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Neue Weichenstellung für Agrarentwicklung und Welternährung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. Mai 2015
5.3 Die deutsche Bundesregierung
5.3.1 Politikkohärenz für Entwicklung
Nicht nur die EU, auch die Bundesrepublik Deutschland ist in der Pflicht, mehr Verantwortung für weltweite Ernährungssicherung zu übernehmen. Im Jahr 2000 hat sich Deutschland, wie alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, mit der Millenniums-Erklärung zur Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele und damit zur Reduzierung der extremen Armut und des Hungers bis zum Jahr 2015 verpflichtet. Die Bekämpfung des Hungers in der Welt ist in besonderer Weise von Inkohärenzen betroffen. So ist die Zahl der Ressorts, deren Handeln sich auf dieses Arbeitsfeld auswirken, sehr groß.
Trotz des Ressortprinzips im Regierungshandeln sollten Armutsbekämpfung, Ernährungssicherung und Agrarentwicklung als übergeordnete Ziele benannt werden. Die globalen Herausforderungen wie die Bekämpfung des Hungers lassen sich heute nicht mehr in voneinander getrennten Politikfeldern bearbeiten. Die vorhandenen Ressortstrukturen stehen dem entgegen - von der jeweiligen Verwaltungsmentalität über unterschiedliche Machtinteressen bis hin zur Segmentierung des Bundeshaushalts in zahlreiche Einzelpläne. Daher gilt es kurzfristig, im Rahmen der vorhandenen Strukturen durch entsprechende Mechanismen die Kohärenz im Interesse der Entwicklung zu verbessern. Regierungsweite Zielvereinbarungen können getroffen werden. Mit möglichen Zielkonflikten kann pro-aktiv umgegangen werden, Zielhierarchien können festgelegt werden. Der 2001 eingesetzte AK Welternährung, der die Kohärenz zwischen dem BMZ und dem BMEL unter Beteiligung von Vertretern der Zivilgesellschaft erhöhen soll, ist ein entsprechender Versuch. Der AK beteiligt aber weder weitere betroffene Ressorts, noch ist er mit Kompetenzen ausgestattet oder kann Zielkonflikte adressieren.
Das BMZ sollte Armutsbekämpfung, Ernährungssicherung und Agrarentwicklung für den eigenen Geschäftsbereich als Querschnittsaufgabe definieren. Ein entsprechendes Konzept und ein Plan zur Operationalisierung sollten erarbeitet werden. Dabei ist es nicht ausreichend, ein solches Konzept sektorübergreifend aufzusetzen. Eine weitreichende Kohärenz mit möglichst allen Arbeitsbereichen des Ressorts ist anzustreben, dafür erforderliche Mechanismen sind herzustellen.
Ein weiterer wichtiger Schritt wäre, wenn das BMEL die internationale Verantwortung der deutschen und der europäischen Agrarpolitik anerkennt und dem in der eigenen Prioritätensetzung Rechnung trägt. Dabei sollten die Arbeitsbereiche Welternährung/ FAO, Agrarforschung und Wissenstransfer hinsichtlich der Agrarentwicklung im globalen Süden intensiviert werden. Das Bundeslandwirtschaftsministerium führte 2011/12 einen breiten gesellschaftlichen Dialog, aus dem die »Charta für Landwirtschaft und Verbraucher« hervorging. Eines der Handlungsfelder war auf die Frage der Sicherung der Welternährung ausgerichtet und sollte wieder stärker in den Blick genommen und weiterentwickelt werden.
Der Nexus von Energie-Wasser-Ernährung macht deutlich, dass die Förderung von Biomasse für die stoffliche und energetische Nutzung und deren Import kohärent mit der Entwicklungspolitik gestaltet werden muss, damit die Ressourcen Wasser und Land denjenigen, die sie bisher nutzen, nicht entzogen werden.
Die nationale Agrarpolitik, insbesondere der Export von Fleisch und verarbeiteten Lebensmitteln sowie die Nutzung von Industriepflanzen, ist in ihren Auswirkungen auf die Welternährung einer regelmäßigen Prüfung in Abstimmung mit dem BMZ zu unterziehen. In diesem Bereich ergeben sich gerade durch die vom BMZ eingegangenen Verpflichtungen im Bereich der G8 New Alliance for Food Security and Nutrition große Inkohärenzen (siehe Kasten 12).
