Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum, Gesellschaft und Kirche
Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2010, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05912-9
IV. Pflege – eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung
Um der Menschen willen, die bereits heute oder in Zukunft auf Pflege angewiesen sind, ist eine neue Wertschätzung der Pflege notwendig. Damit sind eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und ein Maßstab für die Humanität unserer Gesellschaft angesprochen.
In Deutschland leben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2,25 Millionen pflegebedürftige Menschen. Von den ca. 2,25 Millionen Leistungsbeziehern (Soziale Pflegeversicherung und Private Pflegeversicherung) leben 709.000 in einer stationären Pflegeeinrichtung und 1,54 Millionen werden zu Hause gepflegt. Von den Leistungsbeziehern, die zu Hause leben, werden 1,03 Millionen allein durch Angehörige und 504.000 durch Angehörige und ambulante Pflegedienste begleitet und gepflegt.
Die demographische und soziale Entwicklung erfordert eine grundlegende Neugestaltung der sozialen Infrastruktur zur Stützung und Versorgung von Menschen, die auf Hilfe und Pflege angewiesen sind. Hier ist unsere Gesellschaft besonders gefordert.
Gesellschaftliche Diskussionen über die Verletzlichkeit und Endlichkeit des Menschen fördern
In gesellschaftlichen Leitbildern wie »Anti-Aging« oder »Forever young«, die die »Jugendlichkeit« des Menschen zu einem der höchsten Ziele erklären, kommt eine Ablehnung des körperlichen Alters zum Ausdruck, die sich zu einer Diskriminierung ausweiten kann, wenn Menschen hilfe- oder pflegebedürftig werden. Auch besteht oft eine tiefe Unsicherheit, wie man sich Menschen gegenüber verhalten soll, die auf Hilfe oder Pflege angewiesen sind. Diese Unsicherheit ist in der Kommunikation mit demenzkranken Menschen besonders stark ausgeprägt. Die Folge ist eine undifferenzierte Wahrnehmung: Der Mensch wird vielfach allein auf Einbußen und Defizite reduziert – unberücksichtigt bleibt hingegen die Individualität, die sich in spezifischen Formen des Erlebens und Verhaltens, in den Bedürfnissen, Interessen und Vorlieben ausdrückt.
Menschen mit erhöhter Verletzlichkeit Schutz und Geborgenheit geben bedeutet zunächst, Tendenzen zur Abwertung oder Diskriminierung kranker Menschen zu erkennen. Es heißt weiterhin, die Wahrnehmung im Blick auf die Individualität pflegebedürftiger Menschen zu schärfen.
Die Notwendigkeit differenzierter gedanklicher und emotionaler Auseinandersetzung mit möglichem Pflegebedarf ergibt sich auch im Hinblick auf den deutlichen Anstieg der Anzahl hochbetagter Menschen – nimmt doch gerade im hohen Alter die Verletzlichkeit des Menschen zu. Allerdings scheint vielen Menschen nur schwer vorstellbar, einmal selbst in eine Situation zu geraten, in der sie auf Pflege durch andere Menschen angewiesen sind und in der der selbstständigen Lebensführung Grenzen gesetzt sind. Eine grundlegende gesellschaftliche Herausforderung lässt sich aus diesem Grunde wie folgt umschreiben: Die öffentlich geführte Auseinandersetzung mit dem Älterwerden darf Fragen der Verletzlichkeit des Menschen genauso wenig ausklammern wie die möglichen Stärken und Kompetenzen im Alter. Erst wenn es unserer Gesellschaft gelingt, die mit Pflegebedarf verbundenen Grenzen des Menschen off en zu kommunizieren und die Versorgung und Begleitung dieser Menschen zu einer allgemein anerkannten kollektiven Aufgabe zu machen, wird auch auf Seiten des Einzelnen die Bereitschaft wachsen, sich intensiver mit diesen Risiken des langen Lebens auseinanderzusetzen.
Man muß so müde sein
Man muß so müde sein
Wie ich es bin
Es schwindet kühl-entzaubert meine Welt
aus meinem Sinn
Und es zerrinnen alle Wünsche tief im Herzen
Gejagt und wüßte auch nicht mehr wohin
Verglimmen in den Winden alle Kerzen
Und meine Augen sehen alles dünn.
