Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum, Gesellschaft und Kirche
Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2010, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05912-9
II. Neu werden können – Perspektiven aus Theologie und Verkündigung
Die Herausforderung
Die Erfahrung der heute Älteren, dass sie »mehr Zeit zu leben« haben, hat den theologischen Diskurs über das Alter und die entsprechende geistliche Praxis belebt. In den letzten Jahren sind viele neue Publikationen zu geistlichen Fragen des Alters erschienen. Der Schwerpunkt in diesen Texten liegt meist auf einer Neubelebung des klassischen Altersdiskurses: Die Älteren sind spirituell besonders ansprechbar, weil sie ihre Endlichkeit stärker erfahren als Jüngere. Dadurch können sie ihr Leben als zum Tode hinfließend und in der Ewigkeit Gottes geborgen erfahren.
Ohne Zweifel hat diese Sicht auf das Alter große Bedeutung und sie wird auch weiterhin große Plausibilität behalten. Doch kann diese vom Ende des Lebens her bestimmte Deutung des Alters der heutigen Erfahrung eines langen Lebens – was heißt: eines deutlich späteren Eintritts des Todes – nicht mehr voll gerecht werden. Wenn viele Menschen nach dem Übergang in den Ruhestand bei guter Gesundheit und Leistungsfähigkeit noch viele Jahre vor sich haben, ist damit zu rechnen, dass sich ihre Bedürfnisse – auch ihre religiösen – verändern und sie sich stärker am Leben orientieren. Sicherlich wird das Bewusstsein der eigenen Begrenztheit und Endlichkeit in diesem Lebensabschnitt bestehen bleiben, doch die meisten suchen stärker als früher danach, wie sie die neuen Möglichkeiten sinnvoll nutzen können und etwas Neues beginnen können – für sich selbst und für andere. Sie möchten in ihren Potenzialen – und nicht nur in ihren Grenzen – angesprochen werden und sich entsprechend engagieren. Sie suchen nach Möglichkeiten, die verschiedenen Seiten ihrer Persönlichkeit in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Dabei wird deutlich, dass die Stärken des Alters (wie auch jeder anderen Lebensphase) nicht allein in nach außen gerichteter Aktivität – wie zum Beispiel im Engagement für andere –, sondern auch in nach innen gerichteter Aktivität – der Weiterentwicklung der Persönlichkeit vor dem Hintergrund der in der Biographie gewonnenen Erfahrungen – liegen. Dieses Gleichgewicht kann eine veränderte Einstellung zur Spiritualität wie auch eine neue Form und Intensität spiritueller Praxis einschließen. Deswegen kommt – wie das alte Muster vom Ruhestand – auch das Muster der betreuenden oder unterhaltenden Altenarbeit an seine Grenzen. Viele dieser Menschen sind für die Kirche ansprechbar – aber nicht mehr auf den alten Wegen. Was bedeutet dies für ein theologisches Bedenken des Alters heute?
Altersbilder
Kirchen sind gewissermaßen Experten in Bilderfragen: Die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist ein zentraler Begriff der biblischen und der christlichen Anthropologie. Und was für Gott gilt, gilt auch für den Menschen: »Du sollst dir kein Bildnis machen«. Von den Kirchen ist deshalb eine grundsätzlich kritische Grundhaltung gegenüber allzu stark festlegenden Bildern im gesellschaftlichen Diskurs zu erwarten. Dies gilt gerade für die Bilder vom älteren Menschen: Es sollte stets darum gehen, Älteren off en zu begegnen und die Begegnung nicht durch Stereotype zu verfremden. Andererseits sind Bilder und Geschichten zur Deutung wichtiger Erfahrungen und zur Verständigung über eine anzustrebende Praxis ein nicht zu ersetzendes Mittel – gerade in der Verkündigung der Kirche.
Auch über das Alter wird in Bildern gesprochen. So heißt es: »Graue Haare sind eine Krone der Ehre« (Sprüche 16,31), um die Achtung vor dem Alter auszudrücken und die Stellung der alten Menschen in einer patriarchalen Gesellschaft hervorzuheben. Andere Bilder werden gewählt, wenn es um den Glauben im Alter geht: Menschen, die sich auf Gott beziehen, werden verglichen mit Bäumen, mit Palmen und Zedern: »Und wenn sie auch alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein« (Psalm 92,15). Dies sind erstaunlich dynamische Bilder. Altsein bedeutet hier lebendig zu sein, teilzuhaben am Werden und Vergehen. In aller Veränderung und allem Verlust entsteht auch Neues, wird ein neuer Anfang möglich und bleibt Hoffnung erhalten. Tod und Leben sind ineinander verschlungen. Das Leben ist ein Prozess des Werdens bis an Ende.
