Unser tägliches Brot gib uns heute
Neue Weichenstellung für Agrarentwicklung und Welternährung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. Mai 2015
3.4 Schutz der Gemeingüter
Die schrankenlose Anwendung des Eigentumsbegriffs auf Nahrungsmittel und die mit der Erzeugung und Vermarktung von Nahrungsmitteln verbundenen Rechtsgarantien kollidieren immer deutlicher mit den Ansprüchen derjenigen, deren Recht auf Nahrung nicht eingelöst ist. Dies schließt auch die Ansprüche zukünftiger Generationen darauf ein, kultivierbares Land, sauberes Trinkwasser, reine Luft und ein die Wachstumszyklen förderndes Klima vorzufinden. Mit der Globalisierung geht aber ein Wettlauf der Aneignung von produktiven Böden oder lebenswichtigen Wasserressourcen einher. Der Handel mit Nahrungsmitteln ist denselben Marktgesetzen wie jede andere Handelstätigkeit unterworfen, und Spekulationen auf Nahrungsmittelproduktion und Preisentwicklungen nehmen zu. Ziel mancher Nahrungsmittelproduzenten ist es, Märkte für ihre Produkte zu öffnen, Gewinnmöglichkeiten über Patente zu maximieren und Produktionsketten zu monopolisieren [83].
Aus christlicher Perspektive ist dies insofern ethisch fragwürdig, als Nahrung nicht vorrangig als Eigentumsangelegenheit definiert werden kann. Nahrung und benötigte Produktionsmittel sind auch Kulturgut, Gemeinschaftsangelegenheit, Ressource der Zukunft, Besitz kommender Generationen.
Biblisch wird das deutlich in der Geschichte von Nabot: Dieser hat einen Weinberg in Erbbesitz, der ihm sein Auskommen sichert. Der König von Samaria jedoch, Ahab, hat ein Auge auf den Weinberg geworfen und würde ihn Nabot abkaufen. Für diesen aber ist Land unveräußerlich, keine Ware, sondern der Ort, den Generationen vor ihm gepflegt haben und den Generationen nach ihm erhalten werden. Durch einen Justizmord lässt der samaritanische König Nabot steinigen und bemächtigt sich seines sehr verlockend neben dem Palast gelegenen Landbesitzes (1 Kön 21,1-29). Die skrupellose Gewalttätigkeit des Königs ist die eine Sache, seine Missachtung des Generationenvertrags, an den sich Nabot gebunden fühlt, eine andere. Wir können annehmen, dass Nabot seinen Weinberg mit besonderer Sorgfalt pflegt und seinen Ehrgeiz darin setzen möchte, seinen Erben ein produktives Stück Land weiterzugeben. Die Urenkel des Nabot aber finden sich im berühmten Weinberggleichnis Jesu als Tagelöhner wieder: Der Besitzer hat einen Pächter eingesetzt, und der dingt die Tagelöhner nach seinem Gutdünken (Mt 20,1-16). Im Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Lk 20,9-19) lebt der Besitzer schon im Ausland, er zieht nur noch die Erträge ein und muss erleben, wie seine Pächter die Abgaben verweigern und schließlich gewalttätig werden.
Deutlich ist, dass Ausgrenzung und Marginalisierung drohen und Willkür und Gewalt die Folge sein können, wenn Gewinninteressen Vorrang vor dem Zugang zu Land, Wasser und anderen Ressourcen gewinnen. Dies sind keine Geschichten aus einer archaischen Vergangenheit. Sie finden heute statt - im brasilianischen Amazonas, wo indigene Waldbewohner der Willkür von Plantagenbesitzern schutzlos gegenüberstehen, auf den Weltmeeren, wo verdrängte Fischer - z. B. vor den Küsten Ostafrikas - zu Piraten werden oder in der Sahelzone Afrikas, wo sich zwischen Ackerbauern und Viehhirten verbissene Kämpfe um die wertvollen Land- und Weiderechte abspielen.
Der Mangel an gesellschaftlichen Mechanismen, die die Nutzwerte von Landbesitz, Wasseraneignung und Nahrungsmittelproduktion ins Verhältnis zum Interesse aller Beteiligten und Betroffenen einschließlich der zukünftigen Generation setzen, ist offensichtlich. Ein weiterer Konzentrationsprozess bei den Verfügungsrechten über Land, Wasser und Fischereien wird dem Gemeinwohl nicht dienen.
