Es ist normal, verschieden zu sein

Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, Januar 2015

5. Inklusion als Chance für Kirche und Gemeinde

Auch für die Handlungsfelder in Kirche und Diakonie ergeben sich vielfältige Herausforderungen im Kontext Inklusion. Viele wurden bereits durch die vorhergehenden Abschnitte angesprochen, so die Frage der Inklusion im Sozialraum, der Bildung, der Freizeitgestaltung oder des Wohnens. In diesem Kapitel sollen sie in einer binnenkirchlichen Perspektive reflektiert werden — etwa, wenn es um die Themen Gottesdienst, Konfirmandenarbeit, Seelsorge, Gemeindeaufbau oder Ehrenamt geht. Ferner sollen die Aufgaben für das kirchenleitende Handeln benannt werden.

Eine zentrale Frage ist dabei die Zusammenarbeit von »verfasster Kirche« und Diakonie, von Gemeinde und diakonischen Einrichtungen oder Diensten. Denn die lange Tradition von »Sondereinrichtungen« und »Sonderschulen« hat eben auch dazu geführt, dass Menschen mit Behinderungen in den Ortsgemeinden kaum eine Rolle gespielt haben; sie bildeten in der Regel eigene Sonderseelsorgegemeinden. So hat sich die Spaltung von »Steuerbürgern« und »Transferempfängern« zwischen »Kirche« und »Diakonie« noch einmal wiederholt als Segregation von »normalen Gemeinden« und »Anstaltsgemeinden«. Hier im Sinne der Gemeinde- und Gemeinwesendiakoniebewegung zu einer neuen Verknüpfung und zur Teilhabe aller Glieder am Leib Christi zu finden, bleibt eine zentrale Herausforderung für das kirchenleitende Handeln in Gemeinden und Kirchenkreisen, diakonischen Unternehmen und Landeskirchen.

5.1 Gemeindediakonie

In den letzten Jahrzehnten haben sich Kirche und Diakonie in Deutschland deutlich auseinanderentwickelt. Während die Diakonie als Freie Wohlfahrtspflege wie Caritas oder Arbeiterwohlfahrt von professionellen Standards und sozialversicherungsrechtlicher Finanzierung bestimmt ist, entwickelten sich Gemeinden mehr und mehr zu ehrenamtlichen bürgerschaftlichen Organisationen, die die Trägerschaft von Diakoniestationen, Altenzentren, ja auch von Tageseinrichtungen zunehmend an diakonische Träger abgegeben haben. Beruflichkeit und Ehrenamt, Steuerfinanzierung und Sozialversicherungsfinanzierung, Gemeinden und Unternehmen als Träger standen sich dabei oftmals fremd gegenüber. Erst vor dem Hintergrund der Ambulantisierung und Gemeinwesendiakoniebewegung hat sich das in den letzten Jahren deutlich geändert. Noch immer aber gilt es, vielerlei Missverständnisse und Ängste auch zwischen den Organisationen zu überwinden und Kulturen zu überbrücken, um die bisherige Praxis der Delegation diakonischer Aufgaben aus den Kirchengemeinden an professionelle Träger zu überwinden. Denn damit gerieten auch die betroffenen Menschen immer mehr aus dem Blick der Kirchengemeinden.

Inklusion ist nun ein wesentlicher Schlüssel zu einem neuen Miteinander von Kirche und Diakonie um der betroffenen Menschen willen, aber auch um der Kirche Jesu Christi willen. Inklusion wehrt nicht nur jeder Selbstgenügsamkeit, sondern ermutigt auch zu neuen Erfahrungen des Miteinanders in den Gemeinden wie der Kooperation zwischen Gemeinden und diakonischen Einrichtungen. Denn die Kommunikation des Evangeliums profitiert von der Vielfalt der Gestaltungsformen, die mit der Wertschätzung von Verschiedenheit als wichtigem Anliegen der Inklusion korrespondiert. Stets geht es um die Vergrößerung von Möglichkeiten der Teilhabe, die schon im ursprünglichen Begriff der Volkskirche angelegt ist. Teilhabe ist eine notwendige Konsequenz des »allgemeinen Priestertums der Gläubigen«.

Dazu ist es nötig, dass eine Gemeinde sich als Organismus gleichberechtigter Partner begreift und bedürfnisorientiertes Handeln konkret werden lässt. Der Zusammenhang von Bedürfnisorientierung und Partnerschaftlichkeit verhindert den Rückfall in Denkmuster, die ein starres Gegenüber von »Helfern« auf der einen und »Bedürftigen« auf der anderen Seite voraussetzen. Wir sind als Geschöpfe Gottes aufeinander hin-und angewiesen. Zum innergemeindlichen Qualitätsmanagement [55] gehört die regelmäßige Überprüfung der kirchlichen Praxis auf ihre inklusive Tauglichkeit hin. Die daraus resultierenden Maßnahmen verstehen sich dann nicht als »Angebote« kirchlicher Leistungsträger für potenziell Hilfebedürftige. Vielmehr gilt es, im Horizont des Evangeliums Gemeinschaft so zu organisieren, dass Menschen sich auf Augenhöhe begegnen und einander mit ihren vielfältigen Kompetenzen und Einschränkungen ergänzen können.

Die Diakoniedenkschrift der EKD, die 1998 zum 150-jährigen Jubiläum der Inneren Mission veröffentlicht wurde [56], verfolgt eine innovative, gemeinwesenorientierte Strategie, wie sie auch hier vorgeschlagen wird. Dabei kommen drei neue Perspektiven und drei Aufgaben in den Blick: Es geht darum,

  • die Distanz zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Diensten zu überbrücken,
  • die Kontakte zu Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Initiativen zu verbessern und ihre Bedürfnisse besser wahrzunehmen,
  • die Vernetzung mit außerkirchlichen Initiativen im Gemeinwesen zu suchen.

Mit dieser sogenannten neuen Subsidiarität und Gemeinwesenorientierung wurde ein Umdenken eingeleitet, das für Diakonie und Kirche erhebliche Herausforderungen birgt. Es geht um

  • die Überwindung der Zielgruppenorientierung und Versäulung, die vor allem in der Diakonie als Wohlfahrtsanbieter auch durch die Form der Refinanzierung festgelegt ist,
  • die Überwindung der Organisations- und Finanzlogik zugunsten einer neuen Kultur der Zusammenarbeit,
  • eine Sensibilität für die bestehenden Aktivitäten anderer Träger, ihre Stärken und gemeinsame Schnittstellen.