Wie stark solche Bilder bis in unsere Zeit wirken, zeigt ein Gedicht des 90-jährigen Norbert Elias.
Abklang
Ein wenig stirbt man Tag für Tag und faßt es nicht
wie etwas weitergeht und ist vorbei
und wie ein Tag verrinnt in seine Nacht
und aufersteht ein fremdes Einerlei
und schwer erträglich ist wie Stunden fallen
im Puls der Stille kommen und vergehen
und wie Geburt und Tod ist Gegenwart
und ganz alltäglich Schritte die verhallen
indessen innen noch Knospen stehn und Neues harrt.(Norbert Elias)
Provozierend ist nach wie vor, wie Martin Luther die mittelalterliche Antiphon von der Todesbezogenheit des Menschen vom Kopf auf die Füße stellte: »Mitten im Leben (sind wir) im Tod. Kehr’s um: Mitten im Tod sind wir im Leben« (WA 11,140 ff .). Diese Perspektive des Glaubens eröffnet einen völlig neuen Blick und lässt das Ende als Anfang, den Tod als Geburt erscheinen. Maßgeblich ist geistlich nicht die Zahl der Lebensjahre; entscheidend ist, ob es möglich bleibt, Neues zu beginnen – ja neu zu werden. Es ist gerade nicht der Tod, der das Leben – auch nicht das ältere Leben – beherrscht, sondern die Kraft der Auferstehung – des paradigmatischen Anfangs Gottes mit den Menschen überhaupt. So rückt das Alter in ein neues, hoffnungsvolles Licht.
Das Leben ist nicht ein Frommsein,
sondern ein Frommwerden,
nicht ein Gesundsein,
sondern ein Gesundwerden,
überhaupt nicht ein Wesen,
sondern ein Werden,
nicht eine Ruhe,
sondern eine Übung.
Wir sind’s noch nicht,
wir werden’s aber.
Es ist noch nicht getan und geschehen,
es ist aber im Schwang.
Es ist nicht das Ende,
es ist aber der Weg.(Martin Luther)
Diese geistliche Perspektive des »Neu Werdens« auch im Alter ist zugunsten einer alles bestimmenden Ausrichtung am Ende des Lebens in den Vordergrund zu rücken. Daraus sind Konsequenzen für die Praxis der Kirche abzuleiten. Entscheidend ist in dieser Sichtweise, die Potenziale der Älteren als ihnen von Gott gegebene Gaben, als Talente, wahrzunehmen, wertzuschätzen und in der Gesellschaft mehr als bisher zum Tragen kommen zu lassen.
Freiheit und Verantwortung in jedem Lebensalter
Menschen sind ihr ganzes Leben lang frei und angewiesen zugleich. Vor Gott sind alle Altersstufen wertvoll und auf freie Reziprozität hin geschaffen. Schöpfung im ursprünglichen biblischen Sinn ist ein permanenter Vorgang, in der der Mensch als Geschöpf in klarer Unterscheidung von seinem Schöpfer mit der Möglichkeit freier Aktivität ausgestattet wird. In ihr verbindet sich die anfangende und hervorbringende Aktivität Gottes mit den Eigenaktivitäten des Geschöpfs: Das Geschöpf benennt die Dinge, eignet sie sich an, nimmt sie in seinen Verantwortungsbereich hinein, bebaut und bewahrt sie. Schöpfung ist damit ein auf Freiheit angelegter Vorgang, und zwar für alle Menschen unabhängig davon, ob diese alt oder jung sind. Weil sie eine von Gott dem Leben mitgegebene Gabe ist, trägt sie von Anfang an relationalen Charakter in der Angewiesenheit auf andere und in der Angewiesenheit auf Gott.
Die schöpfungsgemäße Freiheit gewinnt darin Gestalt, wie der Mensch die Beziehung zu seinen Mitgeschöpfen und zu Gott mit Leben füllt. Freiheit verwirklicht sich nach christlichem Verständnis in der Gemeinschaft derer, die einander in vorbehaltloser Anerkennung und im Wohlwollen begegnen. Dabei gibt es keine herausgehobenen lebenszyklischen Phasen oder Lebenssituationen, in denen sich einzelne Menschen in ihrer Freiheit von der Angewiesenheit auf andere dispensieren könnten. Lediglich die Formen, in denen sich diese Angewiesenheit ausdrückt, können unterschiedlich sein.
