Gelobtes Land?
Land und Staat Israel in der Diskussion. Eine Orientierungshilfe. Herausgegeben im Auftrag der EKD, der UEK und der VELKD, Gütersloh 2012, ISBN 978-3-579-05966-2, Preis 6,99 Euro. Bestellungen nur über den Buchhandel oder den Verlag.
5. Das „Heilige Land“ und die Stadt Jerusalem in der islamischen Welt
5.1 Der klassische Islam
Der Koran nimmt die biblische Überlieferung von der Gabe des Landes an die Kinder Israels auf (etwa in Sure 26:59). Die Sure 21:71 spricht von dem durch Gott gesegneten Land.
Nach Mekka und Medina gilt Jerusalem mit der Al-Aqsa-Moschee und dem Felsendom (Abb. 8) als die drittheiligste Stätte des Islam. Der Koran erwähnt zwar den Namen Jerusalem nicht, doch lässt sich indirekt erschließen, dass er mit der biblischen Tradition über die Heiligkeit der Stadt vertraut ist. Die religiöse Bedeutung Jerusalems wird nach islamischer Tradition auch auf den Propheten Muhammad selbst zurückgeführt (Sure 17:1).
Die Überlieferung erzählt, wie der Prophet Muhammad auf Buraq, einem weißen Tier, teils einem Esel, teils einem Maulesel ähnlich, begleitet von dem Erzengel Gabriel von der heiligen Moschee in Mekka zur fernsten (= Al Aqsa) Moschee geritten sei. Dort habe er am Fuße des Felsens Halt gemacht, bevor er in die sieben Himmel entrückt worden sei (Mi`raj). An diesem Ort habe er von Gott das Gebot empfangen, fünfmal am Tag zu beten. Dieses Gebot bildet eine der fünf Säulen des Islam. Auch habe Muhammad in jener Nacht die früheren Propheten, einschließlich Abraham, Mose und Jesus, getroffen und als Vorbeter ihr gemeinsames Gebet am fernsten Ort (Al Aqsa) geleitet.
Mekka und Jerusalem werden durch diese Überlieferung eng miteinander verknüpft. Der Hadith, die Korankommentatoren und eine breite islamische Überlieferung messen der genannten Sure 17:1 besondere Bedeutung zu. Die Nacht der Himmelsreise (Isra`) wird von Muslimen in aller Welt mit der Verlesung der Festlegende begangen. Die Tatsache, dass der heilige Bezirk von Jerusalem (al Haram al-Sharif) muslimisch verwaltet wird, empfinden Muslime bis heute als Bestätigung des rechten Glaubens an Allah, den einen Gott, und an die Botschaft seines Propheten Muhammad. Traditionell gilt das Gebet auf dem „Heiligen Berg“ als besonders verdienstvoll. An besonderen Tagen versammeln sich dort bis zu 100.000 Muslime zum gemeinsamen Gebet. Eine Pilgerfahrt nach Jerusalem ist für Muslime aus Ländern, die mit dem Staat Israel keine diplomatischen Beziehungen haben, gegenwärtig nicht möglich.
Das höchste Fest, das Muslime in aller Welt begehen, ist das Opferfest. Es erinnert an die Errettung Ismaels, des Sohnes von Abraham und Hagar. Die Bindung Ismaels soll nach islamischer Tradition in Mekka am Ort der Kaaba stattgefunden haben. Ältere Überlieferungen bis ins 10. Jahrhundert hinein sprechen allerdings mehrheitlich von der Bindung Isaaks und verknüpfen die Geschichte mit jenem Felsen in Jerusalem, der auch in der jüdischen Tradition Berg Moria genannt wird. Über diesem Felsen erhebt sich heute der Felsendom. Jerusalem gilt im Islam auch als Ort des Jüngsten Gerichts und als Tor zum Paradies. Jüdischem Brauch entsprechend gab der Prophet Muhammad als Gebetsrichtung (Qibla) zunächst Jerusalem an (Sure 2:142-144; vgl. Dan 6,11). Nach seiner Auswanderung nach Medina im Jahr 622 änderte er sie auf göttliche Weisung hin zur Kaaba, der Kultstätte von Mekka. Die Gebetsrichtung wurde damit auch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Muslimen und Juden.
Schon im Jahr 691 war der Bau des Felsendoms vollendet. Er ist das älteste erhaltene Monument islamischer Baukunst. Der Felsendom war der erste zahlreicher repräsentativer Bauten der Ummayaden-Dynastie. Wenige Jahre danach war auch die erste Al-Aqsa-Moschee (Abb. 9) fertig gestellt. Sie wurde später durch Erdbeben zerstört.
