Gelobtes Land?
Land und Staat Israel in der Diskussion. Eine Orientierungshilfe. Herausgegeben im Auftrag der EKD, der UEK und der VELKD, Gütersloh 2012, ISBN 978-3-579-05966-2, Preis 6,99 Euro. Bestellungen nur über den Buchhandel oder den Verlag.
3. Land Israel im nachbiblischen Judentum
Während die ersten Christen nicht an der Thematik des „Landes Israel“ interessiert waren, spielt dieses in den jüdischen Vorstellungen durch die Zeiten hindurch eine gewichtige Rolle. Weil die entsprechenden Informationen auf Deutsch schwer zugänglich, aber gleichwohl zum Verständnis gegenwärtiger Positionen wichtig sind, geben wir hier bewusst einen ausführlicheren Überblick. Dieser wird zeigen, dass ganz unterschiedliche Positionen unvermittelt nebeneinander stehen.
3.1 Hellenistisch-römische Zeit
Das Buch Weisheit Salomos, entstanden in der Zeit des syrischen Herrschers Antiochus IV. (175-164 v. Chr.), erwähnt die früheren Bewohner des „heiligen Landes“, die abscheuliche Taten begangen hätten; doch dann sei das für Gott „wertvollste Land“ vom Volk Israel besiedelt worden (Weish 12,3-7). In einem der im 1. Jahrhundert v. Chr. entstandenen vermutlich pharisäischen Psalmen Salomos findet sich eine endzeitliche Erwartung, die sich auf das „Land“ und insbesondere auf Jerusalem bezieht: Die „Botschaft des Freudenboten“ (vgl. Jes 52,7) verheißt die Rückkehr der Diaspora-Juden ins Land; und damit verbindet sich der Gedanke der Wiederherstellung der Reinheit des Landes (PsSal 11,2f.7).
In den bei Qumran am Toten Meer gefundenen Schriften aus der Zeit vor 66 n. Chr. (1. jüdischer Aufstand gegen Rom) ist mehrfach vom „Land“ (erez) die Rede; diese Aussagen müssen sich aber nicht auf „das Land Israel“ beziehen, es kann auch „die Erde“ bzw. „der Boden“ gemeint sein. Eine Ausnahme bildet möglicherweise das Fragment 4Q171, in dem Ps 37,11 zitiert und gedeutet wird: „Aber Demütige werden Land in Besitz nehmen und sich ergötzen an Friedensfülle.“ Hier besteht eine deutliche Nähe zu Mt 5,5 (s.o.).
Der in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung in Alexandria wirkende Religionsphilosoph Philo gibt in seinen Lehr vorträgen allegorische Auslegungen von Texten der fünf Mosebücher (Pentateuch); sie bieten auch philosophische Deutungen dessen, was unter „Land“ zu verstehen sei:
Wenn in 1. Mose 12 von der Auswanderung Abrahams aus dem chaldäischen Lande und von Abrahams Glauben gesprochen werde, so seien damit „Seelenruhe und Festigkeit“ gemeint. Die Aussage in 1. Mose 15,16 („Sie aber sollen erst nach vier Menschenaltern wieder hierher kommen; denn die Missetat der Amoriter ist noch nicht voll.“ ) diene nicht nur dazu, „die Zeit anzugeben, wo sie das Heilige Land besiedeln würden“, hier werde vielmehr „auch auf die vollständige Wiederherstellung der Seele“ hingewiesen (Philo, Über die Frage: Wer ist der Erbe der göttlichen Dinge? 293 ... 298). Den Begriff „heiliges Land“ verwendet Philo in seiner Schrift „Gesandtschaft an Caligula“, in der er von seinen Bemühungen um eine Sicherung des jüdischen Lebens in Alexandria berichtet. Der in Judäa und Galiläa regierende König Herodes Agrippa (vgl. Apg 12) habe sich in einem Brief an Kaiser Caligula für die Rechte der Juden eingesetzt, denn es drohte höchste Gefahr „nicht allein für die Bewohner des Heiligen Landes, sondern überall in der Welt“ (Gesandtschaft 330).