Mithin wird im christlichen Verständnis vom Menschen ein positives Verständnis von Abhängigkeit und Angewiesenheit entwickelt, das sich symbolisch in besonderer Weise in der im Glauben akzeptierten Abhängigkeit von Gott verdichtet. Auf ihn sind Menschen schlechthin angewiesen, und zwar vollkommen unabhängig vom Lebensalter, und von ihm werden sie auch, ebenfalls unabhängig vom Lebensalter, gesegnet, gesendet und zur Tätigkeit bevollmächtigt. Sich diesen Aufträgen Gottes zu entziehen, wäre – wiederum unabhängig vom spezifischen Lebensalter – als Verfehlung der menschlichen Bestimmung zu verstehen. Die Segnung greift gleichermaßen wie das Einfordern von Verantwortung.
Dies bedeutet auch, dass sich die Befähigung – ja die Berufung – des Menschen zur Tätigkeit nicht auf die Zeit der rechtlich geregelten Berufstätigkeit begrenzen lässt.
Tätig sein zu können heißt, an der dauernden Umgestaltung seiner Schöpfung durch den Schöpfer teilhaftig zu werden, heißt, gewürdigt zu sein, etwas zu bewirken, heißt, sich selbst einzubringen. Es ist wunderbar, wenn sich die Befähigung heute bis ins hohe Alter hinein erstrecken und als Quelle der Kraft und des Glücks erlebt werden kann.
Autonomie und Angewiesenheit
Christliches Verständnis geht davon aus, dass in allen Altersphasen – und keineswegs nur in der Kindheit und im hohen Alter – den Menschen lediglich eine begrenzte Autonomie möglich ist. Entscheidend ist, dass diese Grunderfahrung positiv begriff en und nicht als defizitär angesehen wird. Menschliche Freiheit beruht darin, die Abhängigkeiten, zuallererst die Beziehungen, in denen wir leben, zu gestalten. Um es pointiert auszudrücken: »Wir sind in das Glück der anderen hineingeboren.«
Die Betonung dieser Grundbestimmung läuft dem vermeintlichen Selbstverständnis des modernen Menschen als eines autonomen, sich selbst erschaff enden und auf sich selbst gestellten Menschen entgegen. Immer, wenn Menschen meinen, sie könnten sich aus der Angewiesenheit auf andere und der Abhängigkeit von anderen befreien und ihr Leben in eine völlige Selbstbestimmung überführen, verstoßen sie nach christlichem Verständnis gegen ihre eigene Bestimmung, die letztlich darin besteht, »wie ein Geschöpf unter anderen Geschöpfen« zu leben. Eben dies ist aber die reale Basis für Lebensqualität und Glück.
Entscheidend an dieser Perspektive ist, dass sie für das ganze Leben gilt, auch für die mittleren Jahre. Was sich am Anfang und am Ende des Lebens zeigt − dass Menschen in umfassender Weise auf andere angewiesen sind und andere für sie sorgen müssen –, macht die Angewiesenheit als Grundsituation des Menschen zwar besonders deutlich, gilt aber grundsätzlich für alle Lebensphasen. Menschen verfügen stets über relative Möglichkeiten, mit denen sie einen Teil ihres Lebens selbst gestalten können und zugleich zum gemeinsamen Leben beitragen. Ein absolutes Potenzial, das von der Angewiesenheit auf andere befreien, von Verantwortung entbinden und von Dankbarkeit unabhängig machen könnte, ist aus christlicher Sicht nicht gegeben.
Aus diesen Bestimmungen folgt sozialethisch der Einsatz für eine Kultur der fürsorglichen, solidarischen Kooperation, in der die Menschen aller Altersphasen – auch die älteren – stets zugleich als Gebende und als Empfangende einbezogen sind. »Wie ein Geschöpf unter Geschöpfen zu leben« heißt, fürsorglich zu leben und Verantwortung für andere zu übernehmen. Eine in diesem Sinne gerechte Gesellschaft bedarf der Bemühungen aller, eine institutionelle Grundstruktur aufrechtzuerhalten, in der die Bezogenheit der Menschen und insbesondere der Generationen aufeinander auf Dauer gesichert wird. Die erheblichen Aufwendungen zur Sicherstellung eines Lebens in voller Teilhabe bis in das hohe Alter hinein durch die jeweils im Beruf stehende Generation sind als Angeld für die eigene Fürsorge im Alter zu sehen. Aber weit mehr noch als früher gilt heute, dass die Beziehungen der Generationen keine Einbahnstraßen sind. Es gibt viele Potenziale der Älteren, die auch den Jüngeren zugute kommen. Zu nennen ist hier vor allem die Fürsorglichkeit, die sich in der Bereitstellung von emotionalen, zeitlichen und materiellen Ressourcen zeigt. Eine humane Gesellschaft erweist sich darin, dass die gegenseitige Angewiesenheit aller aufeinander nicht nur akzeptiert und hingenommen, sondern bewusst bejaht und gelebt wird.
