Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum, Gesellschaft und Kirche
Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, 2010, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05912-9
V. Vielfalt gestalten – Perspektiven für die Kirche
Die Alterssituation in der Kirche
Bis 2020 wird sich der Anteil der über 60-jährigen Gemeindeglieder auf etwa 40 Prozent erhöhen. Die Kirche kann mit der demografischen Entwicklung wachsen, wenn sie die Situation annimmt und auch weiterhin die hohe Loyalität der Älteren wertschätzt. Sie braucht kein Klagelied anzustimmen angesichts der Überproportionalität Älterer.
Empirische Untersuchungen zeigen, dass bei den Älteren – bei aller Heterogenität – ein grundsätzliches Interesse an Kirche und – etwas abgeschwächt – an Religion und Spiritualität vorhanden ist und auch nicht schwächer wird. Selbst Menschen, die sich in den mittleren Lebensjahren von der Kirche abgewandt haben, sind im fortgeschrittenen Lebensalter für Sinnfragen sensibel, besonders wenn sie in Kindheit und Jugend mit dem Glauben an Gott in Verbindung gekommen waren.
Aufgrund der bisher noch gegebenen engen Verbundenheit der Älteren hat die Kirche erhebliche Einflusschancen. Sie hat die Möglichkeit, in Verkündigung, Bildung und Seelsorge zur Vermittlung eines realistischen, vielfältigen Altersbildes beizutragen, das weder die Stärken und Chancen des Alters noch die Verluste und Verletzlichkeiten im Alter ausblendet. Sie kann in besonderer Weise dazu anregen, dass ältere, aber sehr wohl auch jüngere Menschen neu über das eigene Altern, über das Altern anderer Menschen und über das Altern in unserer Gesellschaft nachdenken.
Schon jetzt werden wichtige Bereiche der kirchengemeindlichen Aktivitäten stärker von Älteren als von Jüngeren getragen. Die Kirchenmitgliedschaft ist insgesamt älter als die Gesamtbevölkerung. Die mittleren Jahrgänge sind deutlich unterrepräsentiert. Selbst wenn es keine weiteren Austritte gäbe und alle Kinder mit evangelischen Eltern getauft würden, würde sich diese Situation nicht wesentlich verändern. Ältere überwiegen bei Weitem in Gottesdiensten, kirchlichen Gruppen und Kreisen. Um kaum jemanden kümmern sich Pastorinnen und Pastoren mehr als um ältere Gemeindeglieder. Gleichzeitig bieten Kirchengemeinden für bestimmte Gruppen der Älteren gute Möglichkeiten zur ehrenamtlichen Mitarbeit. Durch die aktive Beteiligung an Gottesdiensten und an Gruppen und Kreisen werden viele Ältere zur Mitarbeit gewonnen. Freiwillige über 65 engagieren sich in Kirche und Religion stärker als in anderen Bereichen – 22 Prozent gegenüber 13 Prozent sonst. Diese kirchliche Bindung und dieses Engagement Älterer stellen für die Kirche einen Schatz dar, den es zu pflegen gilt.
Kirchliche Altenarbeit kann sich durchaus sehen lassen: Altennachmittage und Seniorenkreise, Ausflugsfahrten und Freizeiten, Bildungsangebote und Bildungsreisen, Bibelkreisarbeit, Ehrenamtsbörsen, Jubelfeiern und Kasualien, Geburtstagsbesuche, Beratungsangebote und Sozialstationen, Mittagstische und organisierte Nachbarschaftshilfen, Altenheimseelsorge, Hospizarbeit usw. Es gibt eine Fülle von anerkennenswerten Ansätzen und Projekten, in denen sich auch die Heterogenität des Alters spiegelt.
