Gelobtes Land?
Land und Staat Israel in der Diskussion. Eine Orientierungshilfe. Herausgegeben im Auftrag der EKD, der UEK und der VELKD, Gütersloh 2012, ISBN 978-3-579-05966-2, Preis 6,99 Euro. Bestellungen nur über den Buchhandel oder den Verlag.
9. Israel - Zeichen der Treue Gottes?
Wir haben gesehen, dass die Bedeutung des Landes „Israel“ und der Stadt „Jerusalem“ für den christlichen Glauben im Laufe der Geschichte ganz verschieden bestimmt worden ist. Daran anknüpfend ist nun abschließend zu fragen, welche Einschätzung am Beginn des 21. Jahrhunderts schrift- und zeitgemäß erscheint.
9.1 „Heiliges Land“ - „Gelobtes Land“
Die Kritik an der Rede vom „Heiligen Land“ wirkt in der Gegenwart fort. Sie kam in der Zeit der Aufklärung auf und hinterließ Spuren nicht nur in der christlichen Theologie, sondern auch im Reform-Judentum des 19. Jahrhunderts selbst. „Ja, Dir geliebtes Stuttgart, unserem Jerusalem, wünschen wir Heil!“, schließt die Predigt zur Einweihung der Stuttgarter Synagoge im Jahr 1861 [15]. Unter rationalistisch geprägten Juden wie Christen galt: Irdischen Gegebenheiten wie einem Land oder einer Stadt kann nicht die Qualität besonderer Gottesnähe zukommen. So emanzipierte sich die Hoffnung auf ein erlöstes Leben von ihrer alten Bindung an bestimmte Orte, z.B. an „den Zion“, und konnte auf alle Orte übertragen werden, wo Menschen guten Willens leben.
Mit der Kritik an der „Heiligsprechung“ welthafter Gegebenheiten vertritt die liberale Theologie ein Anliegen, das sich schon in der reformatorischen Theologie findet. Auch in deren Verständnis ist „Heiligkeit“ eine Kategorie, die nicht irdischen Orten zusteht, sondern nur Gott: Gott allein ist heilig. Dinge können nur insofern heilig genannt werden, als sie Mittel der Gegenwart Gottes sind, der sich durch diese Mittel dem Menschen schenkt. Das trifft in erster Linie auf Wort und Sakrament zu, die so genannten „Heilsmittel“, die durchaus mit Bedacht als „Heilige“ Schrift oder „Heiliges“ Abendmahl bezeichnet werden. Gott vergegenwärtigt sich selbst durch sie und schafft eine „Gemeinschaft der Heiligen“, wo und wann sein Geist Glauben weckt. „Heilig“ sind dann auch diejenigen, die sich um Wort und Sakrament versammeln, dem Zuspruch der Güte Gottes vertrauen und danach leben. Dabei ist die Selbstmitteilung Gottes nicht auf bestimmte Orte begrenzt oder konzentriert. Jesus Christus kann überall gegenwärtig werden, wo er verkündigt wird, „auff dem Felde, inn der Kirchen, oder auff dem meer“, wie Martin Luther sagt. Damit scheint die Rede vom „Heiligen Land“ zunächst theologisch obsolet geworden zu sein.
Sicher sind nach reformatorischem Verständnis Orte nicht substanziell näher bei Gott, weder Stein noch Wasser an sich sind heilig. Wenn das Land Israel dennoch „heilig“ genannt wird, ist damit nicht gemeint, dass Gott dort in besonderer Weise oder unmittelbar gegenwärtig wäre. Sondern wie Rituale eine tragende Funktion für den Glauben haben, so auch Räume und Zeiten. Davon zeugen unter anderem Kirchenräume und Walfahrtsorte. Gott kann sich an jedem Ort vergegenwärtigen. Doch die Orte, die in den Erzählungen vom grundlegenden Wirken Gottes aufgerufen werden, sind Orientierungspunkte des Glaubens und gewinnen daher für den Glauben eine besondere Bedeutung.