Auch in einer gegen den römischen Statthalter Flaccus gerichteten Schrift argumentiert Philo zugunsten der bürgerlichen Rechte der Juden in Alexandria (Gegen Flaccus 46): „Da es so viele Juden gibt, reicht ein einziges Land für sie nicht aus. Deswegen wohnen sie in den meisten und reichsten Ländern Europas und Asiens, auf Inseln und dem Festland.“ Und weiter: „Als Mittelpunkt betrachten sie die heilige Stadt, wo der heilige Tempel des höchsten Gottes steht.“ Schließlich stellt er fest: „Was sie aber von ihren Vätern, Groß- und Urgroßvätern und den Voreltern noch weiter hinauf als Wohnsitz übernommen haben, das halten die einzelnen für ihr Vaterland, wenn sie dort geboren und aufgewachsen sind; in einige Gebiete kamen sie auch als Kolonisten gleich bei deren Besiedlung, den Gründern zu Gefallen.“
In apokalyptischen jüdischen Texten, die vor allem in der Zeit nach der Zerstörung des Tempels (Abb. 4) 70 n. Chr. entstanden, wird dem Land häufig eine besondere Rolle zugeschrieben. So heißt es in der in syrischer Sprache überlieferten Baruch-Apokalypse in einer Rede Baruchs zum versammelten Volk:
„Vergesst nicht Zion, gedenkt vielmehr der Trübsale Jerusalems. Denn siehe, die Tage werden kommen, dass alles, was gewesen ist, zur Nichtigkeit dahingerafft (soll) werden. Dann wird es sein, als ob es nie gewesen wäre. Bereitet ihr indessen eure Herzen vor, dann wird er euch in jener Zeit bewahren, in der der Mächtige die ganze Schöpfung erschüttern wird. Denn Zions Bau wird kurze Zeit danach bewegt, um wiederaufgebaut zu werden. Doch dies Gebäude wird nicht bleiben ...“ (vgl. syrischer Bar 31,4-32,3). Und gegen Ende dieser Schrift heißt es (73,1): Am Ende der Zeit wird es geschehen, wenn der Gesalbte „alles erniedrigt hat, was in der Welt besteht, und sich gesetzt auf seiner Königsherrschaft Thron in ewigem Frieden, dass Freude dann geoffenbart und Ruhe erscheinen wird“.
3.2 Rabbinisches Judentum
Die Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. bedeutete nicht das Ende der politisch-messianischen Erwartungen. Erst der gescheiterte Bar-Kochba-Aufstand zerschlug die Hoffnung auf politische Unabhängigkeit. Die jüdischen Gelehrten hielten sich an diejenige Instanz, die Halt zu geben versprach: die Tora. Sie wandten sich dem konkreten jüdischen Leben zu. Die Mischna enthält ausführliche auf das Land und seine Bewirtschaftung bezogene Vorschriften, zeigt jedoch kein Interesse am Thema „Land“ in seinen politischen Dimensionen und an endzeitlichen Spekulationen. In einigen Texten scheinen religiöse Vorschriften über die Bewirtschaftung des Landes und den Umgang mit ihm geradezu an die Stelle des Strebens nach der im Krieg verlorenen politischen Souveränität zu treten. Dabei tradieren auch jene, die außerhalb des Landes Israel wohnen, über das Tora-Studium die auf das Land Israel bezogenen Bestimmungen mit.
Der Mischnatraktat Kelim (mKel 1,6-9) beschreibt die „Heiligkeit“ in abgestufter Form:
„Zehn Heiligkeitsgrade gibt es: Das Land Israel ist heilig vor allen andern Ländern. Mit Mauern umgebene Städte (im Land Israel) sind heiliger. Innerhalb der Mauern (Jerusalems) ist der Raum noch heiliger. Der Zwinger ist noch heiliger. Der Frauen-Vorhof ist noch heiliger. Der Israeliten-Vorhof ist noch heiliger. Der Raum zwischen Vorhalle und dem Altar ist noch heiliger. Der Tempel ist noch heiliger. Das Allerheiligste ist heiliger als jene (genannten) Räume, denn dies darf bloß der Hohepriester am Versöhnungstage zur Zeit des Dienstes betreten.“
Die Bevorzugung des „Landes“ erscheint hier eigentümlich schematisch und in einer zugleich kultischen wie etwas entrückten Perspektive, als sei dieser Text dazu bestimmt, die Geographie des Landes aus einer gewissen Entfernung nach der Kategorie der Heiligkeit zu ordnen.