Folgende grundsätzliche Anfragen sind allerdings nicht zu übersehen. Zum einen gelingt es der Altenarbeit bisher nur schwer, Milieugrenzen zu überwinden. Man bleibt oft unter seinesgleichen. Zum anderen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die besondere Kirchennähe älterer Menschen selbstverständlich auch in Zukunft unverändert bestehen bleibt. Die Gruppe der Älteren ist heute – auch was die kirchliche Bindung und ihre Religiosität anbetrifft – weitaus heterogener als früher. Viele Ältere wollen sich, wenn überhaupt, mit ihren Erfahrungen und Kompetenzen selbstbestimmt einbringen und erwarten entsprechende Möglichkeiten in der Kirche. Sie sind anspruchsvoller geworden. Viele schauen genau hin, ob die Angebote und ihre Wünsche und Neigungen wirklich zueinander passen.
Zwar hat in der kirchlichen Altenarbeit in den vergangenen Jahrzehnten ein Paradigmenwechsel stattgefunden, doch eine neue Studie über das Altersbild von Pfarrerinnen und Pfarrern zeigt, dass dieser sich in der gemeindlichen Praxis noch nicht hinreichend auswirkt.
Lange war kirchliche Altenarbeit davon geprägt, dass Verantwortliche die Ziele definierten. Das gilt für das alte »Betreuungs- und Versorgungsmodell« der Seniorenarbeit, in dem man alte Menschen als primär hilfsbedürftig ansah und mit Kaffee und Kuchen belohnte. Das gilt auch für das »Angebotsmodell« – alte Menschen kommen, weil ihnen etwas Interessantes geboten wird. Doch auch in diesem Modell bleiben sie in der Regel Konsumentinnen und Konsumenten. Deshalb wurde zusätzlich das »Modell der Selbstbeteiligung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer« entwickelt. Dieses Modell orientiert sich am Alltag und der Lebenswelt älterer Menschen. Ziel ist eine eigenständig verantwortete Altenarbeit, in der Eigeninitiative geweckt und die Bereitschaft gefördert wird, sich den eigenen Fragen zu stellen und sich für andere zu engagieren.
Diese drei konzeptionellen Modelle folgten einander zeitlich. Im Hinblick auf unterschiedliche Altersphasen sowie auf milieu- und sozialisationsbedingte Unterschiede werden sie in Abstufungen nach wie vor praktiziert. Sie erreichen offensichtlich unterschiedliche Zielgruppen: Die einen haben kein Interesse daran, selbst die Initiative zu ergreifen und sich eigenverantwortlich zu engagieren. Andere pochen auf Eigenständigkeit und Selbstinitiative. Die einen suchen nach Angeboten, die sie konsumieren können, andere fühlen sich dadurch abgestoßen. Auch wenn es gute Gründe gibt, an die bisherigen Arbeitsformen anzuknüpfen, ist dennoch in allen Modellen Subjektorientierung und Mitverantwortung der Beteiligten anzustreben.
Kluft zwischen den Altersbildern der Pastorinnen und Pastoren und der Praxis der Altenarbeit
Das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD hat 2008 eine Studie über Altersbilder von Pastorinnen und Pastoren durchgeführt. Die zentrale Fragestellung war, welche Bilder vom Alter das Leitungshandeln von Entscheidungsträgern in der Kirche bestimmen. Nach dieser Studie ist das Altersbild durchaus differenziert, wobei in den Gesprächen von den Pastorinnen und Pastoren vor allem die Dimension der »Fitness« als unterscheidendes Merkmal eingeführt wurde. »Fitte Alte« sind »Jungsenioren «, die ihre freie Zeit für sich und für die Familie aktiv nutzen. Sie werden als entscheidungsbewusst und selbstbestimmt erlebt, sie »haben jetzt Zeit und machen ihre Dinge«. Im Gegensatz zu ihnen stehen die »weniger fitten Alten«, die in ihrer Gesundheit eingeschränkt und auf fremde Hilfe angewiesen sind. Diesen, so die von allen geteilte Auffassung, gelten die kirchlichen Seniorenaktivitäten zuallererst: als »unterhaltende« und »betreuende « Angebote.