Kirchengemeinden sind immer schon auf das Gemeinwesen bezogen. Pfarrerinnen und Pfarrer, Kirchenvorstände und Ehrenamtliche leben im Stadtteil, sie kennen Schulen, Sportvereine, Arztpraxen und können schnell und informell Anknüpfungspunkte finden. In diesem Sinne bringen Kirchengemeinden ein großes Sozialkapital mit — an Kontakten, Netzwerken und Beziehungen, an symbolischen Orten, an gemeinsamer Geschichte und in aller Regel einen großen Vertrauensvorschuss, den es einzusetzen gilt. Andererseits sind die Parochien in der Regel von ihrer räumlichen Verfasstheit her nicht identisch mit der Kommune oder dem Schulbezirk, und die konfessionelle Identität grenzt zuweilen auch ab und macht es schwer, Menschen anzusprechen, die nicht dazugehören. Diakonie dagegen arbeitet in ihrer Professionalität freier, unternehmerischer und politisch bewusster, häufig aber auch überregional und in hohem Maße durch die Refinanzierung bestimmt. Wenn allerdings Kirche und Diakonie zusammenarbeiten, kann es gelingen, die professionelle Entwicklung positiv wahrzunehmen und in den Nachbarschaften zu leben. Solche Unterschiede als Bereicherung wahrzunehmen, und vielleicht gerade in Zusammenarbeit mit der Diakonie auch andere Träger und Anbieter professionellen wie bürgerschaftlichen Engagements einzubeziehen, kann Kirchengemeinden helfen, die Vielfalt des Lebens an ihrem Ort zu sehen und mitzugestalten. Auf diese Weise werden sie in einer bunten, aber auch älter werdenden Gesellschaft, in der der Zusammenhalt manchen Zerreißproben ausgesetzt ist, zu »Caring Communities«, zu Plattformen der Beteiligung, offenen Netzen und Herbergen auf dem Weg.

Netzwerk »Kirche inklusiv« der Nordkirche

Im Jahr 2012 startete das Netzwerk »Kirche inklusiv« in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Grundidee für dieses Netzwerk war, haupt- oder ehrenamtlich Mitarbeitende aus Kirche und Diakonie zusammenzubringen, die an der Thematik Inklusion arbeiten oder daran interessiert sind. »Kirche inklusiv« ist eine Bewegung, die sich für die Vielfalt des Lebens und der Lebenslagen öffnet, die versucht, eine Kirche aller und für alle zu werden. Selbstbestimmung, Teilhabe und Teilgabe für alle soll aus der Sicht des Netzwerkes nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Kirche bestimmen. Es geht dabei um Gemeinden für viele verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten. Im Netzwerk wird Inklusion als Haltung verstanden, als ständiger Prozess, Ausgrenzung zu überwinden.

Das Netzwerk trifft sich in der Regel zweimal jährlich zu einem Netzwerkplenum mit Austausch und Fortbildung. Zu einzelnen Themen können sich auf dieser Plattform auch Arbeitsgruppen bilden. Die Arbeitsformen des Netzwerkes sind barrierearm und inklusiv. In den Kirchenkreisen und Einrichtungen sowie auf landeskirchlicher Ebene gibt es Ansprechpartnerinnen und -partner. Weiterhin ist gerade ein Fortbildungsmodul entwickelt worden, das Menschen zu Akteuren mit inklusiver Handlungskompetenz weiterbilden soll.

Inklusion als Handlungsmaxime stellt alle kirchlichen Lebensäußerungen vor die Aufgabe, umfassende partnerschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Dieses Umdenken muss auch erkenntnisleitendes Kriterium bei der Analyse bestehender kirchlicher Strukturen sein. Anders gewendet: Welche Strukturen braucht die Kirche, wenn diakonisches Handeln partnerschaftliche Assistenz zur Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens bedeutet?

Kirche und Diakonie sind deshalb aufgefordert, das Thema Inklusion auf den unterschiedlichen Ebenen ihrer Organisation in ihr Selbstverständnis bzw. ihre Ordnungen aufzunehmen. Dabei ist die Aufgabe der Inklusion von Menschen mit Behinderungen nur eine der Herausforderungen auf dem Weg zu einer diakonischen Kirche — sie unterscheidet sich nicht kategorial von der Herausforderung, von Armut bedrohte Familien, pflegende Angehörige oder Menschen mit Migrationshintergrund als »normale Gemeindeglieder« zu begreifen. Insofern geht es auch nicht in erster Linie darum, weitere Stellen oder Beauftragte zu schaffen oder zusätzliche Programme aufzulegen; vielmehr tun Gemeinden gut daran, inklusive Leitbilder für das Wohnquartier zu entwickeln, die die unterschiedlichen Zielgruppen, die dort leben, im Blick haben.

Gleichwohl ist es hilfreich, wenn die EKD, ihre Gliedkirchen und Werke auch Aktionspläne zur Umsetzung von Inklusion im engeren Sinne entwickeln, an denen sich Fortschritte messen lassen. Dabei wird auf eine intensive Beteiligung von Menschen mit Behinderungen, ihrer Verbände und Institutionen zu achten sein. Durch Aktionspläne und Selbstverpflichtungen werden zielgerichtete, kleinschrittige Veränderungsprozesse gewährleistet. Die Finanzierung der Barrierefreiheit von kirchlichen Gebäuden und die Schaffung von Vorkehrungen für gleichberechtigte Teilhabe muss in den Haushaltsplänen verankert werden. Kirchliche Netzwerke für Inklusion, die mit staatlichen und bürgerschaftlichen Initiativen zusammenarbeiten (vgl. das Netzwerk »Kirche inklusiv« der Nordkirche), können die inklusive Umgestaltung befördern. Ferner erweist es sich als hilfreich, vorhandene Indizes zur Analyse, Entwicklung und Evaluation von Inklusionsprozessen zu verwenden (Schulen, Kommunen, Kindertagesstätten etc.) oder spezifische Instrumente für kirchliche und diakonische Einrichtungen zu entwickeln (vgl. z. B. die Arbeitshilfe mit Index der Evangelischen Kirche im Rheinland).

Mehr als Fragen — Inklusion und kirchliche Praxis

Wie können wir Menschen in ihrer Vielfalt willkommen heißen? Wie kann Zusammenleben gelingen? Wie können wir Barrieren abbauen? Wie können wir Menschen miteinander ins Gespräch bringen?

Helfen kann dabei die Fragenbox »Mehr als Fragen — Inklusion und kirchliche Praxis«. Auf einzelnen Karten finden sich viele Fragen zum Thema. Es geht nicht darum, die Fragen einzeln abzuarbeiten, sondern einzelne Fragen auszuwählen und mit ihnen untereinander ins Gespräch zu kommen.

Ziel ist dabei die Bewusstseinsbildung in Bezug auf die eigene Haltung im Umgang mit Vielfalt. Die Karten können in den verschiedensten Gruppen oder auch im Gemeindebrief oder Gottesdienst eingesetzt werden. Eigene Methodenkarten geben Anregungen und weitere Ideen zum Einsatz der Karten [57].