Land-Israel-Bestimmungen finden sich beispielsweise auch in dem Mischnatraktat über die Eheverträge (Ketubbot):
„(Es gibt) drei Distrikte hinsichtlich (des Rechts) für die Ehe (im Land Israel): Judäa, (das Gebiet) jenseits des Jordans und Galiläa ... Alle (Familienmitglieder kann) man (zwingen, mit) in das Land Israel hinaufzuziehen, man (kann) aber nicht alle (zwingen, von dort) wegzuziehen. Alle (Familienmitglieder kann) man (zwingen, mit) nach Jerusalem hinaufzuziehen, man (kann) aber nicht alle (zwingen, von dort) wegzuziehen“ (mKet 13,10-11).
Diese Bestimmungen hatten interessante Folgen etwa für sonst rechtlich Benachteiligte wie Jüdinnen oder auch für jüdische Sklaven: Demnach durfte ein jüdischer Sklave zwar gezwungen werden, in das Land Israel einzuwandern, aber nicht gegen seinen Willen dazu bewegt werden, das Land Israel zu verlassen. Entsprechend konnten Frauen ihre Männer zwingen, nach Jerusalem oder in das Land Israel zu ziehen; wenn eine Frau sich weigerte, einen entsprechenden Umzug zu vollziehen, verlor sie die Ansprüche aus ihrem Ehevertrag.
Die Bestimmungen der Mischna zeigen das Interesse, Juden für den Verbleib im Land Israel zu gewinnen, indem sie die Vorzugsstellung des „gelobten Landes“ durch finanzielle Anreize untermauern. Im zitierten Text (mKet 13,11) heißt es weiter:
„Wie (ist der Anspruch aus dem Ehevertrag zu bezahlen)? (Wenn der Ehemann seine) Frau im Land Israel geheiratet und im Land Israel geschieden hat, (muss er) ihr (die Ansprüche aus ihrem Ehevertrag) in der Währung des Landes Israel geben. (Wenn der Ehemann seine) Frau im Land Israel geheiratet und in Kappadozien geschieden hat, (muss er) ihr (die Ansprüche aus ihrem Ehevertrag) in der Währung des Landes Israel geben. (Wenn der Ehemann seine) Frau in Kappadozien geheiratet und im Land Israel geschieden hat, (muss er) ihr (die Ansprüche aus ihrem Ehevertrag) in der Währung des Landes Israel geben. Rabban Shim'on ben Gamliel sagt: (Er muss ihr die Ansprüche aus ihrem Ehevertrag) in der kappadozischen Währung geben. (Wenn der Ehemann seine) Frau in Kappadozien geheiratet und in Kappadozien geschieden hat, (muss er) ihr (die Ansprüche aus ihrem Ehevertrag) in der kappadozischen Währung geben.“
Die Kommentierung des zitierten Mischna-Textes im Babylonischen Talmud etwa drei Jahrhunderte später ist Ausdruck einer grundsätzlichen Wendung im Verhältnis zum Land Israel. Dort (bKet 111a) wird aus dem Munde Rav Yehudas der Satz überliefert, wer aus Babylonien nach Erez Israel hinaufziehe, übertrete ein in der Bibel dreifach wiederholtes Verbot: „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems ..., dass ihr die Liebe nicht aufweckt und nicht stört, bis es ihr selbst gefällt“ (vgl. Hld. 2,7; 3,5; 8,4). Diese Beschwörung der „Töchter Jerusalems“ im Hohenlied durch Gott habe, so der Talmud, zum Inhalt gehabt, die Juden sollten während ihres Exils nicht eigenmächtig oder mit Gewalt ins Heilige Land zurückkehren, und sie sollten sich auch nicht gegen die sie bedrückenden Weltvölker auflehnen.