Politikkohärenz für Entwicklung ist also dringend und unabhängig von der weiteren Bewertung der G8 New Alliance for Food Security and Nutrition von der Bundesregierung herzustellen. Ebenso sind die Parameter der Nahrungsmittelpolitik, vom Verbraucherschutz über den nationalen Konsum bis hin zur Eindämmung von Nahrungsmittelverschwendung, entsprechend anzupassen.
5.3.2 Empfehlungen an die Bundesregierung
Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung plädiert dafür, dass die Bundesregierung Armutsbekämpfung, Ernährungssicherung und Agrarentwicklung als ein überwölbendes und prioritäres Ziel benennt. Durch die Definition von Zielhierarchien und von Abstimmungsmechanismen mit allen beteiligten Ressorts können in der Folge auftretende Zielkonflikte ausgetragen und Inkohärenzen überwunden werden. Ein konsequenter »whole of government approach« ermöglicht ein kohärentes und ressortübergreifendes Vorgehen. Zusätzlich werden innerhalb der Entwicklungspolitik Ernährungssicherung und Agrarentwicklung als zentraler Fokus festgeschrieben und kohärent und gemeinsam mit dem Landwirtschaftsressort vorangetrieben.
Angesichts der Problemlage ist die wachsende Aufmerksamkeit für die Themen Ernährungssicherheit und ländliche Entwicklung erfreulich und überfällig. Die Kammer begrüßt daher, dass die Bundesregierung in den letzten zehn Jahren zur Unterstützung der Anerkennung und Verankerung des Rechts auf angemessene Nahrung sowohl im Kontext der Welternährungsorganisation als auch im Menschenrechtsrat eine konstruktive Rolle gespielt hat. Deutschland hat sich intensiv für die Erarbeitung und Verabschiedung der »Freiwilligen Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung« und für die Erarbeitung der »Freiwilligen Leitlinien für die verantwortungsvolle Verwaltung von Boden- und Landnutzungsrechten, Fischgründen und Wäldern« eingesetzt. Nun ist eine konsequente Umsetzungspolitik, koordiniert zwischen den Ressorts und den Durchführungsorganisationen, erforderlich. Die menschenrechtsbasierte Politik für den Ernährungs- und Agrarbereich muss konsequent in den Post-2015-Prozess der Formulierung neuer Entwicklungsziele auf Ebene der Vereinten Nationen eingebracht werden. Menschenrechte betonen die Verantwortlichkeiten der verschiedenen Akteure. Diese »Accountability«-Perspektive sollte die Neuformulierung der Entwicklungsziele nach 2015 prägen.
Wünschenswert wäre es zudem, gemeinsame Antworten auf die im Kapitel 2.6.2 benannten Konfliktlinien zu finden. Bislang ist international ein Konsens entstanden, dass ländliche Entwicklung wieder stärker ins Zentrum der internationalen Politik rücken muss. Es scheint auch einen zunehmenden Konsens dafür zu geben, dass neue und dringend benötigte Investitionen in ländlichen Regionen die dort lebenden Menschen und Kleinbauernfamilien einbeziehen sollten, damit sie dazu beitragen, Hunger und Unterernährung zu reduzieren. Offen sind dabei Fragen, wie dies vorangetrieben werden soll. Das Thema der verantwortlichen Agrarinvestitionen wird den CFS in den kommenden Jahren intensiv beschäftigen.
Das Recht auf Nahrung hat das Potenzial, die menschenrechtlichen Verantwortlichkeiten der verschiedenen Akteure ins Zentrum der Debatte zu stellen. Der wiederbelebte Ausschuss für Welternährungssicherheit sollte auch langfristig eine tatsächliche Koordinierungsrolle bekommen. Mit dem Recht auf Nahrung sollte ein Referenzstandard angewandt werden, der verschiedenen Akteuren Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten abverlangt.