5.2 Gottesdienst

Der Gemeindegottesdienst am Sonntagmorgen versteht sich traditionell als die zentrale Feier, in der sich die ganze Gemeinde versammelt, miteinander Gott lobt, auf sein Wort hört und die Sakramente empfängt. Die Glocken laden alle ein. Wie aber kann es gelingen, dass alle Eingeladenen auch teilnehmen können? Und wie kann die Feier des Glaubens so gestaltet werden, dass jede Person in ihrer Unterschiedlichkeit auch angesprochen und beteiligt ist?

Inklusive Gottesdienste bemühen sich, Fahrdienste und Assistenz anzubieten, Zugangsbarrieren durch bauliche Maßnahmen (z. B. durch Rampen, visuelle und taktile Leitsysteme, Toiletten, Pflege- und Wickelmöglichkeiten) zu beseitigen oder nicht mobilen Gemeindegliedern eine Teilhabe auf andere Weise zu ermöglichen (Tonträgerdienste, Besuche). Eine freundliche Haltung untereinander wird gepflegt. Verhaltensweisen, die von den sozialen, kulturellen und lokalen Erwartungen abweichen, finden in der Weitherzigkeit der Gemeinde eine Heimat. Die Liturgie zeichnet sich durch eine »Präsenz des sinnlichen Reichtums« (Chr. Grethlein) aus. Mit Musik, Gesang, Spielszene, Tanz, Bild, Film, Symbol, Geruch, Geschmack und Bewegung werden möglichst viele Sinne angesprochen. So kann das Wort Gottes auf vielerlei Weise erfahrbar werden. In »leichter Sprache«, wo nötig auch unterstützt durch Gebärden oder Bilder, erreicht das Wort Gottes Herz und Verstand.

Gebärdenchöre — visuelle Form der Kirchenmusik

Drei Finger zum Himmel gereckt, wie eine Schwurhand, das heißt Gott. Mit der flachen Hand zweimal aufs Herz klopfen, das bedeutet Herz. Hände anwinkeln und beide Fäuste auf Brusthöhe ballen ist die Gebärde für Hoffnung. Auch so lässt sich singen, auch so lassen sich Liedtexte wiedergeben, allein und in einer Gemeinschaft.

In Bayern sind Gebärdenchöre nicht nur von gehörlosen, sondern gemeinsam mit hörenden Gemeindegliedern und Freunden gegründet worden. Wichtig ist dabei, dass Gebärdenchöre nicht einfach hörende Chöre kopieren wollen. Sie wollen die eigene gebärdensprachliche Kultur für Gottesdienste und andere christliche Anlässe aus sich heraus als neue, visuelle Form der Kirchenmusik weiterentwickeln.

Das Deutschlandradio Kultur hat den Gebärdenchor der evangelischen Gehörlosengemeinde Berlin Anfang des Jahres 2014 zum Chor der Woche ausgewählt.

Das Wort Christi reichlich und in vielfacher Gestalt unter uns wohnen zu lassen, das ist eine Aufgabe, zu der schon Paulus ermutigt hatte (Kol 3,16). Segen auch körperlich zu spüren durch Handauflegen, Salben, Fußwaschen und vieles mehr, das ist nicht nur für Menschen mit Behinderungen wichtig. Versinnlichungen erden das Evangelium und vertiefen die Auslegung der Heiligen Schrift. Auch die Architektur und die Kirchraumgestaltung »predigen« im Verlauf des Kirchenjahres auf unterschiedliche Weise. Verschiedene Bereiche im Kirchenraum und Umgestaltungsmöglichkeiten bieten Angebote für unterschiedliche Bedürfnisse (Krabbelecke, Spielbereich, Liege- und Lagerungsmöglichkeit, Malbrett mit Stiften für Kinder etc.). Nicht alle müssen zur gleichen Zeit dasselbe tun (Differenzierung). Das Sehen wird durch günstige Beleuchtung, Schrift im Großdruck oder Projektionen unterstützt, das Hören durch eine gute Beschallung und ausgewiesene Anlagen für schwerhörige Menschen. Besondere menschliche Bedürfnisse fordern zu unterschiedlichen kreativen Lösungen vor Ort heraus. Bei der Lösungsfindung und Umsetzung sind die Betroffenen so weit wie möglich beteiligt. Nicht alles muss in der Gemeinde (sofort) verwirklicht werden. Vorrang haben die Bedürfnisse, die aktuell anstehen. Flexible Anpassungen werden von wiederkehrenden Ritualen im Gottesdienst getragen, die Orientierung bieten und Gemeinschaft stiften (Ritualisierung). Wie im frühen Christentum achtet der inklusive Gottesdienst darauf, dass alle ihre Gaben aktiv »zum Aufbau der Gemeinde« (1 Kor 14,26) einbringen können (Beteiligung).

Dunkelgottesdienst

An der Eingangstür zum Gottesdienst werden die Besucher empfangen und dann zu einem Platz in einem abgedunkelten Raum ohne Licht gebracht. Es ist dunkel, es gibt keine Möglichkeit, etwas von der Umgebung zu erkennen. Dann folgen Lieder, Gebete, Predigt, Segen, ein ganz normaler Gottesdienst wird gefeiert.

Ein Gottesdienst im Dunkeln lädt dazu ein, die Situation von Menschen, die sehbehindert oder blind sind, einmal selbst zu erfahren. Wie erlebt ein Mensch unseren Gottesdienst, wenn er ihn nur hört? Als Sehender erlebe ich, wie schwer es mir fällt, mich im Raum zu orientieren, die Lieder mitzusingen oder zu erfahren, wann ich aufstehen sollte und wann mich setzen. Meine Grenzen werden mir hier aufgezeigt, aber zugleich ist es eine bereichernde Erfahrung zu erleben, wie konzentriert man den Worten folgen kann, ohne visuell abgelenkt zu werden. Außerdem erlebe ich, dass es für die Gemeinschaftserfahrung und das geistliche Erleben nicht unbedingt Kerzen und Blumen braucht oder die Notwendigkeit, das Gesicht meines Nachbarn zu erkennen.

Ein beispielhafter Versuch, durch eigene Erfahrungen Verständnis füreinander zu wecken!

