Reformation und Islam
Ein Impulspapier der Konferenz für Islamfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Juni 2016
4. Eine neue theologische Verhältnisbestimmung zum Islam als Aufgabe
Die anhand der Rechtfertigungslehre vor 500 Jahren gewonnenen zentralen Einsichten reformatorischer Theologie können heute in fünf Kernpunkten zusammengefasst werden: solus Christus – allein Christus, sola gratia – allein aus Gnade, solo verbo – allein im Wort, sola scriptura – allein aufgrund der Schrift und sola fide – allein durch den Glauben [45].
Damit sind grundlegende hermeneutische und theologische Positionierungen und Weichenstellungen markiert, die den Protestantismus bis in die Gegenwart hinein geprägt haben. Zur Zeit der Reformation benannten sie zugleich auch einen Ausschluss anderer Vorstellungen. So wendeten sich z. B. das solus Christus gegen die spätmittelalterliche Heiligenverehrung und Marienfrömmigkeit, [46] das sola gratia gegen die wahrgenommene »Werkgerechtigkeit« [47] und die damalige Ablasspraxis [48]. Im sola scriptura drückte sich die Ablehnung »kirchlicher Sonderlehren« [49] und eines »mit der Schrift in Konkurrenz stehenden Autoritätsanspruch[es] der Kirche« [50] aus. Das sola fide widersprach der Vorstellung, der Mensch könne selbst etwas zu seiner Rechtfertigung beitragen [51].
Eine Übertragung der reformatorischen Positionierungen und Abgrenzungen in die Gegenwart ist nicht ohne Weiteres möglich und erfordert besondere Sorgfalt. Die Unterscheidung zwischen Schrift und Tradition, die im sola scriptura vollzogen wurde, ist heute durch die Erkenntnis zu korrigieren, dass die Entstehung biblischer Texte selbst schon das Ergebnis eines Traditionsvorganges ist [52]. So können die biblischen Texte auch nicht im gleichen Sinne wie von den Reformatoren vorgestellt als unmittelbares »Wort Gottes« verstanden werden [53]. Das solo verbo kann heute nicht mehr so ausgelegt werden, als würde die Kirche die anderen Sinne neben dem Hören negieren: »Manche übertriebene Engführung, die alles außer ›dem Wort‹ vernachlässigt, weil man in den evangelischen Traditionen alles andere für Ablenkung hielt, ist heute überwunden.« [54]
In ähnlicher Weise stellt sich auch im Blick auf das solus Christus die Frage, wie die darin zum Ausdruck gebrachte Exklusivität Jesu Christi in einer religiös pluralen Gesellschaft so bekannt werden kann, dass sie im Dialog nicht als anmaßend oder überheblich wahrgenommen wird. Im EKD-Text »Rechtfertigung und Freiheit« heißt es dazu: »Die Herausforderung besteht darin, von Christus zu sprechen, aber so, dass dabei nicht der Glaube des anderen abgewertet oder für unwahr erklärt wird. So wie für den Christen das Gehören zu Christus der einzige Trost im Leben und im Sterben ist, so ja auch für den Anhänger der anderen Religion sein spezifischer Glaube. Dies darf auf beiden Seiten des Gespräches anerkannt werden.« [55]
So zeigt sich, dass die reformatorischen »Befreiungen« vor 500 Jahren zu allen Zeiten einer neuen Aneignung und Übertragung bedürfen. Das gilt nicht zuletzt auch für die Islamwahrnehmungen der Reformatoren und insbesondere Martin Luthers, die aus heutiger Sicht in mancherlei Hinsicht als polemisch, einseitig, schemenhaft und holzschnittartig bezeichnet werden müssen. Sie stehen damit in einer deutlichen Spannung zu gegenwärtigen dialogischen Ansätzen, die dem Selbstverständnis und der Eigenständigkeit des muslimischen Glaubenszeugnisses Respekt und Achtung entgegenbringen möchten. Eine solche dialogische Haltung erfordert es deshalb auch, aufmerksam zu sein für die Entstehung von Feindbildern und Bedrohungsszenarien, sie erfordert differenzierte Information und fortwährende persönliche Begegnungen. Gerade weil in interreligiösen wie auch interkonfessionellen Gesprächen immer wieder theologische Aussagen zur Sprache kommen, die in der jeweils eigenen Geschichte zeitweise oder bleibend als »Irrlehren« verworfen wurden, ist es umso wichtiger, dieses im Lernprozess des Dialogs auszuhalten, gegebenenfalls neu zu verstehen und zu bewerten und darüber den Kontakt nicht abzubrechen.
So sind z. B. Bezeichnungen der sich zum Islam bekennenden Gläubigen als »Mohammedaner« irreführend, weil sie nahelegen, Muslime würden in ähnlicher Weise Mohammed in den Mittelpunkt ihres Glaubens stellen wie Christen Jesus Christus. Die Etikettierung der muslimischen Religion als »christliche Häresie« missachtet die Selbstständigkeit der islamischen Glaubenstradition. Die Bezeichnung des Islam als »Antichrist« fördert eine nicht zu rechtfertigende Dämonisierung der Muslime.