Dich lasse ich zurück mein einziger Gewinn
Und bin zu müde, dich zu küssen und zu herzen.(Else Lasker-Schüler)
Dieser notwendigen gesellschaftlichen Diskussion stellt sich allerdings ein Hindernis in den Weg: An einer Demenz zu erkranken und in deren Folge unselbstständig und unzurechnungsfähig zu werden, ist das wahrscheinlich am meisten gefürchtete Risiko des Alters. Die bei fortgeschrittener Demenz auftretenden kognitiven Einbußen werden von den meisten Menschen als Bedrohung der Person in ihrer Ganzheit betrachtet. Vor diesem Hintergrund erscheint verständlich, dass die Konfrontation mit Demenzkranken nicht nur Unsicherheit, sondern auch massive Ängste auslösen kann. Pflegebedürftigkeit konfrontiert mit der Verletzlichkeit und Vergänglichkeit unseres Lebens. Pflegebedürftigkeit macht in besonderer Weise die Fragilität des menschlichen Lebens deutlich. Mitarbeitende in Pflegeeinrichtungen haben ebenso wie pflegende Angehörige, Nachbarn und Freunde häufig erhebliche Schwierigkeiten mit den erkennbaren Grenzen der menschlichen Existenz.
In der aktuellen Diskussion wird kaum wahrgenommen, dass Pflege auch ein Beziehungsgeschehen ist. Pflegebedürftige Menschen brauchen Hilfe bei den täglichen Verrichtungen, die Sorge für Leib und Seele, sie brauchen Kontakte und Berührungen, auch Gelegenheiten, andere Menschen zu treffen. Sie sind auf Fürsprecher angewiesen, wenn sie nicht mehr für sich selbst einstehen können.
An der Pflege sind ganz unterschiedliche Personengruppen beteiligt: Die pflegebedürftigen Menschen selbst, die ihren Alltag umstellen und ihr Angewiesensein akzeptieren müssen, die Angehörigen, die Aufgaben übernehmen und aufteilen müssen, die professionellen und die ehrenamtlichen Kräfte wie auch die Nachbarn und Freunde, wenn sie dafür Sorge tragen, dass der pflegebedürftige Mensch in seiner Umgebung bleiben kann und am gemeinsamen Leben teilhat. In unserer Gesellschaft, in der viele Menschen bewusst ihr Leben allein verbringen, sind im Alter die professionellen Pflegekräfte oft die einzigen Beziehungspersonen. Dadurch wachsen die Anforderungen an die Pflege.
Gute Rahmenbedingungen für die Pflege durch Angehörige schaffen
Bisher haben sich die häuslichen Pflegearrangements auch vor dem Hintergrund des demographischen Wandels als erstaunlich stabil und anpassungsfähig erwiesen. Wie bereits dargestellt, werden heute noch fast 70 Prozent aller pflegebedürftigen Menschen von Familienangehörigen gepflegt, obgleich schon längst von einer Abnahme des verfügbaren familiären Pflegepotenzials ausgegangen wird. Neben den pflegebedürftigen Menschen leben noch etwa drei Millionen Menschen mit Hilfebedarf in Privathaushalten, die jedoch noch nicht als pflegebedürftig im Sinne der Pflegeversicherung gelten. Fast zwei Drittel der Pflege- und Hilfsbedürftigen sind weiblich. Der Hilfe- und Pflegebedarf ist im Leben der betroffenen Menschen keinesfalls eine nur kurze Episode. Die Unterstützungsdauer liegt im Durchschnitt bei pflegebedürftigen Menschen bereits bei 8,2 Jahren und bei hilfebedürftigen Menschen bei 9,7 Jahren. Die Hilfe und Betreuung wird in aller Regel von den nächsten Angehörigen (90 Prozent) erbracht. Die familiäre Pflege ist zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt. Zwar hat der Anteil pflegender Männer in den vergangenen Jahren zugenommen, in drei von vier Fällen sind aber nach wie vor Frauen die Hauptpflegepersonen. Bei verheirateten Pflegebedürftigen ist es die Partnerin bzw. der Partner, bei hochbetagten verwitweten Personen sind es die eigenen Kinder bzw. bei jüngeren Pflegebedürftigen ein Elternteil, das die Pflege und Versorgung trägt.
Mit 60 Prozent ist auch die Mehrheit der Hauptpflegepersonen bereits 55 Jahre oder älter. Es sind die Menschen in der »dritten Lebensphase«, die in Deutschland die private Pflege insbesondere bei den hochbetagten Pflegebedürftigen tragen. Der Prozess des demografischen Alterns der Bevölkerung sollte vor diesem Hintergrund nicht nur als Risiko betrachtet werden. Insbesondere die Menschen in den Altersgruppen von 55 bis Ende 70 verfügen über eine hohe Familienbindung und eine entsprechende Bereitschaft, die Pflege eigener Angehöriger zu gewährleisten.