Auch zum Abendmahl sind alle eingeladen, ob gesund oder krank oder behindert. Die unterschiedlichen Aspekte des Abendmahls: Teilhabe an Gottes Reich, Teilen von Brot und Wein bzw. Traubensaft, Stärkung auf dem Weg, Sündenvergebung, Feier der Gemeinschaft der versammelten Gemeinde miteinander und mit Christus werden durch die Sinnlichkeit der Abendmahlsgaben besonders konkret und sind dadurch auch besonders geeignet, Menschen ganzheitlich anzusprechen. Die langjährige kirchliche Praxis, bestimmte Menschen mit Behinderungen nicht zum Abendmahl zuzulassen oder faktisch zu übergehen, gehört zu der Schuld, die die Kirche an Menschen mit Behinderungen auf sich geladen hat. Eine Kirche, die in Jesu Namen alle Menschen an seinen Tisch ruft, soll mit besonderer Liebe und Sorgfalt darauf achten, dass dabei niemand ausgeschlossen ist, der am Abendmahl teilnehmen möchte. Die Inhalte des Abendmahls sind auf je angemessene Weise zugänglich zu machen. Dabei ist je nach Art der Assistenz, die ein Mensch benötigt, eine passende Form der Darreichung des Abendmahls zu finden, die ihn oder sie mit der Gemeinde verbindet. Das Angebot, Traubensaft statt Wein zu wählen, ist für viele Menschen hilfreich, die wegen einer chronischen Erkrankung Medikamente einnehmen.

Es entspricht einer lebendigen Gemeinde, auch Gottesdienste für besondere Zielgruppen anzubieten, wie Kinder- und Jugendgottesdienste, Themengottesdienste, besondere Predigtreihen, Lobpreisgottesdienste oder das politische Nachtgebet (Angebotsvielfalt). Natürlich können Sonderformen auch zur Abgrenzung von der übrigen Gemeinde führen. Hier ist auf eine gute Balance zwischen Sonderformen und Inklusivität zu achten.

5.3 Seelsorge und Kasualien

Seelsorge

Für alle Menschen ist es wichtig, in einer Situation der Lebenskrise andere Menschen zu haben, bei denen sie in einer vertrauensvollen und annehmenden Haltung Gesprächspartner finden, die offen sind für Probleme, Zweifel und Leid. Eine inklusionsorientierte Seelsorge sensibilisiert sich für Menschen, die aufgrund besonderer Lebenssituationen von der Gemeinschaft isoliert oder von ihr ausgegrenzt werden.

Grundsätzlich sollte es keine exklusiven Gemeinden für Menschen mit besonderem Assistenzbedarf geben. Aber gerade in der Seelsorge sind Pfarrerinnen und Pfarrer bzw. entsprechend Beauftragte nötig, die mit der besonderen Situation der Menschen vertraut sind und in der Sprache der Menschen kommunizieren können (leichte Sprache, Gebärdensprache, Lormen, das in die Hand geschriebene Alphabet, als Kommunikationsform mit taubblinden Menschen). Die Angebote werden an den Bedürfnissen dieser Menschen ausgerichtet und nutzen ihre Hilfsmittel und Kommunikationsformen. Insbesondere gehörlose Menschen wollen ihre eigene Kultur bewahren. Sie sind häufig allein unter Hörenden; dabei ist für sie die Kommunikation extrem anstrengend. So genießen sie es, auch in der Gebärdensprachgemeinschaft zu sein. Die Kommunikation in der Muttersprache ist am angenehmsten und einfachsten. Dies gilt besonders für Konflikt- und Krisensituationen. Ähnlich wünschen sich auch schwerhörige, blinde und sehbehinderte Menschen Schonräume, in denen sie sich nicht erklären müssen, in denen Ängste und Probleme untereinander besprochen werden können. Hier setzt die Arbeit der dafür speziell geschulten Seelsorgerinnen und Seelsorger aus den Fachdiensten an. Es bleibt auch weiterhin nötig, dass in der Zielgruppenseelsorge Spezialisten ansprechbar bleiben. Zugleich ist dies auch der Bereich der Selbsthilfearbeit, bei dem sich Betroffene untereinander beraten und helfen.

Es ist nicht einfach, die Balance zwischen Zielgruppengemeinden und Parochie immer wieder zu finden. Hier darf es nicht zu Bevorzugungen oder Verteilungskämpfen kommen. Insbesondere ist auf die angemessene seelsorgliche Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Krankheit zu achten. Für die Seelsorge bedeutet es, dass sie besonders nicht sichtbare Phänomene (wie z. B. psychische Erkrankungen) sowie negative, diskriminierende Zuschreibungen und Verletzungen wahrnimmt. Seelsorgerinnen und Seelsorger sollten aufsuchend und nachgehend agieren. Die für die Kommunikation notwendigen Dolmetscherkosten müssen in den Haushalten vorgesehen werden.

Segen

In den Sakramenten und Kasualien geht es um das Segenshandeln Gottes für alle Menschen. Die Lebenssituation wird in Freud und Leid vor Gott gebracht und es wird um seinen Beistand, um seinen Segen gebeten. Die Geburt eines Kindes, der Übergang von der Kindheit zum Jugendalter, das gegenseitige Eheversprechen oder der Abschied von einem Menschen — die Kasualien haben zum Ziel, Gottes Heilshandeln, das vorbehaltlos allen Menschen gilt, mit dieser individuellen Lebenssituation zu versprechen.

In den Gottesdiensten und im begleitenden Gespräch kommt die individuelle Lebenssituation der Menschen in den Blick und wird von der Pfarrerin oder dem Pfarrer und der Gemeinde wahrgenommen und in liturgischer Feier gemeinsam gestaltet. Schon im Gespräch besteht die Gelegenheit, auch seelsorgliche Aspekte aufzugreifen, in Worte zu fassen und in Kontakt mit der biblischen Botschaft zu bringen. Segnen — auf lateinisch »benedicere« — heißt »Gut-Sagen«, also: das »Ja-Sagen« Gottes zum Menschen, unabhängig davon, was sich in seinem Leben ereignet. Das erleben viele Menschen als großen Zuspruch und als Stärkung, besonders in den Brüchen und Übergängen des Lebens. Kasualien betreffen alle Menschen. Die Chance, Menschen mit einer Behinderung und ihren Familien in ihrer aktuellen Lebenssituation gerecht zu werden mit ihren Freuden, Sorgen, Ängsten, Fragen und ihrer Zuversicht, das ist eine gute Möglichkeit, die ganz persönliche Zuwendung Gottes zu vermitteln.

Taufe

In der Taufe nimmt Gott den Menschen bedingungslos an. Sie ist ein »göttliches Wortzeichen« dafür, dass der oder die Getaufte mit Christus verbunden ist. Dieses neue Leben im Glauben lässt sich nicht an Äußerlichkeiten festmachen. Die Handauflegung versinnlicht, dass Gott den Menschen als sein Kind aufnimmt und ihn nichts und niemand von Gottes Liebe trennen kann. Dies gilt für alle Menschen.

Gottes Schöpfung ist von großer Lebendigkeit und Vielfalt geprägt, an der wir Menschen teilhaben, in die wir verwoben sind mit unserer Einzigartigkeit. Jede und jeder ist ein Teil der gewollten Vielfalt. Dieses Aufgehoben- und Verbundensein kann in der Taufe gefeiert werden.

