Reformation und Islam

Ein Impulspapier der Konferenz für Islamfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Juni 2016

2. Glaubensvielfalt zur Zeit der Reformation und heute

Die zentrale Bedeutung der Reformatoren für evangelische Christinnen und Christen in Deutschland und darüber hinaus ist unbestreitbar. Nicht nur deren theologische Einsichten haben Geschichte geschrieben, sondern Luther und zahlreiche andere Reformatoren jener Zeit haben Sprache und Kultur in Deutschland wesentlich geprägt. Die Entwicklungen dieser geschichtlichen Phase haben die Basis zu einer konfessionellen Pluralisierung gelegt, die – nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen in den Konfessionskriegen – in den nachfolgenden Jahrhunderten die Gedanken von Toleranz und Religionsfreiheit, die heute unverzichtbar sind, notwendig machte.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass Toleranz im heutigen Sinne für die Reformation nicht im Blick war. Die Reformation hat zunächst Freiheit und Akzeptanz des Bekenntnisses für sich selbst eingefordert, in seltenen Fällen auch von Andersgläubigen gewährt bekommen, z. B. im heutigen Ungarn und in Siebenbürgen unter den Osmanen sowie in Polen-Litauen unter den Jagellonen. So korrespondierte Luther mit Stadtpfarrer Ramser in Herrmannstadt über eine lutherisch geprägte Kirchenordnung, die Johann Honterus für Kronstadt herausgegeben hatte [3]. Die bei Luther selbst und in den Schmalkaldischen Artikeln zu lesende These, der Papst sei schlimmer als die »Türken«, verdankt sich dieser Erfahrung einer relativen Tolerierung des Protestantismus durch die Osmanen bei gleichzeitiger Unterdrückung des Protestantismus durch den Papst [4].

Über alle anderen Vorstufen der Toleranz im 16. Jahrhundert hinaus ging Polen-Litauen, das als erstes Territorium bzw. Königreich Ansätze einer echten Religionstoleranz zeigte, indem der polnische Adel mit der Konföderation von Warschau (1573) [5] nicht nur Katholiken und Orthodoxen, sondern auch Lutheranern, Juden und Muslimen das Recht auf ihren eigenen Kultus gewährte. Ein Teil der Tataren im heutigen Litauen waren Muslime. Das Christentum kam erst nach dem Islam ins Land [6].

In den Ländern, in denen sich die Reformation durchsetzte, wurde Toleranz gegenüber Andersgläubigen dagegen lange Zeit verweigert. Nur langfristig kann die Toleranz als Folge der Reformation bezeichnet werden und das aufgrund eines Prozesses, der eher Resultat politischer als religiöser Entwicklungen war [7].

In der Gegenwart stellt sich die Situation in Deutschland anders dar. Die Religionsfreiheit ist im Grundgesetz festgeschrieben und Menschen vieler Glaubensrichtungen und Bekenntnisse leben in der Gesellschaft zusammen. Zuwanderung und Globalisierung haben Vielfalt und Toleranz in vielen Bereichen gefördert, zum Teil aber auch Spannungsfelder zum Vorschein gebracht. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind die großen christlichen Kirchen in Deutschland dazu übergegangen, ihr Verhältnis zu den anderen Religionen, allen voran dem Judentum, auf eine neue Basis zu stellen. Katholischerseits ist hier an die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils »Nostra Aetate« von 1965 zu denken, aufseiten des Ökumenischen Rates der Kirchen etwa an die »Leitlinien zum Dialog mit Menschen verschiedener Religionen und Ideologien« von 1977.

Die Erfahrungen des Holocaust haben in der Evangelischen Kirche in Deutschland im Hinblick auf das Judentum zu einem Umdenken und zu einer auch theologischen Neuorientierung und -bewertung geführt. Die EKD hat dazu drei Studien vorgelegt, die in den Jahren 1975 bis 2000 veröffentlicht wurden. Im Zuge dieses Prozesses konnte auch das problematische Verhältnis Luthers zu den Juden nicht unbeachtet bleiben. Luthers Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« (1543) wird darin als »erschreckendes Zeugnis tief verwurzelter Judenfeindschaft« [8] bezeichnet.

Die Bestimmung des Verhältnisses zum Islam gestaltet sich aus verschiedenen Gründen anders. Zuwanderung sowie soziale und weltweite Konfliktkonstellationen überlagern dabei theologische und religiöse Fragen. Vorbehalte und Ängste beeinflussen sachliche Klärungen. Die EKD hat im Jahr 2000 bekundet, dass sie »sich distanziert von Entgleisungen und Anfeindungen in der Vergangenheit und gelegentlich auch in der Gegenwart« [9]. Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Luthers Äußerungen und denen anderer Reformatoren zum Islam sowie deren Niederschlag in den Bekenntnisschriften hat dagegen gerade erst begonnen. Im Grundlagentext zu »500 Jahre Reformation« heißt es dazu: »Auch die frühneuzeitlichen Äußerungen über den Islam, der vor allem im Zusammenhang der ‚Türkengefahr‘ an den Reichsgrenzen aus Angst um den Bestand der abendländischen Christenheit thematisiert wurde, müssen kritisch betrachtet werden, ohne dass das besondere Verhältnis zwischen Judentum und Christentum dadurch tangiert wird.« [10]

Im Folgenden werden einige Texte der Reformatoren zusammengestellt und zitiert. Die Zitation im damaligen Deutsch verdeutlicht dabei den historischen Abstand und die notwendige Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Erbe der Reformation im Blick auf deren Verhältnis zum Islam. Das Ja zur Religionsfreiheit und zur respektvollen Toleranz gegenüber Musliminnen und Muslimen in Deutschland ist heute unaufgebbar.

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