Neben Jerusalem zählen auch andere mit biblischen Gestalten verknüpfte Orte wie die Grabstätten der Erzväter, Moses und der Propheten zum „Haus des Islam“ (Dar al-Islam). Mu`adh bin Jabal, ein Gefährte des Propheten Muhammad, lehrt, dass ganz Syrien heiliges Land sei, denn es befänden sich darin Orte, von denen den Propheten zufolge Segenskraft ausgeht. Mit „Syrien“ bezeichnet er das Gebiet, das zwischen El Arish in Ägypten und dem Euphrat liegt. Dies kommt biblischen Umschreibungen des Landes nahe (vgl. 1. Mose 15,18). Andere mittelalterliche Texte sprechen von Großsyrien „al-Sham“ als dem „Heiligen Land“ (al-Ard al muqaddasah).
Muhammad und seine Nachfolger, die Kalifen, war en nicht nur religiöse Lehrer, sondern auch politische Führer, die es als ihren Auftrag ansahen, das Gemeinwesen nach den von Gott diktierten Gesetzen zu gestalten. Diese schlossen Respekt vor den heiligen Stätten der anderen beiden von islamischer Seite so bezeichneten „Religionen des Buches“ grundsätzlich ein. Gleichzeitig erhoben sie Anspruch auf die islamische Vorherrschaft im Land. Ubayy Ibn Ka'b, ein Gefährte des Propheten Muhammad, wird mit folgenden Worten zitiert: „Gott sagte zu dem Heiligen Ort (= Jerusalem): Du bist mein Paradies, mein heiliger Ort und mein erwähltes Land; wer in dir lebt, wird unter meiner Gnade stehen, und wer dich aufgibt, wird meinen Zorn zu spüren bekommen.“ Der Verkauf von Grundbesitz an Nicht-Muslime ist nach einer Entscheidung der islamischen Rechtsgelehrten in Jerusalem auch heute streng untersagt. Zuwiderhandlungen können mit dem Verstoß aus der Gemeinschaft aller Muslime (Umma) bestraft werden.
Seit der Eroberung durch den Kalifen Omar (592-644) im Jahr 638 bis zum Beginn der englischen Mandatszeit 1917 blieb das Land einschließlich der Stadt Jerusalem unter muslimischer Herrschaft, unterbrochen nur durch die etwa 100 Jahre, in denen christliche Kreuzfahrer dort ihr Regiment ausübten. Die Rückeroberung Jerusalems im Jahr 1187 durch den Kurden Saladin (1137/38-1193) gilt in der islamischen Geschichtsschreibung als noch bedeutender als die erste Inbesitznahme der Stadt durch Omar fünfeinhalb Jahrhunderte zuvor.
Im Mittelalter findet sich im Islam vielfach die von Juden und Christen übernommene Vorstellung von Jerusalem als Mittelpunkt der Welt: Wenn man in Jerusalem bete, sei es so, als bete man im Himmel. Alle Sünden würden dem Beter dort von Allah vergeben.
Wie tief verwurzelt die Verehrung Jerusalems in der islamischen Frömmigkeit ist, kann man auch in der poetischen Literatur erkennen, die die „Heilige Stadt“ (Fada`il al-Kuds) besingt. Sie gelangte besonders in der Zeit der Kreuzfahrerherrschaft, in der die Rückeroberung des Landes zur heiligen Pflicht für alle Muslime (Dschihad) ausgerufen wurde, zu großer Blüte. Auch heute spielt Jerusalem als Sehnsuchtsort eine große Rolle in der arabischen Dichtung. Am Tag des Jüngsten Gerichts wird nach islamischem Glauben die Auferstehung der Toten in Jerusalem beginnen. Dann wird die Kaaba, der heilige Stein, wie eine Braut von Mekka nach Jerusalem gebracht und in der Folge das Gebet aller wieder dorthin gerichtet sein.
5.2 Argumentationsmuster in der Gegenwart
Im Dialog mit Muslimen nehmen wir in deutschen und internationalen Kontexten wahr, dass es im Islam einen durchaus differenzierten Umgang mit den Themen „Land Israel“ und „Staat Israel“ gibt. Bei muslimischen Dialogpartnern in Deutschland begegnen uns über wiegend moderate Einstellungen. Trotzdem müssen wir uns mit politischen Argumentationsmustern auseinandersetzen, die sich religiöser Motive bedienen und in der arabischen Welt wie in den Medien vertreten werden.
Im Umfeld der islamischen Reformbewegung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Reaktion auf den wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Niedergang in weiten Teilen der arabisch-islamischen Welt entstanden war (Muhammad Abduh, 1849-1905, u.a.), wurde im Namen aller Muslime Anspruch auf das Land Palästina erhoben und zum Kampf gegen den Zionismus aufgerufen.