Hier geht ein offensichtlich selbstverständliches kirchliches bzw. pastorales Selbstbild, nämlich das der anwaltschaftlichen für- und versorgenden Kirche, eine Koalition mit einem spezifischen Bild vom Alter ein, indem eine größere Zuständigkeit für die Hilfsbedürftigen und weniger Mobilen formuliert wird: »Die brauchen Kirche am nötigsten«. Wer dagegen als mobil, selbstbestimmt und sozial eingebunden wahrgenommen wird, kommt für die Pfarrer und Pfarrerinnen als bewusst anzusprechendes Kirchenmitglied bestenfalls diffus in den Blick. Zwar werden die gesellschaftlichen Veränderungen in ihrer Vielfalt deutlich gesehen (»Senioren sind anspruchsvoller und wollen nicht berieselt werden«) und es wird ein »hohes Potenzial zur Weitergabe von Erfahrungen und Fähigkeiten« vermutet, andererseits gibt es wenige Vorstellungen davon, was »fitte« ältere Menschen konkret von der Kirche erwarten könnten. Im Gegenteil wird davon ausgegangen, dass das, was sie erwarten, von anderen »Anbietern« besser geleistet werden kann als von der Kirche. Wer sich dennoch als »fitter Senior, fitte Seniorin« in der kirchlichen Arbeit wiederfindet – und es wird konstatiert, dass der größte Teil des ehrenamtlichen Engagements von dieser Gruppe getragen wird –, tut dies »zufällig«, »spontan« oder aufgrund von Bekanntschaften mit anderen Ehrenamtlichen. Ansonsten zählen die »fitten Alten« zusammen mit jungen Familien und »Intellektuellen« für die befragten Pfarrerinnen und Pfarrer zu den Gruppen, die in der Gemeindearbeit kaum in Erscheinung treten.
Offensichtlich rastet hier ein Kirchen- und Gemeindebild ein, in dem der resignative Rückzug aus den gesellschaftlichen Öffentlichkeiten auf einen »Restbereich« der »zu Betreuenden« längst verständlich ist. Die den Pfarrern und Pfarrerinnen zur Verfügung stehenden theologischen Paradigmata und Bilder erweisen sich als schwer vereinbar mit den gesellschaftlich akzentuierten Bildern einer in einem hohen Grad selbstbestimmten und (auch) eigennützigen Lebensführung. Besonders bedenklich ist, dass alle befragten Pfarrer und Pfarrerinnen für ihr eigenes Alter ein Mitwirken in den von ihnen betriebenen Altenaktivitäten heftig ablehnen. Sie hoff en, dann zu den »fitten« und aktiven Alten zu gehören, die »so etwas nicht nötig haben«.
Erneuerung durch ein Gesamtkonzept kirchlicher Altenarbeit
Angesichts der aufgezeigten Problemfelder gibt es trotz des vielseitigen Angebots traditioneller kirchlicher Altenarbeit einen nicht unbeträchtlichen Erneuerungsbedarf der kirchlichen Praxis und des seelsorgerisch-theologischen Diskurses. Viele Aktivitäten in der Altenarbeit sind situationsbedingt durch Einzelpersonen initiiert und verantwortet worden und haben sich bewährt. Sie stehen aber oft unverbunden nebeneinander. Es wird darauf ankommen, sie in ein inhaltliches und strukturelles Gesamtkonzept zu integrieren.
Bei einer neuen Konzeption kirchlicher Altenarbeit ist von einer differenzierenden und generationenübergreifenden Sicht des Alters auszugehen. Es wird weiter darum gehen, das Vorhandene zu sichten und zu bewerten. Was soll gestärkt werden? Welche neuen Ansätze sind nötig? Wie können die einzelnen Aktivitäten systemisch verbunden und sinnvoll vernetzt werden? Welche neuen Strukturen sind zu schaff en?