Die Bevorzugung der Diaspora gegenüber dem Wohnen im Lande Israel im Babylonischen Talmud hängt mit der Tatsache zusammen, dass die jüdische Präsenz im Land Israel durch die Ereignisse der vergangenen Jahrhunderte prekär geworden war. Das Schwergewicht des jüdischen Lebens hatte sich nach Osten verlagert. Zu den Ereignissen, auf die der Babylonische Talmud hier möglicherweise reagiert, gehören: der Aufstieg des Christentums im Römischen Reich des vierten Jahrhunderts, in dessen Zusammenhang die römische Provinz Palaestina zu einem „Heiligen Land“ der Christen geworden war, die Abschaffung der Institution des jüdischen Patriarchats im Land Israel, die von Zerstörungen und Verwüstungen begleitete Eroberung Palaestinas durch die Perser im Jahre 614 und wenig später die Eroberung des Landes durch die Muslime.
Aufgrund dieser Veränderungen der äußeren Umstände deuteten die Rabbinen die Zeichen der Zeit, indem sie ihr Volk mahnten, das Exil geduldig zu ertragen und auf das Kommen des Messias zu warten.
Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung ist im Babylonischen Talmud auch der für das Verständnis des jüdischen Diasporalebens wichtigste Rechtssatz entstanden: „dina de malkuta dina“ (bGit 109b) „Das Gesetz des Königreiches (des jeweiligen Landes, in dem Juden leben), ist (auch das für sie geltende staatliche) Gesetz.“
Dieser Grundsatz, der zwischen eigenem und fremdem Recht unterscheidet und das fremde Recht als übergeordnetes staatliches Recht anerkennt, stellte aus jüdischer Sicht die Bedingungen für das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in den Ländern der Diaspora bereit. Es handelte sich um einen Grundsatz, der augenscheinlich in einem historischen Zusammenhang formuliert wurde, in dem es den Juden vergleichsweise gut ging, der seine Geltung aber auch in schweren Zeiten bewähren sollte. Mehr als ein Jahrtausend später, im 19. Jahrhundert, lief „dina de malkuta dina“ auf eine Art jüdischer Unterscheidung von (bürgerlichem) „Staat“ und „Religion“ (Synagogengemeinde) hinaus.
3.3 Land und Exil
Seit den ersten großen Deportationen im 8. Jahrhundert v. Chr. erstreckt sich jüdisches Leben zwischen den Polen Exil und Heimat, erzwungener wie freiwilliger Diaspora und Sammlung im Land Israel. Die relativ starke jüdische Minderheit außerhalb des Landes nahm fortwährend zu, und zwar sowohl in den östlich und nördlich angrenzenden Ländern wie Syrien und im Zweistromland als auch in Ägypten und später im gesamten Mittelmeerraum. Dass jüdisches Leben zugleich in der Diaspora wie im Land Israel blüht, macht eine theologische Deutung dieser bipolaren Existenz erforderlich.
Zur theologischen Deutung der Erfahrung von Niederlagen, Leid und Zerstreuung und in Anknüpfung an bereits in der Bibel angelegte Motive entstand eine Geschichtsschreibung, die dem Phänomen des Exils eine gewisse Regelhaftigkeit zuschrieb und es in paradoxer Weise zu einer Voraussetzung der erwarteten Erlösung erklärte (Exil und Erlösung, hebräisch: Galut we-Ge 'ula).
Nachmanides (1194-1270) erklärte, dass die Wanderungen der Erzväter als Vorabbildungen der späteren Wanderungen des Gottesvolkes zu verstehen seien. Der Auszug Abrahams aus Ur in Chaldäa konnte in dieser Hinsicht als Vorabbildung des Exodus der Israeliten aus Ägypten verstanden werden, der Auslandsaufenthalt Jakobs bei seinem mesopotamischen Onkel Laban und später in Ägypten wurde zu einer Typologie des späteren jüdischen Schicksals im Exil. Aus dieser Perspektive werden die Wanderungen und Fluchtbewegungen der Juden als im göttlichen Heilsplan vorhergesehen leichter verstehbar. In Zeiten der Bedrückung konnten Juden sich sagen lassen, dass ihr Schicksal nicht sinnlos war: Es entsprach einem verborgenen wenn auch häufig schmerzhaften göttlichen Heilswillen. Wichtig war dabei, dass die Regelhaftigkeit des Geschehens für die Gegenwart und Zukunft die Hoffnung auf eine Wende zum Besseren zuließ.