Begrenztheit und Endlichkeit des Lebens
In der biblischen Tradition finden sich differenzierte Altersbilder, die von der Wertschätzung der Älteren (»alt und lebenssatt«), aber auch von drastischen Erfahrungen mit der Last des Alters zeugen. Einerseits haben ältere Menschen in den religiösen Traditionen des Alten Testaments einen besonderen Platz. Die großen Gründergestalten erfreuen sich vor dem Hintergrund eines ihnen zugeschriebenen langen Lebens besonderer Wertschätzung. Sie zeichnen sich aus durch die Bereitschaft, auch im Alter Neues zu beginnen (Abraham und Sarah), den Glauben weiterzugeben (Psalm 71), sich zu versöhnen (Jakob und Esau). Ein langes Leben kann in dieser Perspektive als ein reiches und von Gott gesegnetes Leben erfahren werden, wenn es auch – daran lässt die Bibel keinen Zweifel – in der Regel mit Arbeit, Sorge und Mühe gefüllt ist. Die Älteren werden in dieser Traditionslinie als für alle Menschen bedeutsam und wichtig angesehen und kaum als defizitär erlebt.
Daneben gibt es in der biblischen Tradition auch zahlreiche Texte, die eindrücklich die Mühsal des Alters beschreiben. Sie artikulieren Erfahrungen mit dem Alter und den Alten und beschreiben bisweilen sehr nüchtern, wie die Sinne und Kräfte schwächer werden (vgl. z. B. Kohelet 12,1–7).
Auch wenn heute die Altersphase lange dauert und von Vielen über Jahrzehnte in guter Gesundheit und mit erstaunlicher Leistungskraft erlebt wird, bleibt das Leben endlich. Deshalb gilt weiterhin: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden« (Psalm 90,12). Auch wenn Altern mehr ist als die Vorbereitung aufs Sterben, bleibt es wichtig, sich darauf einzustellen, dass das Leben begrenzt ist. Das Wissen um die Endlichkeit des Lebens lässt manche verzweifeln oder treibt sie dazu an, die noch verbleibende Zeit maßlos zu genießen. Der Glaube bietet eine Perspektive über die Endlichkeit hinaus und kann damit helfen, die eigene begrenzte Lebenssituation immer wieder neu anzunehmen, die geschenkte Zeit trotz der Begrenztheit dankbar zu gestalten und sein Leben stets als eines zu begreifen, das im Werden ist.
Ein langes Leben ist vielfach Grundlage für die individuelle Erfahrung, beschenkt worden zu sein. Es kann zudem Glückserlebnisse hervorrufen, da es die Möglichkeit bietet, die Entwicklung der nachfolgenden Generationen intensiv miterleben und begleiten zu können. Und doch ist auch das lange Leben im Kern immer Fragment, denn in jedem Leben finden sich Schicksalsschläge, Schuld und Versäumnisse. Es öffnen sich neue Türen, wenn unvollendetes Leben als »Fragment auf Zukunft« hin verstanden werden kann (Henning Luther). Fragmentarisches Leben bleibt dann nicht nur vergangenheitsorientiert auf Schicksalsschläge, Schuld und Versäumnisse, sondern verweist im Glauben auch nach vorne. Verkündigung, Bildung und Seelsorge können in dieser Perspektive besonders im Alter Zukunft eröffnen, eine eschatologische Lebenshaltung ermöglichen und am alltäglichen fragmentarischen Leben aufzeigen, wie das Ganze gemeint ist. Sie erschließen kleine Hoffnungen, weil sie von der großen Hoffnung wissen. Weil sich immer wieder Perspektiven eröffnen, ermutigen sie dazu, an der Hoffnung auf die große Zukunft festzuhalten. Sie weiten den Blick dafür, dass das Leben stets ein Werden ist.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.(Rainer Maria Rilke)
Die Betrachtung der Lebenszeit führt zur Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen der quantitativen und qualitativen Dimension von Zeit. Die quantitative Dimension ist definiert durch die Anzahl der Jahre, die ein Mensch gelebt hat, die qualitative Dimension hingegen durch die erlebte Dichte der Zeit, das heißt, durch Anzahl und Art subjektiv bedeutsamer Ereignisse und Erfahrungen, mit denen die individuelle Lebenszeit gefüllt war. So kann auch bei einem vergleichsweise kurzen Leben die Erfahrung dominieren, beschenkt und befähigt worden zu sein, ein erfülltes Leben zu leben – nämlich wenn die Zeit gefüllt war mit persönlich bedeutsamen Ereignissen und Erfahrungen.