Der Entwurf eines Gesamtkonzepts ist eine umfassende und schwierige Aufgabe. Zum einen sind die Einzelgemeinden damit in der Regel überfordert, zum anderen fehlen in der Region meistens noch die für eine Konzeptentwicklung nötigen Strukturen. Kooperationen von Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen werden zwar in jüngster Zeit von Kirchenleitungen immer häufiger empfohlen. Solange dies nur mit dem Verweis auf künftig geringere finanzielle und personelle Ressourcen geschieht, werden solche Vorschläge als Notlösungen empfunden. Sobald man gemeinsam beginnt, für ein Arbeitsfeld ein Gesamtkonzept zu entwickeln, werden die Vorzüge solcher Kooperationen schnell deutlich, weil sich zeigt, dass angesichts der nötigen Vielfalt Einzelgemeinden nur im Verbund mit anderen Einrichtungen ihrem Auftrag gerecht werden können.
Ein Gesamtkonzept kirchlicher Altenarbeit, das keine Altersgruppe ausgrenzt, wird einerseits regionale Schwerpunkte setzen und andererseits die vorhandenen Ortsgemeinden stärken.
Kooperationen in der Region
Eine differenzierte, milieuspezifische und die einzelnen Altersphasen berücksichtigende Altenarbeit kann nur regional geplant und verantwortet werden. Beim gemeinsamen Planen entdecken die beteiligten Einrichtungen das je eigene Profi l. Bestimmte Schwerpunkte müssen in der Region nicht oft, andere im Blick auf die schwindende Mobilität im Alter häufiger vorkommen. Durch die Vernetzung der verschiedenen »kirchlichen Orte« (Uta Pohl-Patalong), zu denen neben den traditionellen Ortsgemeinden die Bildungszentren und die kirchlichen und diakonischen Einrichtungen in der Region gehören, kann kirchliche Altenarbeit der Ausdifferenzierung der Altersphase gerecht werden. Öffnende übergemeindliche Konzepte können Entwicklungen in unserer Gesellschaft – wie zum Beispiel geringere Bindungsbereitschaft an Institutionen, veränderte Wünsche in Bezug auf Autonomie, Anonymität, Bindung, Vertrautheit, Bereitschaft zum Engagement unter neuen Bedingungen – besser berücksichtigen.
Ähnlich wie in der Kinder- und Jugendarbeit ist es bei einem regionalen Gesamtkonzept der Altenarbeit sinnvoll, das soziale Umfeld zu beachten und das Handlungsfeld in überschaubare, deutlich abgegrenzte Einzelbereiche aufzuteilen. Dadurch sind alters- und milieuspezifische Akzente möglich. Es kommt aber auch der Neigung Ehrenamtlicher entgegen, sich lieber in abgegrenzten und überschaubaren Projekten zu engagieren.
Die im Folgenden beschriebenen Bereiche müssen in den einzelnen Regionen nicht zwingend und von Anfang an alle vorhanden sein. Selbstorganisierte und -verantwortete Altenarbeit setzt voraus, dass an den Bereichen einerseits Interesse besteht und andererseits Menschen bereit sind, sich dafür ehrenamtlich zu engagieren. Folgende Bereiche bieten sich an:
- Bildung: Auch im Alter ist Bildung kein Konsumangebot, sondern eine gemeinsam wahrgenommene Investition in die täglichen Herausforderungen und in das, was noch bevorsteht. In Kooperation mit den Bildungswerken können die in der Region für diesen Bereich Verantwortlichen die bereits vorhandenen Angebote (auch anderer Träger) sichten und gewichten, selbstorganisierte und intergenerative Möglichkeiten entwickeln, die den Menschen in der Region gerecht werden. Dabei geht es u. a. um lebensweltbezogene und lebenspraktische Bildung, um schöpferischkulturelle und gesellschaftliche Bildung, um Technik-Bildung und Empowerment-Bildung sowie um Sinnfindung und das Entdecken neuer Glaubens- und Lebensinhalte. Bildungs- und Studienreisen sowie der Bereich der Aus- und Fortbildung von Ehrenamtlichen in der Altenarbeit können dem Bereich Bildung zugeordnet oder als eigene Bereiche organisiert werden.