Daneben tritt in der jüdischen Mystik eine kosmische Ausweitung des Diasporaverständnisses. Das Diasporaschicksal der Juden war demnach Indiz für einen defizitären Zustand nicht nur der Geschichte, sondern der ganzen Schöpfung. Nicht Israel allein leidet in und an der Zerstreuung: Die Menschheit, die Schöpfung leidet mit. Die kosmische Dimension des Leidens schloss die Möglichkeit aus, sich selbst aus dem Leid zu befreien. Zugleich erschloss sie eine Hoffnungsperspektive: Gott selbst wird eines Tages „heilen“ (tikkun).
Nach einer noch weitergehenden Deutung hat Gott mit und bei Erschaffung der Welt zu einem gewissen Teil auf seine vor der Schöpfung noch intakte Einheit verzichtet und stattdessen eine Dualität zugelassen, die als Ursache für die gegenwärtigen Mängel verstanden wird. In dieser Perspektive der Mystik wird zur Erklärung des Exils gar die Möglichkeit eines teilweisen oder zeitweisen Scheiterns des Schöpfungshandelns Gottes erwogen.
Der Gedanke der Einbettung des Exilsgeschicks Israels in ein kosmisches Drama wurde in unterschiedlichen Variationen wirksam.
Der niederländische Rabbiner Menasse ben Israel (1604-1657) kennt den Gedanken, dass die Zerstreuung des jüdischen Volkes bis zu ihrer letzten Konsequenz wirksam werden müsse. Erst auf dem Tiefpunkt des Exils könne an das endzeitliche Heil gedacht werden. Der messianische Prozess werde erst dann in Gang kommen, wenn die Juden tatsächlich über alle Länder der Welt zerstreut seien. Aus diesem Grunde war es nach Auffassung Menasses ben Israels notwendig, auf das Ende der judenfeindlichen Vertreibungsdekrete in den europäischen Staaten hinzuwirken. Entsprechend setzte er sich dafür ein, Juden wieder die Ansiedlung in England zu ermöglichen, von wo sie im Jahr 1290 vertrieben worden waren.
Es entspricht diesen Geschichtsdeutungen, dass die Erzählungen von individuellen jüdischen Heimkehrern ins „gelobte Land“ entweder Episoden blieben oder Geschichten des Scheiterns sind: So starb der Philosoph und Dichter der „Zionslieder“ Juda Ha-Levi (ca. 1083-1141) auf dem Weg nach Palästina. Eine chassidische Gruppe, die unter Menachem Mendel von Witebsk in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts ins Heilige Land geführt worden war, hinterließ keine tieferen Spuren.
3.4 Vorläufer des Zionismus
Der beginnende und wachsende Antisemitismus in Europa und Erfahrungen des Scheiterns der Emanzipation der Juden führten im 19. Jahrhundert zu intensiver Bemühung um eine jüdische Besiedlung jener Region, die seit der damaligen Zeit aus europäischer Sicht in Anknüpfung an den römischen Namen (135 n. Chr. Syria Palaestina bzw. nach 193/194 n. Chr. Palaestina) als „Palästina“ bezeichnet wird. Die Rabbiner Jehuda Alkalai (1798-1878) und Zvi Hirsch Kalischer (1795-1874) riefen in ihren Schriften zur Rückkehr nach Palästina auf und schlugen konkrete vorbereitende Schritte vor. Auch der sozialistische Denker Moses Hess (1812-1875) plädierte für eine Auswanderung ins Land Israel, um der Unterdrückung der Juden in Europa zu begegnen.
Im Russischen Reich bildeten sich zu Beginn der 1880er Jahre in vielen Städten kleine Gruppen von Anhängern der Zionsidee, die sich Zionsfreunde (Chowewe Zion) nannten. Besondere Bedeutung hatte das 1882 erschienene Manifest des jüdischen Arztes Leon Pinsker (1821-1891) aus Odessa. Sein Titel war zugleich Programm: „Autoemanzipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden“. Pinsker machte die Religion für die bisherige Schicksalsergebenheit der Juden verantwortlich und forderte sein Volk zur Selbsthilfe auf. Wo das zu erwerbende Land sich befand, spielte für Pinsker keine Rolle. Erst die Zionsfreunde verpflichteten ihn, nur in Palästina die Errichtung eines eigenen Staates für das jüdische Volk zu planen. Die Idee der Gründung eines jüdischen Staates steht in engem Zusammenhang mit den in Europa zu dieser Zeit erstarkenden Nationalbewegungen.