Europa externalisiert seine Konflikte: Der europäische Kontinent könnte seine Bevölkerung nicht in der Weise ernähren, wie wir es mittlerweile gewohnt sind. Vor allem der enorm gewachsene Fleischkonsum erfordert riesige Flächen zum Anbau von Futtermitteln, für die in Argentinien oder Brasilien Hunderttausenden von Kleinbauern und -bäuerinnen das Land entwendet worden ist.
Nach biblischem Verständnis ist die Verfügung über die Ressourcen immer vorübergehend. Die Güter, die notwendig sind, um zu produzieren, sind geliehen. »Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist« (Ps 24,1), und so wiederholt es Paulus im 1. Schreiben an die Korinther (1 Kor 10,26), und zwar bemerkenswerter Weise im Zusammenhang mit den Speisegeboten - es kann alles, was die Natur hervorbringt, genossen werden, aber »nicht alles dient zum Guten« (1 Kor 10,23). Alles, was der Mensch dem Garten entnimmt, um ihn zu bebauen, muss auch dessen Bewahrung dienen (Gen 2,15). Nur in verantwortlicher Weise darf der Mensch die natürlichen Güter in Besitz nehmen und bewirtschaften - er ist vor Gott verantwortlich dafür, dass die anderen Bewohner des Gartens - Menschen, Tiere und Pflanzen - und die kommenden Generationen ihr Auskommen haben.
Der Gedanke der Verantwortlichkeit, des sorgsamen Umgangs und der Bewahrung des Bestehenden spiegelt sich in den derzeitigen Systemen, die den Umgang mit Land und die Produktion von und den Handel mit Nahrungsmitteln regeln, nur unzulänglich wider. Diese Systeme befördern vielmehr die Einhegung von Ressourcen durch Enteignung, Privatisierung, Kommodifizierung und Dekontextualisierung. Sie sind nicht in der Lage, ein ganzheitliches Bild der komplexen sozialen Beziehungen der Menschen untereinander und mit der Natur zu zeichnen. Hilfreich kann die neue alte Idee der Gemeingüter oder »Commons« sein, um der grenzenlosen Privatisierung etwas entgegenzusetzen.
Was eine Gesellschaft als Gemeingüter oder als »Commons« betrachtet, ergibt sich nicht zwangsläufig aus den Charakteristika einer Ressource. Dabei mag es durchaus eine Vielzahl von »Gütern« geben, von deren Nutzung kein Mensch ausgeschlossen werden kann und bei deren Konsum keine Rivalität entsteht, angefangen von den natürlichen Lebensgrundlagen wie der Atmosphäre bis zu sozialen Gütern wie Frieden oder der Schutzfunktion von Deichen. Dergleichen Güter werden in der Ökonomie als »öffentliche Güter« kategorisiert: Diese sind durch Nicht-Rivalität im Konsum und Nicht-Exklusivität in der Nutzung gekennzeichnet. Für bestimmte Gemeingüter hingegen können durchaus auch Nutzungsbeschränkungen gelten - und müssen es sogar, sollen sie nicht dem Substanzverlust preisgegeben werden. Gemeingüter ergeben sich letztlich durch die soziale Übereinkunft, was als Gemeingut behandelt werden soll und wer, wann und wie welches Gut nutzen kann. Gemeingüter entstehen daraus, dass Nutzer- und Nutzerinnen-Gemeinschaften Zugangs- und Nutzungsregeln festlegen, die allen dienen.
Die Nachhaltigkeit einer Wirtschaftsweise hängt entscheidend davon ab, inwieweit die Erhaltung und Rückgewinnung der Gemeingüter gelingt, die unsere Lebens- und Produktionsgrundlage bilden. Die natürlichen Gemeingüter werden derzeit in hohem Maße übernutzt, insofern die ökologischen Kosten der Nutzung von privaten Konsum- und Produktionsgütern häufig auf die Gemeingüter abgewälzt werden (Externalisierung). Die Einschränkung der Nutzungsrechte ist im Interesse der Regeneration der Gemeingüter zum Schutz vor Übernutzung ebenso geboten wie die Gewährleistung eines fairen Zugangs durch den Schutz vor Monopolisierung. Die Übernutzung von Gemeingütern wie der Atmosphäre, der Bodenfruchtbarkeit, der biologischen Vielfalt oder der Meere schreitet ebenso dramatisch voran wie die Kommerzialisierung, die den Zugang zu Wasser, zu Land oder zur Gesundheitsversorgung von den Einkommensverhältnissen der Bedürftigen abhängig macht.