- Gottesdienst und Spiritualität: Zu diesem Bereich zählen die in vielen Gemeinden üblichen Gottesdienste und Abendmahlsfeiern für ältere Menschen. Es sollte bedacht werden, wie diese für weitere Kreise ansprechender werden und wo ältere Menschen sonst noch Orte finden, an denen sie zusammen mit anderen ihre spezifische Spiritualität vertiefen und leben können. Auch gottesdienstliche Jubiläen und kirchliche Rituale gehören zu diesem Bereich. Konfirmationsjubiläen sind oft ausschließlich vergangenheitsfixiert. Gemeinsam sollte überlegt werden, wie die unterschiedlichen Situationen älterer Menschen und deren Zukunftsperspektiven konkret zur Sprache kommen. Die guten Erfahrungen mit der Entwicklung neuer Rituale in Umbruchsituationen (Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, Änderungen in Lebenssituationen etc.) wären aufzugreifen und gemeinsam zu gestalten.
- Begegnung und Unterhaltung: Die traditionellen Seniorennachmittage sollten reflektiert, koordiniert und weiterentwickelt werden. Neue milieuspezifische Möglichkeiten sind zu erproben (z. B. neben den traditionellen Orten der Begegnung andere neue Orte in räumlicher Nähe). Ältere Menschen brauchen Orte, an denen sie zwanglos andere treffen können. Die Gemeinde ist von ihrem Selbstverständnis her ein hervorragender Begegnungsort, an dem Mitglieder verschiedener Generationen ihre Lebenserfahrung und ihr Verständnis vom christlichen Glauben kommunizieren können. Die in Kirche und Gemeinden vorhandenen Strukturen eröffnen vielfältige Möglichkeiten. Manche Gemeinden wandeln ihr Gemeindehaus zu einer generationenübergreifenden Begegnungsstätte, ihr Seniorenzentrum in ein Servicezentrum um oder entwickeln zusammen mit anderen Trägern neue Wohn- und Lebensformen für ältere Menschen. Begegnungen mit anderen Menschen sind in allen Lebensaltern sowohl für die Erfahrung des Angenommenseins und der Teilhabe als auch eigener Kompetenz und des »Gebrauchtwerdens« wichtig.
- Besuchsdienste: Neben der »Kommstruktur« ist im Blick auf ältere Menschen die »Gehstruktur« in Kirche und Gemeinde weiter auszubauen. Eine aufsuchende Altenarbeit ist nötig, weil manchen älteren Menschen die sozialen Ressourcen fehlen, sich auf Gruppen und Kreise einzulassen; andere sind aufgrund nachlassender Kräfte nicht mehr in der Lage, sich auf den Weg zu machen. Bisher sind Besuche an runden Geburtstagen üblich. Traditionell wird von vielen der Besuch des Pfarrers bzw. der Pfarrerin erwartet. Eine Ausweitung der Besuchsarbeit ist für die meisten Hauptberuflichen nicht möglich. Dies kann den Betroffenen verdeutlicht werden, wenn es gleichzeitig gelingt, Ehrenamtliche für Besuchsdienste zu gewinnen und vorzubereiten.