Ab dem Jahr 1881 kamen die ersten zionistisch motivier ten Immigranten aus Russland nach Palästina. Diese und die folgenden Einwanderungswellen (Abb. 1), die zur Gründung neuer jüdischer Siedlungen führten, nennt man Alija (Plural Alijot). Das zum hebräischen Wort `lijjah Aufstieg gehörende Verb `lh kann in der Hebräischen Bibel sowohl das Hinaufziehen in das Land Israel (2. Mose 12,38; Esra 2,1 u.ö.) als auch den Weg hinauf nach Jerusalem (Jes 2,3 u.ö.) bezeichnen.
3.5 Zionistische Bewegung
Die folgenden Einwanderungswellen gezählt werden ab 1905 bis 1939 noch vier weitere Alijot standen bereits unter dem Eindruck des von Theodor Herzl (1860-1904) ins Leben gerufenen politischen Zionismus.
Theodor Herzl und die Delegierten des ersten zionistischen Kongresses (29.-31. August 1897 in Basel) gehörten fast alle dem assimilierten Judentum an. Angesichts des sich abzeichnenden Misserfolgs der Assimilation als Lösung des Problems jüdischer Existenz in der christlichen Mehrheitsgesellschaft suchten sie nach Alternativen. In seiner 1896 in Wien erschienenen Schrift „Der Judenstaat“ behandelte Herzl die jüdische Exilexistenz nicht als religiöse, sondern als nationale und politische Frage.
Im religiösen Judentum fand Herzl nur wenige Anhänger: Das liberale Reformjudentum in Westeuropa reagierte ablehnend und mit Empörung, da nach seiner Auffassung Herzls Pläne geeignet waren, Zweifel an der Loyalität der Juden zu ihren jeweiligen Heimatländern zu wecken und den Antisemitismus zu stärken. Das orthodoxe Judentum nahm am säkularen Charakter der von Herzl geschaffenen zionistischen Weltorganisation Anstoß.
Der erste Zionistenkongress in Basel verabschiedete ein Programm zur „Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“. Da Herzl der Meinung war, das zu besiedelnde Gebiet müsse zunächst rechtlich gesichert sein, lehnte er die sofortige Kolonisation Palästinas ab. Um den erwünschten öffentlich-rechtlichen Status („Charter“ ) für die Besiedlung Palästinas zu erwirken, führte Herzl ohne Erfolg diplomatische Gespräche mit dem türkischen Sultan, dem deutschen Kaiser, russischen Ministern sowie mit Papst Pius X.
Nach Herzls Tod trat angesichts der geringen Erfolge seiner diplomatischen Bemühungen der „praktische“ Zionismus in den Vordergrund. Unter dem Eindruck der Pogrome in Russland wurde die Kolonisierung Palästinas auch ohne „Charter“ vorangetrieben. Chaim Weizmann (1874-1952), später erster Präsident des Staates Israel, befürwortete eine Synthese von praktischer und politischer Arbeit. Dieser Ansatz trug während des 1. Weltkrieges Früchte, weil sich die Zionisten einerseits durch ihre Gegenwart in Palästina, andererseits aufgrund ihrer regen diplomatischen Tätigkeit in Europa den Briten erfolgreich als Bündnispartner gegen deren Kriegsgegner präsentieren konnten. Die Balfour-Erklärung vom 2. November 1917 war ein Erfolg der zionistischen Bewegung. In ihr sicherte der damalige britische Außenminister Arthur James Balfour (1848-1930) Lord Lionel Walter Rothschild (1868-1937) als einem Repräsentanten der jüdischen Organisationen die Errichtung einer nationalen jüdischen Heimstätte in Palästina und Unterstützung bei deren Verwirklichung zu.