Luther und andere Reformatoren haben mitunter den Islam für die christliche Bußparänese verwendet. Auch gegenüber einer solchen pädagogisch-homiletischen Instrumentalisierung der Andersglaubenden, sei es als leuchtendes oder abschreckendes Beispiel, erheben sich heute Bedenken. Gleichwohl ist es legitim und möglich, das, was im Glauben der anderen positiv erscheint, positiv zu würdigen, und das, was kritisch gesehen wird, kritisch zu benennen. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, sich ernstlich auf den Glauben des anderen einzulassen. In der Reformation ist das nur ansatzweise gelungen. Heute haben wir aufgrund veränderter historischer und geistesgeschichtlicher Bedingungen die Möglichkeit, einen ernsthaften interreligiösen Dialog zu führen [56].
Islamfeindlichen Tendenzen, die in der heutigen Gesellschaft und Weltsituation vorhanden sind, ist dabei mit aller Entschiedenheit zu widersprechen. Sie sind auch nicht durch eine unreflektierte Übernahme von Zitaten aus dem 16. Jahrhundert zu rechtfertigen. Gegenüber der weltweit praktizierten Religion des Islam ist Differenzierung geboten. Es gehört zum evangelischen Selbstverständnis und einem zentralen Anliegen der Reformation, das Verhältnis Gottes zum Menschen als ein gnädiges zu bekennen. Der von Gott gerechtfertigte Glaubende kann somit auch im Umgang mit Andersglaubenden gelassen sein, befreit von der ängstlichen Sorge, sich selbst, anderen oder Gott noch etwas beweisen zu müssen.
Die anhand der Rechtfertigungslehre gewonnenen fünf sola lassen sich für das Gespräch mit Musliminnen und Muslimen fruchtbar machen und als theologischer Anknüpfungspunkt verwenden. Die Grundeinsicht, dass es an der Gnade Gottes liegt, wenn ein Mensch glauben kann, dass der Glaube keine »Leistung« des Menschen ist, die ohne Gottes Zutun und sein Wirken zustande käme, ermöglicht es zum Beispiel, auch Nichtglaubende oder Andersglaubende in einem anderen Licht zu sehen. Gerade die eigene unverfügbare Glaubensgewissheit kann den Respekt und die Achtung vor anderen Glaubensgewissheiten und Glaubensweisen mit sich bringen. Die Kammer für Theologie der EKD hat das so ausgedrückt: »Da der christliche Glaube eine je eigene individuelle Gewissheit ist, kann er nicht verantwortlich vertreten werden, ohne das Recht divergierender religiöser Überzeugungen und damit das Recht des religiösen Pluralismus anzuerkennen und zu stärken.« [57]
Das reformatorische sola gratia und das sola fide laden dazu ein, sich mit Musliminnen und Muslimen in ein vertieftes Gespräch über den inneren Zusammenhang von Glauben, göttlicher Gnade und menschlichem Handeln zu begeben. Welchen Stellenwert dabei »gute Werke« haben, kann in diesem Zusammenhang ebenfalls erörtert werden, ohne die reformatorische Ablehnung einer sogenannten Werkgerechtigkeit oder den islamischerseits positiveren Zugang zur Orthopraxie zu verschweigen. Dabei mag es hilfreich sein, daran zu erinnern, dass schon zur Reformationszeit selbst die Frage der »guten Werke« kontrovers diskutiert wurde, wie es etwa in der Konkordienformel seinen Niederschlag gefunden hat: »Uber der Lere von guten Wercken seind zweierley spaltungen in etlichen Kirchen entstanden: Erstlich Haben sich etzliche Theologen uber nachfolgenden reden getrennet, da der eine teil geschrieben, Gute Werck sind nötig zur seligkeit, Es ist unmüglich, one gute Werck selig zu werden. [...] Der andere aber dagegen geschrieben: Gute Werck sind schedlich zur seligkeit.« [58]
Ebenfalls zur Vertiefung im christlich-islamischen Dialog geeignet ist die Thematisierung der zentralen Bedeutung, die dem Wort bzw. der Schrift in beiden Religionen zukommt. Solo verbo und sola scriptura bezeichnen die unbedingte reformatorische Wertschätzung des Wortes Gottes als Richtschnur und Maßstab der kirchlichen Lehre. Sie kann auch gegenüber Muslimen verständlich gemacht werden, die einer anderen Wort- und Schrifttradition verbunden sind. Selbstverständlich kann und sollte die Erkenntnis des Stellenwertes des Wortes im Christentum und Islam auch zu Diskussionen über die Inhalte von Tora und Evangelium, Koran und Sunna führen. Als evangelische Christinnen und Christen müssen wir keine Berührungsängste gegenüber den Schriften anderer Religionen haben. Wir können uns mit Interesse und Offenheit mit den Offenbarungsquellen des Islam auseinandersetzen, ohne Sorge, dabei das Eigene zu verlieren. Ein solcher Dialog eröffnet im Gegenteil die Möglichkeit, den eigenen Glauben zu intensivieren und zu weiten.