Auch im Alter neu werden können
So konkretisiert sich die christliche Lebenseinstellung von der positiven Angewiesenheit auf die anderen und auf Gott in der Haltung zur eigenen Endlichkeit. Wer glaubt, dass er oder sie das Leben jeden Tag wieder neu empfängt, kann auch spüren, dass es zum Glück endlich ist, weil es in Gottes Hand liegt und bei ihm endet. Wenn man glauben kann, dass alles seine Zeit hat und der Tod – aus Gottes Hand empfangen – der Durchgang zum Leben ist, lässt es sich möglicherweise ein Leben lang mit ihm leben und mit immer neuen Erfahrungen gerne älter werden. Das Neu-Werden-Können im Alter ist Gottes kontrafaktische Möglichkeit. In Gottes Gegenwart können Menschen trotz allem, was war und ist, immer wieder neu werden. Sie werden gleichsam »wiedergeboren«. Als der alte Nikodemus von Jesus auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht wird, fragt er verwundert: »Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?« Jesus entschlüsselt das Bild und verweist darauf, dass Gott Menschen jeden Alters die Möglichkeit eröffnet, neu anzufangen (Joh 3,1ff .). Diese Möglichkeit des Neuanfangs, der Wende vom alten Leben hin zum neuen Sein in Christus, wird auch von Paulus im 2. Korintherbrief bezeugt. Geradezu euphorisch stellt Paulus fest: »Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden« (2 Kor 5,17). In der Begegnung mit Christus gewinnt neues Leben Gestalt. Deswegen spielt im Neuen Testament das Alter keine besondere Rolle. Der Fokus ist auf die Möglichkeit des Neuanfangs gerichtet, der an keine äußeren Bedingungen gebunden ist, schon gar nicht an ein bestimmtes Lebensalter.
Wer sich als von Gott im positiven Sinne abhängig erlebt, wer sein Leben in Gottes Hände legt und sich ihm im Glauben anvertraut, ist aus dem alten Dasein herausgehoben und darf an der schöpferischen Gottesmacht teilhaben. »In Jesus Christus« ist dieses neue Menschsein Wirklichkeit geworden. Alle – Frauen und Männer, Junge und Alte, Starke und Schwache – sind zu einem Menschsein in Christus vereint, von Gott angenommen und berufen, die Welt menschlich zu gestalten. Sie sind dies als leibhaftige Wesen, stets mit der Welt und den vielen anderen Menschen Verflochtene – handelnd, leidend, denkend, etwas wollend und sich entscheidend, wachsend und sich entwickelnd, aber auch an Grenzen kommend und vergänglich, angewiesen auf andere und doch frei. Frei im Glauben von der Sorge um sich selbst – aber auch ständig bedroht, diese Freiheit an die »Mächte und Gewalten« der Zeitläufe zu verlieren und sich so der Kraft der Auferstehung, der Kraft, Neues zu beginnen, zu verschließen.
Vor Gott gelten die herkömmlichen Unterschiede nicht mehr – auch nicht die zwischen Alten und Jungen. Die Verheißungen des Glaubens sind altersindifferent. Das Alter hat weder eine besondere Nähe zu Gott noch muss es als ein Gegensatz zum Leben in seiner Fülle begriff en werden. Das unverfügbare Potenzial des Glaubens vergeht nicht mit körperlichen oder geistigen Lebenskräften – es ist gerade der Schwachheit versprochen.
Die Perspektive des immer wieder möglichen Neuanfangs hat nichts mit der Propagierung eines ideologisch aufgeladenen Leitbildes der »Fitness bis zum Tode« zu tun. Letzteres steht in der Gefahr, überhaupt nur auf einige wenige Ältere zuzutreffen und alle anderen, die nicht mithalten können, an den Rand zu drängen. Nicht um eine bis ins Letzte getriebene Fitness und Aktivität geht es, sondern um die Entfaltung des eigenen älter werdenden Lebens aus der Gelassenheit und – nicht zuletzt – aus dem Humor des Glaubens.
Die Perspektive des Neuanfangs darf aber auch nicht auf die geistliche Dimension reduziert werden. Sie drängt quasi »nach außen« – in die Gestaltung der Lebensverhältnisse. Weil auch im Alter stets Neues möglich ist, hat das Alter schöpferische Potenziale, die allen zugute kommen können. Die mögliche Entfaltung dieser kreativen Potenziale sollte durch die Lebensbedingungen der älteren Menschen unterstützt werden.