Im Blick auf die Zielgruppe der älteren Menschen und deren unterschiedliche Herausforderungen sind in der Regel mehrere Besuchsdienst-Teams nötig. Eines dieser Teams sollte sich auf Besuche anlässlich besonderer Situationen im Leben älterer Menschen konzentrieren. Dies kann der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand sein, ein notwendiger Wohnungswechsel, der Verlust des Partners oder der Partnerin, das Alleinleben bei abnehmenden Kräften oder der anstehende Wechsel in ein Alten- oder Pflegeheim. Besuchsdienst-Teams, die sich auf Besuche in solchen Situationen einlassen, sind auf eine angemessene seelsorgerliche und pädagogische Begleitung, auf regelmäßige Fortbildung und Supervision angewiesen. Sie müssen wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie selbst Unterstützung brauchen.
Begleitung, Fortbildung und Supervision benötigen auch Besuchsdienst-Teams, die an Geburtstagen ältere Menschen aufsuchen oder regelmäßig pflegende Angehörige hochbetagter Menschen in deren Wohnung oder im Alten- oder Pflegeheim begleiten.
- Praktische Hilfen: Für ältere Menschen ist belastend, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Sie haben bestimmte Kompetenzen, sind noch leistungsfähig – und niemand braucht sie. In vielen Gemeinden haben sich deshalb ältere Menschen in Netzwerken zusammengeschlossen, oder es sind »Gebraucht-werden-Börsen« gegründet worden. Neben praktischen Lebenshilfen wird es künftig vermehrt auch in Kooperation mit der Sozialstation um Nachbarschaftshilfe in der Altenpflege gehen. Es ist eine wichtige Aufgabe der Gemeinde, jene Menschen, die gebraucht werden möchten, dazu zu befähigen, Unsicherheiten und Vorbehalte zu überwinden und mitzuarbeiten. Für die Neukonzeption kirchlicher Altenarbeit sind angemessene Strukturen und Ressourcen auf allen Ebenen kirchlichen Handelns erforderlich. Die oben genannten einzelnen Bereiche sollten von Ehrenamtlichen initiiert, geplant und verantwortet werden. Wo es nötig ist, werden sie professionell unterstützt und begleitet. Dies wird vor allem in den Bereichen Spiritualität, Besuchsdienste und Bildung nötig sein. Die Verantwortung liegt aber bei den Ehrenamtlichen.
Die Neukonzeption erfordert eine Veränderung der Strukturen: In den Regionen bilden Delegierte aus den einzelnen Bereichen z. B. den Ausschuss für Seniorenarbeit in der Region, der die selbstständigen Bereiche koordiniert, die von den Leitungsgremien für Altenarbeit zur Verfügung gestellten Finanzen verteilt, die Öffentlichkeitsarbeit verantwortet und die evangelische Altenarbeit mit der anderer Kirchen und anderer Anbieter in der Region vernetzt.
Sie und alle Beteiligten sind darauf angewiesen, dass die Arbeit über die Region hinaus strukturell verankert ist. In einigen Landeskirchen wurden bereits beispielhafte Strukturen geschaffen und mit den erforderlichen Personalressourcen ausgestattet. Seit 1992 ist auf EKD-Ebene die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Altenarbeit (EAfA) ein Arbeits- und Kommunikationsforum für Fragen der Altenarbeit, in dem Delegierte aus Landeskirchen und Verbänden zusammenarbeiten. Sie initiiert Projekte und Konzepte für eine zeitgemäße Altenarbeit, arbeitet mit einschlägigen kirchlichen und nichtkirchlichen Organisationen zusammen und bringt kirchliche Positionen zum Alter in den gesellschaftlichen Diskurs ein.
Ehrenamt – Die Potenziale älterer Menschen verändern das Bild von Kirche und Gemeinde
Eine differenzierte Altenarbeit ist nur unter Beteiligung älterer Ehrenamtlicher möglich. Es wird nötig sein, leistungsfähige ältere Menschen für ein freiwilliges Engagement zu gewinnen. Es wird aber auch nötig sein, Gemeinden und Einrichtungen für eine Altenarbeit zu sensibilisieren, in der Partizipation und Selbstorganisation älterer Menschen praktiziert werden können. Hauptberuflich Mitarbeitende sind anzuregen, sich auf veränderte Rollen einzulassen. Dies sind Herausforderungen, deren Einlösung das Bild der Kirche verändern wird.