Wir empfehlen vor diesem Hintergrund:
- Deutschland sollte seine Vorreiterrolle bei der Förderung des Rechts auf Nahrung im internationalen Kontext beibehalten und dies eng abstimmen mit den Aktivitäten zur Förderung des Rechts auf Wasser. Ein rechtebasierter Ansatz sollte vor allem in den neuen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDGs, Post-2015-Prozess) verankert werden. Hier besteht eine besondere Möglichkeit zur Schaffung von Kohärenz zwischen verschiedenen Politikfeldern, die alle Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit haben.
- Deutsche Akteure sollten sich für einen starken und relevanten Ausschuss für Welternährungsfragen einsetzen. Die beteiligten Ministerien (BMEL, BMZ, AA) sollten sich gemeinsam für eine Stärkung und entsprechende Nutzung des CFS einsetzen. Deutsche Initiativen im Bereich der G8/G20 oder in der Weltbank sollten dieser Empfehlung stets Rechnung tragen. Die deutsche Politik in Welternährungsfragen sollte dabei grundsätzlich zwischen den beteiligten Ressorts und Durchführungsorganisationen abgestimmt sein.
- Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sollte einen Schwerpunkt auf das Thema Ernährungssicherheit und die Stärkung der Governance in diesem Bereich legen. Die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit könnte dabei besonders eine menschenrechtsbasierte nationale Governance einsetzen. Die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit sollte abgestimmt und darauf ausgerichtet sein, Koordinierung und Absprachen zwischen den verschiedenen multilateralen Gebern zu erreichen.
- Deutschland sollte die Auswirkungen eigener Aktivitäten im In- und Ausland so ausgestalten, dass es zu möglichst wenigen Kohärenzproblemen zwischen der Entwicklungszusammenarbeit und anderen Politikbereichen kommt. Deutschland sollte dabei anerkennen, dass es auch eine extraterritoriale Menschenrechtsverantwortung hat.
- In diesem Kontext sollte es zu seinen Verpflichtungen zur Nothilfe stehen und die neue Food Assistance Convention ratifizieren und den Bereich der internationalen Nothilfe im Ernährungsbereich in die allgemeine Koordinierung beim CFS integrieren helfen.
- Bei der Aushandlung von europäischen und internationalen Handels- und Investitionsschutzabkommen und anderer Verträge und Abkommen in Bereichen, die für Ernährungssicherheit von Bedeutung sind, sollte Deutschland seine menschenrechtlichen Verpflichtungen immer im Blick haben und im Vorfeld menschenrechtliche Risikoanalysen oder menschenrechtliche Folgeabschätzungen durchführen.
- Deutschland sollte sich für eine aktive Umsetzung der VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte engagieren und diese zur Orientierung für Unternehmen, die im Agrar- und Landwirtschaftssektor tätig sind, entsprechend einsetzen.
Die Bundesregierung kann wichtige Beiträge zur Verbesserung der weltweiten Ernährungssicherheit leisten. An dieser Stelle sollen dazu genannt werden:
- Die Bundesregierung sollte sich für die Eindämmung der Spekulation mit Nahrungsmitteln einsetzen. Rohstoffindexdepots sollten keine Nahrungsmittel in ihr Portfolio aufnehmen dürfen: Auf den Warenterminmärkten sollten nur Händlerinnen und Händler zugelassen werden, die im realen Agrarhandel tätig sind.
- Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass die im Rahmen der FAO erarbeiteten »Freiwilligen Leitlinien für verantwortliche Regierungsführung im Bereich von Landnutzungsrechten« zum verbindlichen Standard in der deutschen Außenwirtschaftsförderung und in den internationalen Finanzinstitutionen werden.
- Die Bundesregierung sollte darauf hinwirken, im Rahmen der Gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik der EU (GAP und GFP) alle noch bestehenden handelsverzerrenden Agrarsubventionen abzuschaffen.
- Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass den Entwicklungsländern ein Beschwerdemechanismus eingerichtet wird, um entwicklungsfeindliche Handelspraktiken auch jenseits der WTO-Regeln zur Verhandlung zu bringen.