Bei der Taufe eines Kindes oder eines Erwachsenen mit Behinderungen gilt es, Besonderheiten wahrzunehmen. Dabei wird es nicht das Formular für die Taufe eines Kindes oder Erwachsenen mit Behinderungen geben. Manchmal ist es eher die sensible, gemeinsame Suchbewegung, wie Gottes Ja im Leben aussieht. Manchmal ist es eher der kräftige Zuspruch des Segens. Von schnellen Bewertungen und Deutungen der Lebenssituation sollte auf jeden Fall Abstand genommen werden. In jedem Fall sollten die Themen Geburt, Krankheit und Behinderung im Taufgespräch sowie die Deutungen der Betroffenen Raum bekommen. Seelsorgerinnen und Seelsorger können nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass die Eltern dies von sich aus tun. Darum ist es gut, wenn die Gefährdung und Unverfügbarkeit des neugeborenen Lebens im Taufgespräch besprochen und in der Taufansprache bzw. -liturgie einfühlsam aufgenommen werden.

Das Ja Gottes in der Taufe gilt dem ganzen Menschen und schließt auch seine Behinderung ein. Die Behinderung wird in der Taufe weder als besondere Gabe »heilig«-gesprochen noch als unwillkommen abgewertet. Eine Behinderung als Gabe oder Aufgabe kann bestenfalls von dem betreffenden Menschen selbst so gedeutet werden. Je nach Situation kann auch Sorge und Angst vor der Aufgabe, mit einem Kind mit Behinderungen zu leben, vor Gott gebracht werden, vor allem wenn eine Behinderung durch traumatische Ereignisse eingetreten ist. In der Taufliturgie kann die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und die Unterstützung der Gemeinde in besonderer Weise entfaltet werden.

Trauung

Menschen verlieben sich und finden Partner, mit denen sie verbindlich zusammenleben möchten. Das gilt ebenso für Menschen mit geistiger Behinderung. Auch sie haben den Wunsch, zu heiraten und eine kirchliche Trauung zu feiern. Die Kirche wird sich diesem Wunsch nicht entziehen und je nach Situation eine Segensfeier eines Paares oder einer Freundschaft oder eine kirchliche Trauung anbieten.

Bei Menschen mit einer geistigen Behinderung werden in begleitenden Beratungsstellen oft Gespräche oder PartnerSeminare angeboten, um dem Liebespaar die Konsequenzen zu erläutern, die mit einer Eheschließung verbunden sind.

Die Tragweite der Verantwortung, die rechtlich mit der Eheschließung verbunden ist, wird deutlich gemacht: z. B. gegenseitige Versorgungsansprüche und gemeinsame Anrechnung der jeweils zu beziehenden Assistenzleistungen. Nicht selten kommen Liebespaare dann zu dem Schluss, dass sie nicht heiraten, wohl aber ein fröhliches, schönes Fest feiern und Gott um seinen Segen für den gemeinsamen Lebensweg bitten möchten.

Trauerfeiern

Über lange Zeit hat man Menschen mit geistiger Behinderung nicht an Trauerfeiern von Angehörigen teilnehmen lassen und ihnen somit das Recht auf Trauer abgesprochen. Inzwischen nehmen viele Predigtsammlungen Ansprachen auf, in denen ein Mensch mit Behinderungen verabschiedet wird. Aber auch als Menschen, die von Abschied und Trauer betroffen sind, sollten Menschen mit einer Behinderung in ihren individuellen Bedürfnissen wahrgenommen werden. Es gibt wie bei allen Menschen Phasen der Trauer und den ganz eigenen Weg, Abschied zu nehmen. Trauer braucht Begleitung. Menschen mit einer Behinderung benötigen angemessene Angebote, ihre Trauer auszudrücken und mitzuteilen. Trauer braucht Raum und Rituale. In der Trauerarbeit mit Menschen mit Behinderungen können passende Gesten und Symbolhandlungen aufgespürt werden, die über das rein verbale Benennen hinausgehen.

Umgang mit Trauer

Einem Mann mit einer geistigen Behinderung wurde von seiner Umgebung, Familie und Mitarbeiterinnen der Wohngruppe nicht zugetraut, mit dem Tod umzugehen. Daher verschwieg man ihm, dass sein Bruder verstorben war. Es war nun aber für diesen Mann umso unverständlicher und schmerzhafter, warum sein geliebter Bruder nicht mehr zu Besuch kam.

Als man ihm endlich vom Tod des Bruders berichtete, war der erste Wunsch dieses Mannes, den verlorenen Trauerprozess nachzuholen, indem er das Grab seines Bruders besuchte. Er benötigte neben der Gesprächsbegleitung ein Foto seines Bruders, um es täglich zu sehen und um ihn trauern zu können. Auch der Gottesdienstbesuch hatte für ihn wieder eine neue Bedeutung.

Der Mann wurde entgegen vielen Befürchtungen in seinem Umfeld nicht verhaltensauffälliger, sondern ruhiger; er war dankbar, um seinen Bruder trauern zu können, denn sein Bruder war ihm in seinem bisherigen Leben sehr wichtig gewesen. Er brauchte nun Zeit, um auch ohne seinen Bruder wieder zurechtzukommen und das Leben wieder neu zu finden [58].

5.4 Konfirmandenarbeit

Die Konfirmandenarbeit ist ein Angebot für alle Kinder und Jugendlichen einer Altersgruppe in der Kirchengemeinde unabhängig von Schulart, Herkunft und Geschlecht im achten und mancherorts auch im dritten Schuljahr (KU 3). Für die Kasualie Konfirmation gilt seit ihrer Einführung das Parochialprinzip. Dies bedeutet, dass Kinder und Jugendliche in aller Regel den kirchlichen Unterricht in ihrer Heimatgemeinde besuchen und auch dort ihre Konfirmation feiern. In diakonischen Einrichtungen und auf Kirchenkreisebene wurden schon früh gesonderte Gruppen eingeführt, um Jugendliche mit Behinderungen nicht von der Konfirmation auszuschließen. Als die Kirche für Jugendliche mit Behinderungen in den 1970er Jahren eine gesonderte Konfirmandenarbeit an unterschiedlichen Förderschulen einführte, wurde der parochiale Grundsatz zunehmend aufgeweicht. Mit diesen Angeboten wurden gesonderte Bildungsstrukturen geschaffen, die sich kritiklos am segregierenden öffentlichen Schulwesen orientierten. Nun steht die Konfirmandenarbeit vor der Herausforderung, das Recht auf Konfirmation in der Heimatgemeinde ausnahmslos allen Jugendlichen zu ermöglichen und Sonderkonfirmationen schrittweise abzuschaffen. Dafür die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, ist Aufgabe der Gemeinden. Die Landeskirchen sollten dazu entsprechende Richtlinien erlassen und mit ihren pädagogischen Instituten Fortbildungen anbieten. In vielen Landeskirchen ist dies bereits geschehen.