Einzelne Autoren spitzen den Vorwurf, die Juden hätten den ihnen in der Tora gegebenen heiligen Text verfälscht, zu: Sie behaupten, diese Fälschung sei erfolgt, um Gott allein für sich zu reklamieren und Anspruch auf das Heilige Land erheben zu können. Andere gehen noch weiter, indem sie die im Tenach geschilderten Kriege gegen Midianiter, Philister, Moabiter, Ammoniter u.a. entgegen der ursprünglichen islamischen Tradition als Vorgänger der Massaker ansehen, die die Juden in Palästina im Krieg von 1948 begangen hätten. Die Landnahmeerzählung wird mit der Vertreibung der Palästinenser und der Konfiszierung palästinensischen Grund und Bodens parallel gesetzt. Einige Autoren „beweisen“ aus islamischen Quellen, dass die Juden unter dem Schutz großer Mächte nach Palästina zurückkehren mussten. Zum dritten und letzten Mal sollten sie dort versammelt werden, um, wenn sie nicht zum Islam konvertierten, ein schweres Ende zu erleiden, wie in Sure 17 beschrieben sei.
Die arabische nationale Bewegung sah in der Kooperation der europäischen Mandatsmächte mit der zionistischen Bewegung schon früh eine Fortsetzung der wiederholten Versuche, den Islam zu besiegen. Dies sei schon zu Zeiten des Propheten Muhammad das Ziel der Juden gewesen, die im Jahre 628 in der Schlacht um Khaybar, der größten jüdischen Ansiedlung 150 km nördlich von Medina, jedoch vernichtend geschlagen wurden. Bis heute wird das Stichwort „Khaybar“ bei antijüdischen Demonstrationen und Angriffen als Schlachtruf laut.
Verbreitet ist auch eine Verschwörungstheorie, derzufolge hinter der jüdischen Nationalbewegung dieselben Kräfte steckten, die schon die Französische Revolution angezettelt, den Kirchen in Europa ihre Macht genommen und schließlich den Niedergang des Osmanischen Reiches und des islamischen Kalifats bewirkt hätten. Auch hierfür werden Parallelen aus biblischer Zeit angeführt, zum Beispiel die Bündnispolitik unter König David.
Zu solchen Verschwörungstheorien gehören die „Protokolle der Weisen von Zion“, die ein Beispiel dafür sind, dass europäischer Antisemitismus auch im Nahen Osten Aufnahme fand.
Die Entlarvung der Schrift als Fälschung wird vor allem in arabischen und islamischen Ländern selten zur Kenntnis genommen. Es kursieren gegenwärtig schätzungsweise sechzig Ausgaben des Pamphlets. Jeder Verbreitung und jedem Gebrauch der „Protokolle“ werden evangelische Christen entschieden entgegentreten.
In der politischen Debatte wird vielfach unterstellt, dass dem jüdischen Nationalismus eine religiöse Ideologie zugrunde liege. Sein Ziel heiße „Großisrael“. Der Zionismus habe beispielloses Elend über das palästinensische Volk gebracht. Das Beharren des Staates Israel darauf, ein „jüdischer Staat“ zu sein, widerspreche den Prinzipien eines Nationalstaates und zeige, dass der Staat Israel auf Diskriminierung gegründet sei.
Zum Stichwort religiöser Ideologie ist zu konstatieren, dass sich palästinensische Kampforganisationen nicht zufällig „Islamischer Dschihad“, „Al-Aqsa-Brigaden“ oder „Harakat-al-muqawama al-islamiyya“ (übersetzt: „Islamische Widerstandsbewegung“; abgekürzt: Hamas) nennen. Sie stellen ihre Organisationen damit in einen religiösen Kontext. Auch die Selbstmordattentäter seit der zweiten Intifada begründen ihr „Martyrium“ in der Regel religiös.
Der Anspruch auf das Land Israel als Teil des „Haus des Islam“ wird weiterhin erhoben. Die traditionelle Vorstellung von einer Teilung der Welt in die beiden Blöcke „Haus des Islam“ (dar al-Islam) und „Haus des Krieges“ (dar al-Harb) prägt das Denken vieler Muslime, obwohl sich dieses Konzept weder im Koran noch im Hadith findet und von gemäßigten Muslimen kritisch gesehen wird. Allerdings beruft sich die Hamas in ihrer Charta auf die „heilige Pflicht“, sich persönlich für die Befreiung des Landes einzusetzen (Artikel 13). Das Land Palästina sei den Muslimen bis zum Ende aller Tage gegeben. Es könne daher weder darauf verzichtet noch etwas davon abgetrennt werden (Artikel 11). Für Palästina gebe es keine andere Lösung als den Dschihad.
Im Gegensatz dazu lehren andere muslimische Autoritäten, dass Gebiete, die dem „Haus des Islam“ verloren gegangen sind, nicht zwangsläufig Ziel eines Dschihad sein müssen. Entscheidend sei, ob der Islam in einem bestimmten Gebiet toleriert werde und seine Anhänger ihre Religion ungehindert ausüben können. Ein Beispiel für eine auf gegenseitigem Respekt beruhende Haltung zum Land Israel ist die Alexandria-Erklärung, die im Jahre 2002 von muslimischen, jüdischen und christlichen Repräsentanten aus dem Nahen Osten unterzeichnet wurde. Auch in Deutschland haben sich muslimische Gruppen ausdrücklich hinter diese Erklärung gestellt.