Und wo sollen diese Ehrenamtlichen herkommen? Alle vorliegenden Untersuchungen bestätigen, dass die Bereitschaft zum freiwilligen Engagement in den letzten Jahren in allen Altersgruppen gestiegen ist. Nach den Freiwilligensurveys der Bundesregierung von 1999 und 2004 gibt es beim freiwilligen Engagement älterer Menschen die höchsten Steigerungsraten aller Altersgruppen. Der Fünfte Altenbericht der Bundesregierung sieht eine Ursache für diese Zunahme darin, dass in steigendem Maße Menschen in den Ruhestand treten, die im Vergleich zu früheren Jahrzehnten ein hohes Niveau von Schulbildung und beruflichem Bildungsabschluss aufweisen. Dieses ist allen einschlägigen Untersuchungen zufolge mit einer erhöhten Bereitschaft zum freiwilligen Engagement und einer höheren Bildungsnachfrage im Alter und einer erhöhten Bereitschaft zum freiwilligen Engagement verbunden.
Die Gründe, weshalb es trotz der großen Bereitschaft in Gemeinden oft dennoch schwierig ist, ältere Menschen der ersten Altersphase als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen, sind vielschichtig. Zum einen sperrt sich das alte Bild vom »Ruhestand« gegen ein Engagement: Endlich Zeit haben für sich selbst. Warum sollte ich mich wieder binden? Schwerwiegender ist die Tatsache, dass viele, die grundsätzlich zur Mitarbeit bereit wären, der Meinung sind, dass sie in Kirche und Gemeinde nicht jene Freiräume finden, die sie sich wünschen. Viele, die heute aus dem Erwerbsleben ausscheiden, sind es gewohnt, aktiv mitzugestalten und Verantwortung zu übernehmen. Ihre Motivation zum Engagement zielt auf Möglichkeiten zur selbstbestimmten Gestaltung der ehrenamtlichen Tätigkeit und nicht auf eine Helferrolle für Hauptberufliche. Sie wären bereit, eine Aufgabe zu übernehmen, die ihren individuellen Interessen und Kompetenzen gerecht wird, eigene Handlungsspielräume eröffnet und geeignet ist, auch selbst neue Erfahrungen, Einsichten und Kompetenzen zu erwerben. Dabei bevorzugen sie zeitlich überschaubare Projekte, die eigenverantwortlich mitgestaltet werden können.
Eine differenzierte Altenarbeit in der Region ist ohne sie nicht möglich. Sie zu gewinnen ist aber auch nötig, weil auf die Ortsgemeinden neue Herausforderungen zukommen.
Alt werden in der Ortsgemeinde – Eine Vision gewinnt Gestalt
Viele Menschen möchten ihre letzten Jahre – auch bei zunehmender Hilfsbedürftigkeit – nicht in einer fernen Institution verbringen. Sie möchten in ihrer Wohnung und in ihrem Sozialraum bleiben. Pflegende und Gepflegte sind auf begleitende Unterstützung im Sozialraum angewiesen. Nicht wenige hoff en, dass ihre Kirche sie im Alter nicht im Stich lässt. Dies stellt Kirchengemeinden vor neue Herausforderungen. Es kann nicht darum gehen, die Unterbringung in einem Pflegeheim zu diskriminieren. Sie ist in bestimmten Situationen naheliegend und oft unumgänglich. Viele ältere Menschen haben in Heimen eine neue Heimat gefunden. Dennoch soll die Hoffnung derer, die in ihrer gewohnten Umgebung bleiben wollen, nicht enttäuscht werden. Die Gemeinden sind deshalb zusammen mit anderen gesellschaftlichen Kräften dazu herausgefordert, nach Möglichkeiten neben der Alternative von stationärer und häuslicher Pflege zu suchen.