Die Konfirmandenarbeit hat sich verändert. Früher war sie zentral auf Wissensvermittlung und Memorieren ausgerichtet. Heute versteht sie sich als ganzheitliches Bildungsangebot für Jugendliche in der Gemeinde. Dabei wird Bildung als Persönlichkeitsbildung im Horizont des Evangeliums von Jesus Christus verstanden. Die konzeptionellen und didaktischen Veränderungen erleichtern die inklusive Arbeit. Es geht darum, die Menschenfreundlichkeit Gottes zu leben und erlebbar zu machen. Eine inklusive Konfirmandenarbeit möchte jungen Menschen die Erfahrung ermöglichen, in ihrer Unterschiedlichkeit wertgeschätzt, geliebt und gehalten zu sein. Sie fördert ihre Fähigkeiten, Unterschiede auszuhalten, menschliche Vielfalt als gleichwertig anzuerkennen und das Leben als Gemeinschaft zu gestalten. Durch Begegnungen über Schul-, Milieu- und Sozialgrenzen hinweg ist die Konfirmandenarbeit eine besonders gute Möglichkeit, Inklusion zu erlernen und zu erleben.

In der inklusiven Konfirmandenarbeit ist es nötig, die Angebote zu differenzieren und unterschiedliche Zugänge für alle Sinne anzubieten. Jede Konfirmandin und jeder Konfirmand sollte mit den besonderen Bedürfnissen und Begabungen individuell wahrgenommen werden. Das ist für einen Pfarrer oder eine Pfarrerin allein nicht einfach. Inklusive Konfirmandenarbeit braucht ein Team, wenn möglich mit inklusions-, sonder- oder sozialpädagogischen Kompetenzen, sowie ein unterstützendes Netzwerk, z. B. aus Fachberaterinnen und -beratern oder betroffenen Eltern als Experten ihrer Kinder. Eine inklusionspädagogische Fortbildung der Haupt- und Ehrenamtlichen und eine angemessene Raum- und Materialausstattung ist zu gewährleisten. Einzelne Landeskirchen haben schon erkannt, dass der Umbau zur inklusiven Konfirmandenarbeit nicht zum Null-Tarif zu bekommen ist, und haben einen Unterstützungsfonds eingerichtet.

Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen haben nicht selten verletzende und ausgrenzende Erfahrungen gemacht, auch im Raum der Kirche. Nicht zuletzt darum ist es wichtig, in der Kirchengemeinde eine aufrichtige, einladende und aufsuchende Haltung zu leben und die Konfirmandenarbeit in eine inklusive Gemeindekultur einzubetten, eine Kultur der Gemeinschaft, in die sich alle aktiv einbringen können, auch Jugendliche mit besonderen Lebensbedingungen und Begabungen.

Inklusive Konfirmandenarbeit: Alle können gewinnen!

Es gibt keine Garantie, dass es gelingt. Doch die Erfahrungen derer, die es versuchen und praktizieren, sind ermutigend. Ein Pfarrer stellt zufrieden fest: »>Vor Gott sind alle gleich< wird endlich konkret.« Und eine Pfarrerin schwärmt von einer »gelebten Gleichwürdigkeit mit Ausstrahlung«. Glaubwürdiger ist es für die Gemeinde allemal. Denn was Paulus als »Leib Christi« beschreibt, bekommt nun eine Gestalt. Auch die betroffene Mutter, die erwartet, »dass ein behindertes Kind, das zur Gemeinde gehört, ganz selbstverständlich auch zum Konfirmandenunterricht gehört«, ist erleichtert.

Leicht ist es dennoch nicht: Für Friederike war es zuerst nicht selbstverständlich, dabei sein zu können. Doch alle wollten es, sodass ihre mehrfachen Bedürfnisse nach Begleitung, kleiner Gruppe und Assistenz nicht zum Hinderungsgrund, sondern zur Bereicherung wurde. Das zeigen die O-Töne der Konfirmandinnen und Konfirmanden: »Es war lustig, abwechslungsreich und interessant«; »Ich finde den Unterricht mit Friederike interessanter als normalen Konfirmandenunterricht«; »Es war eine ganz neue, andere und auch interessante Erfahrung für mich. Ich fand es toll, wie Fredi mitgemacht und ihre Meinung geäußert hat. Auch ohne Worte. Besonders fand ich die Momente schön, als wir uns einfach in eine andere Welt entführen ließen.« Auch Friederike äußerte ihre Meinung, körpersprachlich, versteht sich. Ihre Mutter meinte: »Wir hatten den Eindruck, dass es Friederike auch sehr gut gefallen hat ... Die ganze Festgemeinde war von der Feier berührt ... Für uns war es eine gute Lösung.« Und für die Konfirmierten entstanden Kontakte, die über die gemeinsame Zeit nachhaltig hinausgingen.

5.5 Kinder- und Jugendarbeit

Evangelische Kinder- und Jugendarbeit ist ein bedeutsamer Ort für vielfältige Bildungsprozesse. Junge Menschen lernen, Vertrauen ins Dasein zu gewinnen, ihre Gaben zu erproben, Krisen zu bewältigen sowie die Welt, in der sie leben, und ihre Kirche verantwortlich zu gestalten. Im Blick auf ein inklusives Gestaltungsprinzip gilt es, diese Bildungschance für möglichst alle Kinder und Jugendlichen zu eröffnen.

Bildung von Kindern und Jugendlichen geschieht nicht nur im Kontext von Schule: Bildung umfasst kulturelle, personelle und soziale Kompetenzen und bezieht sehr unterschiedliche Lernwelten und Bildungsorte ein.

Ziel evangelischer Kinder- und Jugendarbeit ist es, offen für alle jungen Menschen zu sein. Allerdings stößt diese prinzipielle Offenheit vor Ort oft an Grenzen. Zu ausdifferenziert und unterschiedlich sind die Lebenslagen und Milieus, Bedürfnisse und Sozialräume von jungen Menschen. In dieser Situation bietet die evangelische Kinder- und Jugendarbeit eine große Vielfalt von Arbeitsformen, Methoden und Inhalten, mit denen sie in der Breite sehr verschiedene Kinder und Jugendliche erreicht. In der damit verbundenen Zielgruppenorientierung liegt allerdings gerade das Problem. Die milieuspezifischen Abgrenzungen und das Phänomen der Peer-Beziehungen stehen manchmal in Spannung zum pädagogischen Anspruch der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit, Vielfalt in Gemeinschaft wertzuschätzen und Teilhabe für alle zu ermöglichen.