3.6 Reaktionen auf den Zionismus und die Gründung des Staates Israel
Der Zionismus war ein Bruch mit der traditionellen jüdischen Anschauung, der erhoffte Messias werde die in der Diaspora Zerstreuten in das Land Israel zurückführen. So ist die Haltung des religiösen Judentums gegenüber dem Staat Israel bis heute nicht einheitlich. Bereits im Vorfeld der Staatsgründung gab es einander widersprechende Bewertungen des zionistischen Projekts. Zunächst betonten sowohl die Befürworter als auch die Gegner des Zionismus das Moment der Diskontinuität zum traditionellen religiösen Judentum.
Säkulare zionistische Denker interpretierten die traditionelle jüdische Hoffnung auf die messianische Gottesherrschaft neu. Sie erkannten in der jüdischen Geschichte eine fortschreitende Entwicklung, die auf die Aufklärung und den säkularen Zionismus zulief. Sie wollten ein neues „Hebräertum“ herausbilden, das auch für die Assimilation der nichtjüdischen Einwohner Palästinas offen sein sollte. Wenn sie sich auch oft nicht mehr der religiösen Sprache bedienten, knüpften sie doch an alte rabbinische Lehren wie die gegenseitige Bürgschaft aller Juden füreinander an. Dieser Solidaritätsgedanke beeinflusst die israelische Politik bis in die Gegenwart; ein eindrückliches Beispiel ist die Rettung der äthiopischen Juden vor Hungerkatastrophen in den Jahren 1984/1985 („Operation Moses“) und 1991 („Operation Salomo“).
Die säkularen Zionisten legten jüdische Traditionen nicht-religiös aus; so feierten sie zum Beispiel Schawuot als reines Erntefest. Aus pragmatischen Gründen zeigten die säkularen Zionisten sich trotz gegensätzlicher Auffassungen zu Kompromissen mit dem orthodoxen Judentum bereit: Am 19. Juni 1947 wurden die zionistischen Zugeständnisse in einem Brief der Jewish Agency an die orthodoxe Weltorganisation Agudat Israel formell bestätigt. Dieser Text, der die religionspolitischen Verhältnisse der Mandatszeit festschrieb und als „Status-quo-Brief“ bekannt wurde, enthielt die Zusicherung, dass der zu gründende Staat den Sabbat als Ruhetag respektieren, in der Armee und allen staatlichen Institutionen eine koschere Küche einrichten und das religiöse Familienrecht sowie das autonome orthodoxe Schulwesen unangetastet lassen würde. Das orthodoxe Judentum reagierte auf den Zionismus höchst unterschiedlich.
Nur ein Teil folgte dem ersten Oberrabbiner im Mandatsgebiet, Abraham Isaac Kook (1865-1935), und sah in der Staatsgründung das verborgene Wirken Gottes, der das jüdische Volk zu einem „Volk von Priestern“ machen würde, auch wenn diese Bewegung selbst andere Ziele verfolge. Die Gründung des Staates Israel wird in dieser Richtung als der „Anfang des Aufsprießens unserer Erlösung“ interpretiert. Diese Formulierung fügte das Oberrabbinat in das „Gebet für den Staat Israel“ ein, das sich in zionistisch-orthodoxen Gebetbüchern findet.
Das Jahr 1967 markiert den Beginn einer Trendwende im Kräfteverhältnis von säkularen und religiösen Strömungen im Staat Israel. Der Krieg des Jahres 1967 führte u.a. zur Eroberung Ost-Jerusalems und zur Besetzung der seit 1950 unter jordanischer Herrschaft stehenden Teile des ehemaligen Mandatsgebietes Palästina durch den Staat Israel. In der Inbesitznahme des als „Judäa und Samaria“ bezeichneten biblischen Kernlandes sahen manche Kreise eine Bestätigung messianischer Deutungen im Zusammenhang mit dem Staat Israel. Von den 1970er Jahren an kam es zu einer Neuinterpretation der zionistischen Geschichte. Die physische „Heimkehr der Juden nach Zion“ wurde jetzt als erster Schritt zur erwarteten „geistigen Heimkehr“ der säkularen Juden zur jüdischen Tradition verstanden. Der zunehmende Einfluss der orthodoxen Organisationen und Parteien und ihr Versuch, immer mehr halachische Vorschriften in staatliches Recht zu überführen, führen innerhalb der israelischen Gesellschaft bis heute zu heftigen Kontroversen.