Der Glaube hat es mit Gott zu tun, wo immer das Wort gepredigt und das Sakrament empfangen wird. Dabei lässt er sich durch die jeder Verkündigung zugrunde liegenden biblischen Texte verweisen auf die Geschichte der Erzväter und Erzmütter des Alten Testaments, des Volkes Israel und die konkrete Geschichte Jesu von Nazareth. In der Menschwerdung, der Inkarnation seines Sohnes Jesus Christus, wurde Gott an konkretem Ort und zu konkreter Zeit gegenwärtig. Jesus war Galiläer, er war Jude, litt unter dem römischen Statthalter Pontius Pilatus, wurde vor den Toren Jerusalems gekreuzigt und begegnete als Auferstandener auf dem Weg nach Emmaus, in Jerusalem und am See Genezareth. Diese realen Orte seines Wirkens auf Erden stehen den Glaubenden vor Augen.
So verstanden ist das Land Israel als der Ort von religiöser Bedeutung im Blick, an dem sich die Geschichte der Selbstmitteilung Gottes ereignete: Es sind das Gespräch und die Begegnung Gottes mit Menschen, die dem Land eine Besonderheit verleihen und es auszeichnen.
Seine Orte sind Haftpunkte für Glaubensgeschichte und -geschichten. Von daher kann der Besuch dieses Landes durchaus für viele Christinnen und Christen eine Stärkung ihres Glaubens darstellen. Für sie liegt die „Heiligkeit“ nicht im Land selbst oder in einer besonderen Gottesgegenwart, sondern in seiner Deutung und seiner Bedeutung für den Glauben. Im Vertrauen auf den einen Gott, der sich unwiderruflich an alle seine Verheißungen bindet, können Christinnen und Christen auch heute von dem Land Israel als dem „gelobten Land“ sprechen.
Wenn allein die Glaubensbeziehung die Heiligkeit des Landes begründet, dann wird ein toleranter und respektvoller Umgang mit anderen Deutungen des Landes erleichtert. Dann kann anerkannt werden, dass auch andere Konfessionen und Religionen ihre Beziehung zu dem Land und seinen Orten haben. Dies stellt die eigene Überzeugung nicht in Frage.
9.2 Die Rede vom Staat Israel als „Zeichen der Treue Gottes“
Eine religiöse Deutung des gegenwärtigen Staates Israel wird häufig mit den alttestamentlichen Verheißungen und der Beschreibung des davidischen Reiches in den Geschichtsbüchern des Alten Testamentes begründet. Daher fragen wir abschließend nach einer heute vertretbaren und tragfähigen Interpretation der biblischen Landverheißungen.
Wiederholt ist von Zusagen Gottes an sein Volk die Rede, ihm ein Land zu geben. Seine Ausmaße bleiben unbestimmt. Abraham gegenüber heißt es an einer Stelle: „All das Land, das du siehst, will ich dir und deinen Nachkommen geben für alle Zeit“ (1. Mose 13,15). Jakob wird das Land, auf dem er liegt, versprochen (1. Mose 28,13). Die Deutung dieses Versprechens muss den agrarischen Kontext der Entstehungszeit berücksichtigen. Die Menschen lebten vom Ertrag ihres Ackers, sodass die Verheißung von Landbesitz bedeutet, dass Gott die Lebensgrundlagen sicherstellen wird. Dem heutigen Stand der Forschung nach sind die Landverheißungen in einer Phase der Landlosigkeit entfaltet worden während des Exils im 6. Jh. v. Chr. Das Bild vom verheißenen Land wird hier zu einem Hoffnungsbild, das gegen die politische Realität daran festhält, dass Gott seinem Volk treu bleibt, Lebensgrundlage und Leben in Sicherheit zusagt.
Das Konzept des verheißenen Landes ist dabei zwar für die Identität des Volkes Israel zentral, aber nicht zwingend mit dem Leben im Land Israel selbst verbunden.
Das Zentrum auch der Landverheißung ist somit das Versprechen Gottes, sein Volk zu bewahren. Insofern geht die Erwählung des Volkes den Verheißungen des Landes voran. Es gilt daher: Die biblischen Beschreibungen der Grenzen des Landes oder gar die Landnahmeerzählungen können keinesfalls als Kartografie für die Politik der Gegenwart dienen. Die Rede von „Verheißung“ und „Erfüllung“ ist immer eine Auslegung geschichtlicher Erfahrungen im Rückblick. Kein biblischer Text gibt einen „göttlichen Fahrplan“ für politisches Handeln an die Hand: Die biblischen Texte deuten die Vergangenheit auf das darin erfahrene bzw. geglaubte Handeln Gottes hin und sind Quelle und Ausdruck der Hoffnung auf das bewahrende und erlösende Handeln Gottes in der Zukunft; sie begründen oder legitimieren jedoch weder die Existenz noch die Grenzen des Staates Israel.
