischer Absicht unter den Christen bekannt machen wollte. 1543 erschien »Machumetis Saracenorum principis, eiusque sucessorum vitae, ac doctrina, ipseque Alcoran« (Des Mohammed, des Fürsten der Sarazenen, und seiner Nachfolger Leben, Lehre und Koran), die lateinische Koranübersetzung Robert von Kettons, ergänzt durch umfangreiche Anmerkungen, die die Bezüge zu biblischen Texten herstellten [32].

Heinrich Bullinger (1504-1575), der Nachfolger Zwinglis, hat sich in seinen Schriften an vielen Stellen zum Islam geäußert und 1567 eine Schrift mit dem Titel »Die Türken« veröffentlicht [33]. Diese Schrift zeugt von einer gründlichen Kenntnis des Koran und des islamischen Glaubens. Darin weist er den göttlichen Ursprung des Koran zurück und sieht in ihm eine Erfindung Mohammeds.

Auch Bullinger sieht den Islam nicht als eine fremde Tradition oder gar als eigene Religion an, sondern als eine christliche Häresie. Dies zeigt sich für ihn darin, dass der Islam die zentralen Glaubensinhalte des Christentums bestreitet:

»Dann also hat er [sc. Mohammed] verdilgget die Leer unnd den Glouben der Heiligen Tryfaltigkeit. Dann one Erkandnusz der dry underscheidnen Personen, des Vatters, Suns und Heiligen Geists, in dem ein einigen, unzerteilten göttlichen Wäsen, leert unnd bekennt er uff jüdische Wysz nun ein einigen Gott, also das er weder den Sun, noch den Heiligen Geist, sunder allein den Vatter für Gott haltet und anbättet« [34].

So verurteilt er am islamischen Glauben besonders die fehlende Christologie sowie die dort nach seinem Eindruck geforderten Erlösungswege wie Fasten, Beten, Spenden usw., die er in eine Reihe mit der dem Papsttum vorgeworfenen Werkgerechtigkeit stellt:

»Machomet gibt ouch die Verzyhung der Sünden und das ewig Läben nit zu dem einigen Herren Jesu Christo, als dem einigen Mittler, unnd dem waren Glouben in in. Dann er halt gar nüt von der rächten waaren Houptleer desz heiligen christenlichen Gloubens, namlich von der waaren Justification oder Gerächtmachung durch den einigen Glouben in Christum. Dann er dichtet ... dardurche man erwerbe und verdiene Verzyhung der Sünden und das ewig Läben ... Glych wie ettliche Bäpst Abblasz der Sünden denen verheiszen habend, die in Kriegen von wägen der römischen Kirche erschlagen wordend. So hat Machomet ouch sine Münch und Pfäffen, setzt in deren Verdienst das Heil. Dann er giby die Säligkeit zu nit dem Glouben ..., sunder dem Verdienst der Wercken.« [35]

Ebenso kritisiert er die Praxis der Polygamie und muslimische Vorstellungen vom Paradies. In der islamischen Stellung zur Gewalt sieht er Parallelen zu den Täufern in Münster. Trotz dieser ablehnenden Haltung kann Bullinger allerdings durchaus Gutes im Leben der Muslime finden, gerade im Vergleich zum schlechten Lebenswandel von Christen. Hierin liegt für ihn ein entscheidender Grund für den Erfolg des Islam, der zeitlich zudem mit dogmatischen Streitigkeiten in der Kirche zusammenfiel. Die aktuelle Bedrohung durch die »Türken« versteht Bullinger als ein Werkzeug Gottes zur Erziehung und Bestrafung der Christen für ihren Unglauben. Bullingers Ausführungen lassen auch ein starkes Interesse an der Geschichte des Islam und seinen politischen und gesellschaftlichen Strukturen erkennen. Es findet sich jedoch auch bei Bullinger, wie in Bezug auf das Papsttum, eine Verbindung zwischen dem Islam und dem Antichristen [36].

Johannes Calvin (1509-1564) bietet in zahlreichen Bemerkungen eine andere Akzentuierung. Auch wenn es von ihm keine explizite Veröffentlichung zu den »Türken« gibt, so hat er doch in Kommentaren, Predigten und Vorlesungen immer wieder grundlegende Ausführungen dazu verfasst. Im Zentrum steht auch hier die theologische Auseinandersetzung. Für ihn ist Mohammed ein Apostat, der mit der Gründung einer Sekte eine große Zahl von Christen zum Abfall vom Glauben geführt habe: »Latius quidem defectio grassata est: nam Mahometes, ut erat apostate, Turcas suos a Christo alienavit ... sectam vero Mahometis, instar violent(i)ae exundationis fuisse, quae dimidiam plus minus partem suo impetus raperet.« [37] (zu Deutsch: Die Abtrünnigkeit hat sich weiter ausgedehnt. Denn Mohammed, weil er ein Apostat war, hat seine Türken von Christus entfremdet ... Die Sekte aber des Mohammeds war wie eine gewaltige Überschwemmung, die mehr oder weniger die Hälfte seinem Reich entrissen hat.)

Dabei definiert Calvin den islamischen Anspruch auf eine eigene göttliche Offenbarung als entscheidendes Kriterium für den Vorwurf der Häresie, denn außerhalb der Bibel könne es keine Offenbarung und keine reine Religion geben [38].

Ohne den Islam explizit zu nennen, aber durchaus auf ihn wie auch auf Juden und andere »Leugner« der Göttlichkeit Christi bezogen, kritisiert Calvin an anderer Stelle die Zurückweisung der Göttlichkeit Jesu Christi und der Trinität. Hier sind für ihn keine Kompromisse möglich, da es sich um das Zentrum des christlichen Glaubens handele [39].