Gerechtigkeit im Blick auf Gemeingüter besteht darin, dass geteilt wird, was nur begrenzt zur Verfügung steht und dass alle Zugang zu den Dingen haben, die absehbar unerschöpflich sind und durch Nutzung sogar vermehrt werden (z. B. Wissen, auch im Kontext von Ernährungssicherung). Zu den zentralen Prinzipien für ein gelingendes Gemeingutmanagement zählt die Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom u. a. die Teilhabe aller von einem Ressourcensystem Betroffenen an den Entscheidungen über dessen Nutzung, Erhalt und Pflege [84]. Die Landwirtschaft produziert oder reproduziert öffentliche Güter und Gemeingüter (wie Kulturlandschaft), fußt dabei aber auch in hohem Maße auf der Nutzung von Gemeingütern (wie der biologischen Vielfalt, des Wassers oder der Atmosphäre). Der Markt allein kann weder hinreichend regeln, dass die landwirtschaftlichen Produzenten für ihren Beitrag zur Reproduktion der Gemeingüter angemessen honoriert werden, noch dass die Übernutzung von Gemeingütern (z. B. durch Treibhausgasemissionen oder die vielfältigen Externalisierungen der Folgekosten der Veredelungsproduktion) sanktioniert wird oder sich in den Preisen landwirtschaftlicher Erzeugnisse widerspiegelt. Im Interesse der Ernährungssicherung zum einen und des Schutzes der Gemeingüter zum anderen sind daher angemessene agrarpolitische Regulationsinstrumente unumgänglich.
Von dem weltweit dramatisch zunehmenden Interesse internationaler Finanzinvestoren an Investitionen in Land sind häufig traditionelle gemeinschaftliche Nutzungsformen von Land in besonderer Weise betroffen. Das »Landgrabbing«, worunter großflächige Agrarinvestitionen durch ausländische Unternehmen oder Staaten als auch durch einheimische Eliten gefasst werden, die negative Folgen für die Ernährungssicherung und den Zugang zu Land für die lokale Bevölkerung implizieren, geht oftmals mit der Privatisierung von Gemeingütern einher. Bei vielen der derzeit zu beobachtenden großflächigen Landkäufe werden die Rechte der bisherigen Nutzerinnen und Nutzer des Landes übergangen. Ein großer Teil der Gebiete, die von ausländischen Investoren aufgekauft oder gepachtet werden, befindet sich in Gemeinbesitz. Doch die Eigentumsverhältnisse lokaler Gemeinschaften sind vielfach nicht hinreichend verbrieft. Zahllose ländliche Gemeinschaften vor allem in Afrika sind von der Vertreibung von ihrem Land und ihren Lebensressourcen betroffen, über die sie traditionell verfügt haben.
Landrechte sind vor allem deshalb umstritten, weil in vielen Ländern - gerade in Afrika - die vielfältigen Formen von Besitz- und Nutzungsrechten an Land nicht schriftlich fixiert sind. Das trifft insbesondere auf die traditionellen Nutzungsrechte der indigenen Bevölkerung zu. Auch konnten viele arme Familien, die über keinen individuellen Landbesitz verfügen, bislang Weiden, Wälder oder Felder nutzen, die sich in Gemeinbesitz (Allmende) befinden und die durch den Verkauf an Agrarinvestoren für sie nicht mehr zugänglich sind.
Die 2012 von der FAO verabschiedeten »Freiwilligen Leitlinien zur verantwortungsvollen Verwaltung von Boden- und Landnutzungsrechten, Fischgründen und Wäldern« formulieren Mindeststandards für Investitionen in Land-, Wald- und Fischereiressourcen, für Enteignungen oder für Entschädigungsprozesse (vgl. Kap. 5.1.2). Sie beschreiben, wie die Mitwirkung der Betroffenen sichergestellt werden und Beschränkungen im Landzugang und bei der Verwaltung von Land vermieden werden können, wie traditionelle und informelle Nutzungsrechte zu beachten und wie die Rechte indigener Völker zu berücksichtigen sind. Damit stellen diese »Freiwilligen Leitlinien« zukünftig den zentralen Referenzrahmen für die Regulierung von Agrarinvestitionen dar, der dabei auch den Umgang mit traditionellen Nutzungsrechten regelt. Diese Nutzungsrechte und die zugehörigen Ressourcen bezeichnet die FAO als »Commons«. Für die Umsetzung der Leitlinien hat sie die Erarbeitung eines »Technical Guide on tenure rights related to commons« in Auftrag gegeben.