Das unaufgebbare Interesse der Christen am Wohlergehen des jüdischen Volkes in sicheren Grenzen entspringt der Einsicht, dass Gottes Verheißung, sein Volk zu bewahren, nicht hinfällig ist, dass das Volk Israel weiterhin Gottes erwähltes Volk ist und das gegenwärtige Judentum in Kontinuität zum biblischen Israel steht.
Die Anteilnahme der evangelischen Kirchen am Ergehen des Staates Israel ist auch begründet in dem Bewusstsein jahrhundertelangen Unrechts von Christen an Juden und der Schuld der Schoah. Der gegenwärtige Staat Israel wird aus diesem Grund immer auch Gegenstand des politischen Engagements und der Fürsprache von Christen sein, damit Juden und Jüdinnen eine Zukunft haben und in Sicherheit und Frieden leben können.
Für viele Juden und Jüdinnen gründet die Bindung an das Land Israel in den Erzählungen der Bibel, insofern hat das Land Israel für viele Juden auch eine religiöse Bedeutung, auch wenn die meisten Bürger des Staates Israel ihr Staatswesen nicht unmittelbar als Erfüllung der biblischen Landverheißungen verstehen. Die Vielfalt der religiösen Deutungen des Landes im Judentum können Christen wahrnehmen und achten. Diese Deutungen müssen jedoch nicht als christliche Glaubenssätze angeeignet werden.
Die Rückkehr von Jüdinnen und Juden in das Land Israel und dem folgend die Gründung des Staates im Jahr 1948 sind damit für Christen kein unmittelbar religiöses Ereignis. Wohl aber sind sie Grund zur Mitfreude am Überleben des von Gott erwählten jüdischen Volkes und Grund zur Dankbarkeit Gott gegenüber, der sein Volk bewahrt hat und bis heute bewahrt. Auch die Gründung des Staates kann als ein Mittel erscheinen, um unter den Bedingungen der unerlösten Welt und angesichts der realen Konflikte im Nahen Osten Jüdinnen und Juden ein Leben im Land Israel in Recht und Frieden zu ermöglichen. In diesem Sinn kann die Gründung des Staates Israel als ein „Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk“ gedeutet werden.
Wo Christen sich zu einem besonderen Einsatz für den gegenwärtigen Staat Israel berufen wissen, sind sie zugleich zu verantwortungsvoller und gegebenenfalls kritischer Begleitung seiner Politik verpflichtet.
Hierfür gelten als Kriterien die allgemeinen Grundlagen einer christlichen Staatsethik, nach der das Handeln eines Staates dem Frieden und dem Wohlergehen aller Bewohner des Staatsgebietes verpflichtet ist. Der Staat hat die „heiligen“ Stätten auf seinem Territorium und die Beziehung der Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften zu diesen Orten zu achten.
Wie in einem Brennglas bündeln sich in Land und Staat Israel und im Nahostkonflikt politische, religiöse, nationale und soziale Konflikte mit Wurzeln tief in der Geschichte. Signale der Hoffnung und Anlässe zur Verzweiflung, Gewalt und Versöhnungsbereitschaft, Irdisches und Himmlisches lassen sich nicht säuberlich trennen, sondern bilden ein unentwirrbar es Knäuel und eine lebenslange Herausforderung.
Die Aufgaben sind vielfältig: Israelfeindlichen Haltungen ist zu widersprechen, einer Überhöhung des Staates ist entgegenzutreten. Mit den verschiedenen Konfliktparteien ist das Gespräch aufrechtzuerhalten und wann immer nötig Unrecht zu benennen. Die widersprüchlichen Sichtweisen sind auszuhalten, Versöhnungsbereitschaft ist zu stärken, die Fürbitte zu pflegen.
Die Segenswünsche des 122. und des 128. Psalms gelten bis heute:
„Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben! Es möge Friede sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen! Um meiner Brüder und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen. Um des Hauses des HERRN willen, unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen.“
Psalm 122, 6-9
„ ... und siehst Kinder deiner Kinder.
Friede sei über Israel!“
Psalm 128,6