Den Bildungsauftrag wahrnehmen - Evangelische Perspektiven zur Situation der Hochschulen in Deutschland
Ein Votum des Evangelischen Hochschulbeirats der EKD, EKD-Texte 105, 2009
Geleitwort des Ratsvorsitzenden
Im Sommer 2009 protestierten in Deutschland wieder die Studierenden. "Worse & Faster – Master of Desaster" war jüngst auf einem Transparent bei einer Demonstration in Jena zu lesen. Studierende erleben gegenwärtig ihr Studium bestimmt durch verdichtete Studienprogramme, hohen Zeitdruck und schlechte Betreuung – ganz abgesehen von dem logistischen Aufwand, der heutzutage zum Studium gehört, von den Konkurrenzgefühlen, die Quotenregelungen auslösen, von den wirtschaftlichen Belastungen, die Studierende durch Studiengebühren und hohe Lebenshaltungskosten an vielen Standorten tragen müssen und nicht zuletzt von den Zukunftssorgen, die sie inmitten der gegenwärtigen Wirtschaftskrise haben. Nicht selten verdichten sich diese Faktoren zu einer massiven Überforderungssituation. Das Studium wird als desaströs erlebt.
Die Kritik der Studierenden richtet sich besonders auf die Bachelor-Master-Struktur des sog. Bologna-Prozesses. In der Tat wurde diese Reform in Deutschland wenig flexibel umgesetzt und hat zu einer starken Verschulung des Hochschulstudiums geführt. In der kritischen Auseinandersetzung mit dem Bologna-Prozess und seinen Folgen stehen aber nicht nur strukturelle Fragen der Studienreform zur Diskussion, es geht um Individualität und Kreativität, um Partizipation und Eigenverantwortlichkeit – es geht im Grunde um den Beitrag des Hochschulstudiums zum Bildungsprozess und zur Persönlichkeitsentwicklung. Nicht zu Unrecht werden deshalb die Protestaktionen der Studierenden in der Öffentlichkeit unter dem Stichwort "Bildungsstreik" wahrgenommen und diskutiert.
Deshalb dürfte es zu kurz greifen, wenn in dieser Diskussion auf die bessere Planbarkeit des Studiums, auf den Kompetenzerwerb, auf die Arbeitsmarktrelevanz der Studieninhalte und auf Verbesserungen bei der Abbrecherquote hingewiesen wird. Solche Effekte – wenn sie denn tatsächlich durch den Bologna-Prozess ausgelöst werden – sind höchst wünschenswert und in mancher Hinsicht längst überfällig. Aber beantworten sie schon hinreichend die Frage nach dem Beitrag des Hochschulstudiums zu Bildung und Persönlichkeitsentwicklung?
Ich danke dem Evangelischen Hochschulbeirat dafür, dass er mit dem Votum "Den Bildungsauftrag wahrnehmen" evangelische Perspektiven zur Situation der Hochschulen in Deutschland in die Diskussion einbringt. Die Ausarbeitung hilft zu verstehen, was Bildung nach evangelischem Verständnis bedeutet, welche Dimensionen der Bildungsbegriff umfasst und welche – letztlich religiöse – Tiefe er hat. Ich bin dankbar dafür, dass daraus überzeugende Perspektiven für die Entwicklung der Hochschulen und die Gestaltung des Studiums gewonnen werden können.
Eine Vorfassung dieser Ausarbeitung hat der Begegnung des Rates der EKD mit dem Präsidium der Hochschulrektorenkonferenz am 13. Juli 2009 zugrunde gelegen. Sie hat in dem Gespräch, das von einer bemerkenswerten Aufgeschlossenheit gegenüber den Grundanliegen der Studie geprägt war, ihre orientierende Kraft erwiesen. Insbesondere herrschte Übereinstimmung hinsichtlich der Notwendigkeit einer besseren Ausstattung der Hochschulen und einer flexibleren Umsetzung der Intentionen des Bologna-Prozesses. Selbstverständlich gab es zu Einzelfragen von Seiten der HRK auch abweichende Einschätzungen und kritische Hinweise. Manches davon konnte bei der Schlussredaktion des Papiers berücksichtigt werden und trägt zu größerer Ausgewogenheit der Argumentation bei. Möge die Veröffentlichung des Votums dazu dienen, dem Bildungsauftrag der Hochschulen Gewicht zu geben.
Hannover, im September 2009
Bischof Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)