Die Pflege ausschließlich durch Angehörige ist auf Dauer überfordernd, die Heimpflege bei ständig zunehmendem Pflegebedarf von der Gesellschaft kaum noch zu finanzieren. Notwendig ist deshalb ein Umbau des Sorgesystems für Ältere. Familien, Nachbarschaften, Gemeinden und Kommunen bilden eine Basis, mit der ein Engagement auf Gegenseitigkeit aufgebaut werden kann. Dieser »dritte Sozialraum« (Klaus Dörner) ist das Feld zwischen dem privaten und öffentlichen Raum, ist die Nachbarschaft, der »Wir-Raum«, in dem Menschen sich kennen und bereit werden, sich gegenseitig zu helfen.
Kirche und Gemeinden können hier eine wichtige Rolle spielen. Sie können in besonderer Weise für die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen, Schwerkranken und Sterbenden sensibilisieren und verdeutlichen, dass sie Teil des »öffentlichen Raums« sind und mit anderen in diesem Raum in einer Beziehung stehen, in dem nie nur »Empfangende« einerseits und »Gebende« anderseits anzutreffen sind. Ortsgemeinden können durch kommunikatives Handeln die ideale Ausgangsbasis zur Vermittlung von Gemeinschaft und Geborgenheit darstellen.
Viele Gemeinden entdecken wieder, dass diakonisches Engagement substanziell zu ihrem eigenen Auftrag gehört. Gemeinde ist dort, wo niemand auf Dauer einsam sein muss. Sie ist dort, wo Menschen in einem umfassenden Sinn aufeinander achten und sich umeinander kümmern. Dazu zählen Menschen, die sich in ihrem Bereich mit ihren Möglichkeiten engagieren und Zeit für andere spenden. Dazu zählen auch konkrete Projekte, wie Mehrgenerationenhäuser, Wohngemeinschaften für Ältere, Demenzcafés, Sinn-aktiv-Gruppen.
Gemeinden, die sich diesen Herausforderungen stellen (»caring communities«), sind keine exklusiven Gemeinschaften, sondern existieren im öffentlichen Raum und reklamieren ihn.
Wenn in Gemeinden die Verknüpfung von diakonischer Professionalität und diakonischem und gemeindlichem Ehrenamt gelingt, verändert sich auch das Bild, das Außenstehende von Kirche gewinnen. Sie erkennen und lernen, dass es zum Wesen der Kirche gehört, nicht vorrangig für den eigenen Bestand zu sorgen und für die eigene Klientel da zu sein, sondern als Kirche für und mit anderen die Botschaft des Evangeliums überzeugend zu leben.
Dies ist eine große und tragfähige Vision für Kirche und Diakonie: Eine Kirche, die in Freiheit Gemeinschaft und Solidarität ermöglicht und damit ein Ethos im Kleinen, im Stadtteil, im Dorf realisiert, das der Gesellschaft im Großen leider nicht selten abhanden gekommen ist. Indem sich Menschen in »caring communities« gegenseitig Aufmerksamkeit und Anerkennung, Hilfe und Zeit schenken, setzt sich über das ökonomisch Verrechenbare Hinausgehendes durch: Es bildet sich Gemeinschaft und Solidarität heraus, in der die Freiheit des Evangeliums konkrete Gestalt gewinnt und Menschen Heimat finden.
Von guten Mächten
Von guten Mächten treu und still umgeben
behütet und getröstet wunderbar, –
so will ich diesen Tag mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr;noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last,
ach, Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das Du uns geschaffen hast.Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern,
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus Deiner guten und geliebten Hand.Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann woll’n wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört Dir unser Leben ganz.Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die Du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen!
Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht.Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all Deiner Kinder hohen Lobgesang.Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.(Dietrich Bonhoeffer)