Andere orthodoxe Gruppen fühlen sich strikt der traditionellen messianischen Hoffnung verpflichtet und lehnen den Staat Israel ab. Dieser in sich vielfältige und untereinander konkurrierende Teil der Orthodoxie, die so genannten Haredim, widerspricht den Prinzipien der Demokratie, des Pluralismus und der Gleichberechtigung ebenso wie einer Ersetzung zukünftiger messianischer Erlösung durch politische Prozesse. Gleichwohl beteiligen sich Teile der Haredim an Wahlen und nehmen die Leistungen des Staates in Anspruch.
Die entschiedensten Vertreter dieses Teils der Orthodoxie sind die Neturei Karta (Wächter der Stadt), die die Errichtung des Staates Israel als eigenmächtiges Eingreifen in den Heilsplan Gottes deuten und öffentlich in den Vereinigten Staaten, aber z.B. auch im Iran gegen den Zionismus auftreten. Ihr radikaler Antizionismus wird nicht nur von säkularen Juden, sondern auch von der Mehrheit des religiösen Judentums abgelehnt.
Daneben gibt es andere orthodoxe Stimmen, wie z.B. Moshe Greenberg (1928-2010), die ausdrücklich vor einem Messianismus warnen, der die Gegenwart als Endzeit interpretiert. Militärische Siege seien nicht einfach ein Beweis göttlicher Hilfe und keine Legitimation des nationalen Egoismus. Ebenso seien Niederlagen auch kein Zeichen für eine Verwerfung durch Gott. Das Judentum sei eine durch Religion geheiligte Lebensweise, die Vorschriften und Regelungen enthalte, die sozial förderlich seien. Es gebe dem alltäglichen Leben des Individuums und der Gemeinschaft eine Bedeutung. Diese Lebensweise sei nicht gebunden an irgendwelche Grenzen und an eine besondere Definition dessen, was die Grenzen eines jüdischen Staates seien. Allerdings benötige das Judentum zu seiner Entfaltung einen Lebensraum mit anerkannten und einigermaßen sicheren Grenzen.
So ist der jüdische Teil der israelischen Gesellschaft Anfang des 21. Jahrhunderts in sich gespalten. Auch orthodoxe Stimmen unterstützen das so genannte „Friedenslager“ und sind prinzipiell bereit, die 1967 eroberten Gebiete im Rahmen eines umfassenden Friedensvertrages zurückzugeben, während der als das „nationale Lager“ bezeichnete Teil der Bevölkerung dies eher ablehnt. Die Siedlerbewegung Gusch Emunim zählt sowohl säkulare als auch religiöse Mitglieder. Sie deuten das Zusammenwirken von religiösen und säkularen Juden und die Rückkehr der Juden in das biblische Kernland „Judäa und Samaria“ im messianischen Sinne.
Die Existenz eines jüdischen Staates macht es der großen Mehrheit von Juden auch heute unmöglich, ihr Jüdisch-Sein zu ignorieren. Der jüdische Religionsphilosoph Emil Fackenheim (1916-2003) sieht in der Gründung des Staates trotz aller ungelösten Probleme die entscheidende Voraussetzung für das Überleben des Judentums nach der Schoah :
„Vor nicht allzu langer Zeit war die Welt in zwei Teile zerfallen. Der eine Teil war auf die Ermordung eines jeden Juden aus, dessen er habhaft werden konnte, und der andere tat weniger als möglich, um dies zu verhindern, zu stoppen oder wenigstens zu verlangsamen. Wenn es danach keinen radikalen Wandel gegeben hätte, wer wollte da noch Jude sein? Von wem könnte man erwarten, es zu bleiben?“ [1] Fackenheim ist überzeugt: „Wäre damals kein jüdischer Staat gegründet worden, so wäre es eine mizwa, es jetzt zu tun. Man sinnt darüber nach.
Man sinnt auch darüber nach, dass das, was jetzt eine religiöse Notwendigkeit wäre, keine politische Möglichkeit mehr wäre. Man sinnt über all das nach und steht in Ehrfurcht und Staunen vor der Entscheidung, die an jenem Tag getroffen wurde.“
Heute gibt es nirgends auf der Welt jüdisches Leben, das nicht in irgendeiner Beziehung zum jüdischen Staat stünde.