Art und Ausmaß der Belastungen, die pflegende Angehörige erleben, unterscheiden sich je nach Pflegesituation und Pflegephase. Häufig werden emotionale und körperliche Belastungen genannt. Zeitdruck, das ständige Angebundensein, fehlende Beratung und Anleitung, fehlende Entlastungsmöglichkeiten wie Tagespflegeangebote, Verhinderungspflegeangebote, niedrigschwellige Dienste, unzureichende Hilfsmittel, aber auch mangelnde Freizeit und Sozialkontakte können zu Erschöpfungszuständen führen und zur höheren Anfälligkeit für akute und chronische Krankheiten. Bei berufstätigen pflegenden Angehörigen stellt sich die Problematik der Vereinbarkeit der Pflege mit den beruflichen Anforderungen.
Trotz aller Belastungen kann Pflege für viele Menschen, die in einem Abschnitt ihres Lebens die Sorge für einen anderen Menschen übernehmen, einen Gewinn bedeuten; die Liebesfähigkeit kann wachsen.
Derzeit lassen sich folgende Tendenzen im familiären Pflegebereich beobachten: (a) Männer werden stärker in die Pflege einbezogen. (b) Der Anteil von Nachbarn und Bekannten, die den Platz der Hauptpflegeperson einnehmen, ist gewachsen. (c) Die Rolle der Kinder- und Schwiegerkinder verändert sich. Sie organisieren die Pflege und Unterstützung, weil sie selbst nicht aktiv in die konkrete Bedarfssituation eingreifen können. Entscheidend wird sein, inwieweit die eher traditionelle Pflege, bei der eine einzige Person im Haushalt die Versorgung und Betreuung übernimmt, durch Arrangements ersetzt werden kann, bei denen unterschiedliche Akteure einbezogen sind und professionelle Unterstützungsleistungen stärker akzeptiert werden. Die Entwicklung und Unterstützung des familiären und nachbarschaftlichen Pflegepotenzials ist eine unverzichtbare Zukunftsaufgabe.
Immer mehr Kirchengemeinden fördern deshalb die Entwicklung von Netzwerken. Sie laden zu Begegnungen ein, bei denen zunächst das Eigeninteresse angesprochen wird (»Ich für mich«); sie fördern zudem die Selbstorganisation (»Ich mit anderen für mich«) und vertrauen darauf, dass die gemeinsamen Erfahrungen die Solidarität stärken (»Ich mit anderen für andere« – »Andere für mich«) (Sylvia Kade/Karin Nell).
Pflegende Angehörige und informelle Netzwerke benötigen u. a. folgende Rahmenbedingungen:
- mehr gesellschaftliche Anerkennung,
- den flächendeckenden und zügigen Ausbau wohnortnaher niedrigschwelliger Unterstützungsangebote,
- Begleitung und Unterstützung durch die Kirchengemeinden,
- Aufbau eines Systems von vernetzten Versorgungsformen,
- bedarfsgerechte Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen,
- unabhängige und umfassende Pflegeberatung,
- die Möglichkeit, über ihre Vorstellungen von einem »guten«, persönlich sinnerfüllten Leben in Grenzsituationen sowie über Anforderungen, die sich daraus für die Pflege ergeben, zu sprechen,
- Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit,
- Unterstützung durch die Betriebe und Arbeitgeber,
- Verbesserung der Alterssicherung für pflegende Angehörige.
Das zum 1. Juli 2008 in Kraft getretene Pflegezeitgesetz stellt einen bedeutenden Schritt zu einer besseren Vereinbarkeit von Pflege und Berufstätigkeit dar. Perspektivisch weist es jedoch noch Nachbesserungsbedarf auf, insbesondere in Bezug auf folgende Aspekte:
- Lohnfortzahlung bei der kurzfristigen Freistellung analog zum Krankengeld bei Erkrankung des Kindes,
- Lohnersatzleistungen bei der Pflegezeit,
- Aufhebung der Kleinbetriebsklausel (weniger als 15 Beschäftigte) bei der Pflegezeit,
- Einbeziehung von Angehörigen sterbender Menschen ohne Pflegestufe.
Gute Rahmenbedingungen für professionelle Pflege schaffen
Professionelle Pflege blickt auf eine über 150-jährige Geschichte zurück und hat sich in immer neuen Arbeitsformen dargestellt, von den großen Anstalten der Alten- und Behindertenhilfe bis zur Gemeindeschwester und Sozialstation. Angesichts der Gesellschaft des langen Lebens sind neue Entwicklungen und Korrekturen nötig.