Auch wenn Calvin Islam und Papsttum mit dem »Antichristen« identifizieren kann:

»Tout ainsi que Mahommet dit que son Alchoram est la sagesse souveraine, autant en dit le Pape: car ce sont les deux cornes de l’Antechrist.« [40] (zu Deutsch: Wenn Mohammed sagt, dass sein Koran die souveräne Weisheit sei, wie es auch der Papst sagt [in Bezug auf seine Beschlüsse]: denn sie sind die beiden Hörner des Antichristen.), so ist seine Grundhaltung doch von der Bullingers wie auch Luthers und Melanchthons deutlich unterschieden. Seine Kritik am Islam ist primär theologisch, doch in keiner Weise moralisch abwertend. Sie richtet sich auf die Glaubenslehren, nicht auf die Ethik, während gerade die Glaubenspraxis für Bullinger die unüberbrückbare Trennlinie darstellte.

Calvins explizit antiapokalyptische Sicht zeigt sich besonders in seiner Auslegung des Danielbuches. Hier wendet er sich gegen eine Identifizierung der dortigen Prophezeiungen mit aktuellen politischen Erscheinungen. Er sieht in den bei Daniel beschriebenen Ereignissen historische Fakten, die ausschließlich mit dem griechischen Herrscher Antiochus Epiphanes zu tun hätten. Mit dieser Lesart unterscheidet sich Calvin deutlich von den anderen Reformatoren [41]. In seiner vorrangig theologischen Auseinandersetzung, die sich moralischer Abwertung und Verzeichnungen der Muslime als Feinde enthält, eröffnet Calvin Perspektiven für einen Dialog und für Toleranz. In diese Richtung kann auch ein Predigtauszug gedeutet werden, der vom »Türken« als von »unserem Fleisch« spricht:

»Or si nature nous enseigne d’avoir pitié les uns des autres, quand il y a ceste conjunction spirituelle que Dieu a mise pa L’Evangile, n’est ce pas encores plus? Prenons le cas que nous soions comme entre les Turcs, et qu’il n’y ait autre lien qui nous attire à ceste communauté de laquele parle ici le prophete, sinon d’autant que nous sommes tous homes, nous viola desja convaincus; car un Turc est nostre chair. Et nostre Seigneur Jesus aussi monster assez que nous avons proximite avec ceux qui semblent estranges des nous, souz ceste figure qu’il nous propose du Samaritain« [42] (zu Deutsch: Nun, wenn die Natur uns lehrt, einer dem anderen gegenüber Barmherzigkeit zu erweisen, da diese geistige Verbindung besteht, die Gott durch das Evangelium gegeben hat, bedarf es dann noch etwas darüber hinaus? Nehmen wir den Fall an, wir seien quasi unter den Türken und dass es kein anderes Band gäbe, das uns mit dieser Gemeinschaft verbindet, von der hier der Prophet spricht, außer dass wir alle Menschen sind, wovon wir alle überzeugt sind; denn ein Türke ist unser Fleisch. Und unser Herr Jesus zeigt auch klar, dass wir eine Nähe zu denen haben, die uns fremd erscheinen, wie bei der Person, die er uns seitens des Samaritaners vorschlägt.)

Abgesehen von den theologischen Auseinandersetzungen mit dem Islam im reformierten Kontext gibt es eindrucksvolle Beispiele gelebter Toleranz in Gebieten, in denen reformierte Gemeinden mit muslimischen Nachbarn zusammenlebten. Von besonderem Interesse ist die Situation in Polen-Litauen. Der mehrheitlich reformiert geprägte Große Rat räumte unterschiedlichen Glaubensrichtungen Freiheit in der Ausübung des Kultus ein [43]. Im »Konsens von Sandomir« 1570 hatten bereits Lutheraner, Reformierte und Böhmische Brüder Bekenntnisfreiheit vereinbart [44].

In den reformierten Bekenntnisschriften gibt es keine explizite Auseinandersetzung mit dem islamischen Glauben, z. B. unter dem Oberbegriff der »Türken«. Er findet, wenn überhaupt, hier unter dem Sammelbegriff des »Antichristen« negative Erwähnung. In den »Fundamentalartikeln« spielen stattdessen friedenspolitische Überlegungen gegenüber der katholischen Kirche, Lutheranern und Häretikern eine wichtige Rolle. Die zugrunde liegende Frage war, ob die Gemeinsamkeiten mit Andersgläubigen so groß sind, dass eine religiöse Pluralität zugelassen werden könne.

Die zurückliegenden Abschnitte haben sich mit der reformatorischen Islamwahrnehmung des 16. Jahrhunderts befasst. Eine Untersuchung, wie diese Wahrnehmungen in der protestantischen Theologiegeschichte der folgenden Jahrhunderte rezipiert und modifiziert wurden und dadurch weitergewirkt haben, wäre überaus wünschenswert, kann an dieser Stelle aber nicht geleistet werden. Stattdessen sollen im folgenden gleichsam mit einem Zeitsprung vom 16. ins 21. Jahrhundert Überlegungen entwickelt werden, wie einige der zentralen reformatorischen Erkenntnisse und Einsichten heute als Anknüpfungspunkt im christlich­islamischen Dialog fruchtbar gemacht werden können. Es ist dabei das ausdrückliche Anliegen, dass dieser Impuls in seiner Vorläufigkeit im Rahmen des Reformationsjubiläums und darüber hinaus kritisch­kontrovers oder zustimmend, in jedem Fall aber vertiefend aufgegriffen und weiterentwickelt wird.

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