Eine Jugendfreizeit mit Folgen

David möchte sich an einer langen Fahrradreise zu einem Partnerschaftsprojekt der Kirchengemeinde beteiligen, für das Spenden eingeworben werden sollen. David hat eine geistige Beeinträchtigung. Die Jugendgruppe diskutiert intensiv, ob sie sich zutraut, die Reise gemeinsam zu bewältigen. Die Jugendleiterin ermutigt die Gruppe in dem Vorhaben, David teilnehmen zu lassen. Während der Reise lernen die Jugendlichen seine große Hilfsbereitschaft kennen und staunen über Davids Kondition. Sie akzeptieren sein zeitweiliges Bedürfnis nach Nähe und schützen ihn im Verkehr. Nach der Reise wird David ins Leitungsteam des offenen Jugendzentrums gewählt.

Inklusion kann nicht verordnet werden, sie muss von Kindern und Jugendlichen erfahren werden. Denn es geht um die Veränderung von Haltungen. Der Anspruch eines inklusiven Gestaltungsprinzips, welches sich durch alle Ebenen und Formen der Arbeit zieht, ist damit für die evangelische Kinder- und Jugendarbeit eine besondere Herausforderung. Nachdem in den letzten Jahren im Rahmen der Debatte um Diversity-Konzepte gezielte Projekte und Handlungsschritte mit Blick auf die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen aus Armutslagen sowie jungen Menschen mit Migrationshintergrund entstanden sind [59], erfordert die Zielrichtung einer inklusiven Kinder- und Jugendarbeit ein neues Überdenken der Angebotsstrukturen.

Evangelische Kinder- und Jugendarbeit

In der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit sind verschiedene erste inklusive Ansätze zu erkennen. Bereits 2003 hat die Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland e.V (aej) eine Positionierung mit dem Titel »Auf dem Weg zu unbehinderter Gemeinsamkeit« verabschiedet [60]. Darin wird betont, dass die »Partizipation von jungen Menschen mit und ohne Behinderung an Angeboten der Evangelischen Jugend [sich] für alle als Lernprozess und Erfahrungsfeld [lohnt]«. Auch werden Voraussetzungen für eine inklusive Kinder- und Jugendarbeit formuliert, z. B. die Überprüfung der Barrierefreiheit von Maßnahmen, von Räumlichkeiten und Ausschreibungen, die Ergänzung des Fortbildungsangebotes oder die Neuausrichtung methodischdidaktischer Gestaltungen. Innerhalb der aej findet sich auch das »Forum inklusiver Evangelischer Jugendarbeit in Deutschland«. Diese offene Fachgruppe hat eine Arbeitshilfe herausgegeben, in der sich zahlreiche Beispiele für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen vor Ort finden [61]. Die Evangelische Jugend im Rheinland (ejir) hat sich 2009 mit Beschluss ihrer Delegiertenkonferenz »Thesen und Forderungen zur Förderung der inklusiven evangelischen Jugendarbeit« zu eigen gemacht. Sie verpflichtet sich, ihre Aktivitäten in Gemeinden, Kirchenkreisen und Verbänden inklusiv zu konzipieren. Dazu werden elf konkrete Handlungsmaximen ausgegeben, z. B. »Inklusionsorientierte Ausschreibungen«, »Barrierefreiheit« bei der Buchung von Häusern, eine angepasste Kalkulation von Veranstaltungen oder die »Partizipation junger Menschen mit Behinderungen«. Weiterhin wird festgehalten, dass Mitarbeitende für die »Anforderungen inklusiver Kinder- und Jugendarbeit geschult werden sollen«, ein »Pool von BeraterInnen und UnterstützerInnen inklusiver Arbeit« entstehen und gute Beispiele ausgezeichnet werden sollen [62]. Eine Arbeitshilfe für die Ausbildung Ehrenamtlicher »Juleica inklusiv« ist erstellt worden [63].

Zur inklusiven Weiterentwicklung der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit ist eine inklusive Haltung aller Träger- und Handlungsebenen nötig. Diese lässt sich nicht verordnen, sondern braucht Zeit und Ressourcen. Die bereits existierenden Inklusionsindizes (Montagsstiftung, Booth u. a.) bieten Fragen zur Reflexion der bisherigen Arbeit und Ansatzpunkte zur Veränderung. Um die Kenntnisse der inklusiven Pädagogik und der politischen und rechtlichen Fragen der Inklusion zu verbessern, sind entsprechende Module in die Aus- und Fortbildung von beruflichen Fachkräften in der Kinder- und Jugendarbeit aufzunehmen. Ähnlich sollte auch in der Aus- und Fortbildung ehrenamtlich Mitarbeitender verfahren werden.

Die Verbesserung der Selbstbestimmungs- und Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen ist eine zentrale Aufgabe. Sie sind Experten und Expertinnen in eigener Sache. Dabei können auch neue Zusammenarbeitsformen mit Schulen und Trägern der Behindertenhilfe praktiziert werden. Wie auch sonst in der Gemeindearbeit ist eine enge Kooperation von Kirche und Diakonie in der Abstimmung der Unterstützungssysteme notwendig.

5.6 Theologische Ausbildung

Das Thema Inklusion wurde in aktuellen theologischen Veröffentlichungen schon auf verschiedene Weise bearbeitet (vgl. auch Kap. 2). Es ist aber noch nicht in den Kern der Theologie und in alle Teildisziplinen vorgedrungen. In der theologischen Beschäftigung mit Pluralität erhalten die Vielfalt der Religionen und Konfessionen sowie der Unterschied der Geschlechter eine hohe Aufmerksamkeit. Die Vielfalt von Menschen, die von der Gesellschaft als »nicht normal« empfunden werden, wird auch von der theologischen Anthropologie häufig übersehen oder als Sonderthema an den Rand gedrängt. Die Inklusion aller Menschen ist in der Theologie noch kein Querschnittsthema. Es ist bislang ein Thema von Randgruppen, das von Spezialistinnen und Spezialisten stellvertretend behandelt wird. Noch besteht die Tradition, die theologische Beschäftigung mit den Teilhabechancen von marginalisierten Personengruppen den Diakoniewissenschaften zu überlassen. Dies führt dazu, dass Menschen mit Besonderheiten in der theologischen Reflexion des christlichen Menschenbildes unberücksichtigt bleiben und sie sich in ihm nicht wiederfinden können. Der von Behinderung betroffene Theologe Ulrich Bach kritisierte diese gedankliche Abspaltung, die er in unterschiedlichen theologischen Teildisziplinen entdecken konnte, als ein »Apartheidsdenken«. Mit seiner Kritik trifft er den Kern der Theologie. Die Delegation des Themas Inklusion an die Diakonie- und Sozialwissenschaften führt zu einem ausgrenzenden Ungleichgewicht im wissenschaftlichen Umgang mit bestimmten Personengruppen. Auf diese Weise wird die Tendenz bestärkt, Menschen mit besonderen Bedürfnissen überwiegend als Objekte des Helfens anstatt als gestaltende Subjekte von Kirche, Gesellschaft und Theologie zu betrachten. Um diese Spaltungen zu überwinden, müssten die Menschen in ihrer gleichberechtigten Vielfalt deutlicher wahrgenommen und die Stimmen von Theologinnen und Theologen mit Behinderungen im Diskurs der theologischen Wissenschaft verstärkt gehört und gefördert werden. Im Sinne der Unteilbarkeit von Inklusion ist die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ein Thema des ganzen Lebens. Inklusion lässt sich auf keinen Wissensbereich begrenzen. Sie verlangt nach dem Dialog aller Humanwissenschaften.