Die finanzielle Situation der Pflegeeinrichtungen führt dazu, dass die Zeit für die notwendige Pflege immer stärker beschnitten wird. Die Zeitknappheit dazu, dass pflegebedürftige Menschen oft nicht mehr als Person in der Pflegebeziehung ernst genommen werden können, sondern zum Objekt der Verrichtungen werden. Viele Pflegekräfte leiden darunter, nicht mehr als beziehungsbereite Menschen wahrgenommen, sondern als Pflegewerkzeug eingesetzt zu werden. Dadurch entsteht jenes inhumane Zerrbild der Pflege, das die Medien – teils zu Recht – zeigen.
Arbeitsverdichtung prägt den Alltag der Pflegekräfte. Sie kann zu Erkrankungen und Burn-out-Syndrom führen und fördert die Fluktuation. Die Verpflichtung zu Pflegeleistungen, die nicht primär am Bedarf, sondern einseitig an den Finanzierungsmöglichkeiten orientiert sind, führt zu inneren und oft auch zu äußeren Kündigungen. Viele wählen diesen Beruf, weil er sie in Beziehung zu anderen Menschen bringt. Junge Menschen gehen mit der Erwartung in die Ausbildung, einen sinnvollen Beruf zu erlernen, in dem man Menschen in schwierigen Lebensphasen hilft und begleitet. Sie erwarten einen Beruf, in dem menschlicher Kontakt im Vordergrund steht. Die berufliche Wirklichkeit sieht oft anders aus und achtet die Berufsmotivation nicht.
Für die Zukunft der Pflege in unserer Gesellschaft wird entscheidend sein, welche Reputation Pflege künftig haben wird. Mit dieser Frage ist auch die Relation zwischen Medizin einerseits und Pflege andererseits angesprochen: Es ist immer noch die Tendenz erkennbar, hauptsächlich mit der Medizin Professionalität zu assoziieren. Mit Blick auf die Pflege werden hingegen immer noch Charakterisierungen gewählt, die vorwiegend die menschenfreundliche Haltung, hingegen weniger die Professionalität in das Zentrum stellen. Auch im Pflegebereich werden künftig vermehrt unterschiedliche Berufsgruppen mit differenziertem Bildungsniveau nötig sein. Sie müssen angemessen entlohnt werden und aus einem ganztägigen Arbeitsverhältnis auch ein Einkommen beziehen, das den hohen Anforderungen des Berufs entspricht. Sie müssen die Möglichkeit finden, im Austausch mit anderen Menschen über die ethische Dimension ihres Berufs und ihres eigenen
Handelns zu reflektieren. Kirche und Diakonie sollten in der gesellschaftlichen Diskussion darauf hinwirken und selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Neben einer angemessenen Bezahlung wird die Frage der Gewinnung und Bindung von Mitarbeitenden künftig eine zentralere Rolle spielen, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Alternative Pflegeformen
Ältere Menschen müssen die Möglichkeit haben, eine für sie passende Wohn- und damit auch Begleitungs- und Pflegeform im Alter auszuwählen. Dies ist nur möglich, wenn Alternativen gleichwertig nebeneinander zur Verfügung stehen. Es ist eine weitere Ausdifferenzierung von Wohn-, Begleitungs- und Pflegeformen erforderlich, um den unterschiedlichen Bedürfnislagen älterer Menschen mit und ohne Unterstützungs- und Pflegebedarf gerecht zu werden.
Die Bereitschaft, in eine angemessene Pflege zu investieren, ist in unserer Gesellschaft gering ausgeprägt. Pflegebedürftige Menschen, die sie begleitenden Angehörigen, Ehrenamtliche und professionelle Pflegekräfte verdienen unsere absolute Wertschätzung. Wir brauchen eine offene und ehrliche Diskussion darüber, was uns Pflege wert ist, damit wir auch zukünftig menschenwürdige Rahmenbedingungen in verschiedenen Pflegesettings der häuslichen, teilstationären und stationären Pflege vorfinden. Es bedarf dringend eines gesellschaftlichen Diskurses und Verständigungsprozesses über den Stellenwert der Pflege, über eine menschenwürdige Begleitung und Unterstützung von älteren Menschen mit Pflegebedarf und den hierfür erforderlichen personellen und finanziellen Ressourceneinsatz.