Eine weitere Herausforderung liegt im Bereich der Hermeneutik. Es ist unübersehbar, dass biblische Texte nicht nur wichtige Hinweise für Inklusionsprozesse liefern. Auch die Bibel selbst enthält exkludierende Texte, die aus heutiger Perspektive einer kritischen Lektüre bedürfen. Das geoffenbarte Wort Gottes ist für den christlichen Glauben Jesus Christus selbst. Sein Werk ist der zentrale Inhalt des Evangeliums und zugleich der hermeneutische Schlüssel, der den Text der Schrift für unsere Verkündigung und kirchliche Praxis aufschließt.

Die Theologie ist in allen ihren Teildisziplinen herausgefordert, Inklusion im Lichte der biblisch-theologischen Grundlagen neu zu reflektieren und ihre theologische Arbeit auf exkludierende und diskriminierende Anteile hin zu überprüfen. Dabei sucht sie das Gespräch mit Theologinnen und Theologen, die von Behinderung betroffen sind. Interdisziplinäre Beziehungen mit der Inklusions-, Sozial- und Heil- bzw. Sonderpädagogik sowie der noch recht junge Wissenschaftsansatz der »Disability Studies« gewinnen an Bedeutung. Grundsätzlich steht die Theologie vor der Aufgabe, den Aspekt der Vielfalt von Menschen in ihre Theoriebildung und Handlungstheorie zu integrieren und die Praktische Theologie zu einer inklusionsfähigen Seelsorge, Predigtlehre, Religionspädagogik und Pastoraltheologie weiterzuentwickeln.

5.7 Berufliche und ehrenamtliche kirchliche Arbeit

Die evangelische Kirche ist ein gewichtiger Arbeitgeber, sie ist aber zuerst eine Ehrenamtsorganisation, in der jeder Christ und jede Christin sich mit den eigenen Gaben einbringen kann. Sie bietet ein großes Feld für freiwilliges Engagement in Gemeinde, Nachbarschaft und Gesellschaft. Menschen mit Behinderungen sollten auch hier nach ihren Qualifikationen und Ressourcen ihren Platz einnehmen. Dies erfordert nicht nur im Blick auf Arbeitsplätze, sondern auch im Blick auf den ehrenamtlichen Einsatz besondere Aufmerksamkeit für das Thema beim Anstellungsträger, im Kreis der Kolleginnen und Kollegen und bei Ehrenamtskoordinatoren, wenn Zweifel an der Leistungsfähigkeit eines Menschen mit Behinderungen bestehen.

Nicht Unversehrtheit ist die Grundvoraussetzung für ein Amt oder die Übernahme einer ehrenamtlichen Aufgabe, sondern geeignete Fähigkeiten und Qualifikationen. Der Grad der Behinderung kann dabei nicht ausschlaggebend sein. Es ist vielmehr dafür zu sorgen, dass die Aufgaben den individuellen Fähigkeiten entsprechend im Team bzw. Distrikt flexibel verteilt werden. Auch die Übernahme in ein Pfarramt muss für Theologinnen und Theologen mit Behinderungen möglich sein.

Konvent von behinderten Seelsorgerinnen und Behindertenseelsorgerinnen e. V

Theologinnen und Theologen mit Behinderungen machen auch in der Kirche oft die Erfahrung, dass sie zusätzlich zu den bestehenden Beeinträchtigungen in ihrem beruflichen Werdegang behindert werden. Daher gründete sich ein Verein, um die Emanzipation der behinderten Pfarrerinnen und Pfarrer zu fördern. Auch sie wollen als Geistliche in der Kirche wirken. Dabei sehen sie sich mit ihren besonderen Erfahrungen als einen Schatz der Kirche.

Ein Ziel des Vereins ist, dass im Verständnis des Pfarramts nicht der Mensch dem Amt, sondern das Amt dem Menschen angepasst werden soll. Menschen mit Behinderungen müssen den gleichen Anspruch auf Übernahme ins Pfarramt erhalten wie nicht-behinderte Menschen. Allein die Qualifikation soll entscheiden, nicht der Grad der Behinderung. Für Menschen mit Behinderungen soll der Pfarrdienst so konstruiert werden, dass er auch mit der jeweiligen Behinderung ausgefüllt werden kann. Die besonderen Lebensumstände müssen bei der Konstruktion des Arbeitsplatzes berücksichtigt werden. Zurzeit werden behinderte Pfarrerinnen und Pfarrer meist im privatrechtlichen Dienstverhältnis beschäftigt. Regelungen des öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses sind mit den Behinderungen oft nicht vereinbar [64].

Dies erfordert nicht zuletzt ein Umdenken in den Gemeinden. Sie müssen Verständnis dafür entwickeln, dass es normal ist, verschiedene Lebensbedingungen zu haben. Gemeinden und deren Leitungsgremien sollten sich nicht scheuen, auch Pfarrerinnen und Pfarrer mit Behinderungen zu wählen, Mitarbeitende mit Assistenzbedarf einzustellen oder Ehrenamtliche mit Behinderungen zu akzeptieren, die mit ihren besonderen Erfahrungen die kirchliche Arbeit bereichern können.

In diesem Rahmen besteht die Aufgabe, das Kirchenrecht auf die Behindertenfreundlichkeit hin zu überprüfen und Diskriminierungen zu unterbinden. In die Studienordnungen der Studiengänge Religionspädagogik, Gemeindepädagogik, Soziale Arbeit und Theologie müssen praxisrelevante Grundlagen der Inklusions- und Heilpädagogik aufgenommen werden, sodass Grundkompetenzen für inklusive Arbeit erworben werden. Die Pädagogischen Institute der Landeskirchen entwickeln bereits entsprechende Materialien. Darüber hinaus sorgen inklusionsorientierte Fort- und Weiterbildungsangebote dafür, dass sich beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitende in allen diakonischen und kirchlichen Arbeitsfeldern nachqualifizieren können. Für die zentralen Praxisfelder sollten zertifizierte Zusatzqualifikationen angeboten werden (z. B. zur Inklusionsassistenz im Elementarbereich).

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