Den Bildungsauftrag wahrnehmen - Evangelische Perspektiven zur Situation der Hochschulen in Deutschland
Ein Votum des Evangelischen Hochschulbeirats der EKD, EKD-Texte 105, 2009
III. Wahrnehmungen zu ausgewählten Themen der Hochschulpolitik
1. Bildungsverantwortung und institutionelle Differenzierung der Hochschulen
Die institutionelle Entwicklung der Hochschullandschaft in Deutschland interessiert aus einer evangelischen Perspektive im Hinblick darauf, dass der Staat seiner Bildungsverantwortung nur mit einer flächendeckend hohen Qualität seiner Hochschulen gerecht werden kann. Diese schließt eine gesicherte Präsenz der Grundlagenreflexion ein, wie sie herkömmlich zu den Aufgaben der Universitäten gehört. Innerhalb der Teilung der Funktionen zwischen Universitäten und Fachhochschulen galt der Erhalt flächendeckender, prinzipiell überall gleichwertiger Standards in Ausstattung und Lehrsituation als hohes Gut. Das bewirkte keineswegs Uniformität, überließ aber die Wahrnehmung von Differenzen zwischen den Hochschulen nach wissenschaftlichem Profil und Leistungsfähigkeit einem informellen, wissenschaftsautonomen und fachbezogenen Wettbewerb.
Gegenwärtig ist eine Entwicklung zu beobachten, die den Wettbewerb unter den Hochschulen um individuelles Profil und private wie staatliche Finanzmittel auf das Ziel einer Differenzierung der Ausstattung und Lehrsituation an den verschiedenen Hochschulen ausrichtet. In einer ökonomischen Differenzierung, in der die Ausstattung privilegierter "Eliteuniversitäten" auf Kosten der erforderlichen institutionellen Finanzierung aller übrigen Hochschulen geht, sieht der Evangelische Hochschulbeirat eine Gefahr für die Bildungsverantwortung des staatlichen Hochschulsystems. Dem entgeht der Einsatz von Steuerungs- und Förderinstrumenten wie der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder nur unter zumindest drei Voraussetzungen: Erstens darf er nicht dazu führen, dass dem Hochschulsystem in seiner Breite die Grundlagendimension verlorengeht. Zweitens ist dafür Sorge zu tragen, dass der institutionelle Wettbewerb sich nicht selbst zerstört, indem er auf die Gleise ökonomischer Steuerung und sich selbst verstärkender Mengeneffekte gerät. Drittens dürfen die Anreize zur Profilbildung nicht bewirken, dass sich die wissenschaftliche Landschaft etwa durch den Verlust "kleiner Fächer" entdifferenziert.
2. Gemeinwohlverpflichtung und Autonomie der Hochschulen
Die organisatorische Stellung und Gestalt der Hochschulen interessiert aus einer evangelischen Perspektive im Hinblick darauf, dass sie die Verantwortlichkeiten für den Bildungs- und Wissenschaftsprozess an den Hochschulen zur Geltung bringt. Hierzu gehört einerseits die demokratische Verantwortlichkeit der staatlichen Hochschulpolitik, andererseits die akademische Verantwortlichkeit der in Forschung und Lehre Tätigen. Bedingung der demokratischen und der akademischen Verantwortlichkeit ist eine weitgehende Unabhängigkeit von privaten Interessen.
Die jüngeren Veränderungen der Hochschulorganisation zielen ihrem Selbstverständnis nach auf eine Verstärkung der Hochschulautonomie. Sie soll die Hochschulen von staatlichen Detailregulierungen, bürokratischen Hemmnissen und erzwungener Gleichartigkeit befreien. Die größere Autonomie der Hochschulen gegenüber der staatlichen Hochschulpolitik wird begleitet von einer Budgetierung der Hochschuletats, welche die Finanzierung von Forschung und Lehre zunehmend auf eine "autonome" Finanzierung über Drittmittel verweist, von einer Tendenz zur Zentralisierung der Befugnisse innerhalb der Hochschulen und von einer Ergänzung der Hochschulleitung durch Hochschulräte, in denen hochschulfremde Mitglieder mit mehr oder weniger weitreichendem Einfluss an der Hochschulleitung beteiligt werden.
Als Folge lässt sich eine Verschiebung der Verantwortlichkeiten für den Bildungs- und Wissenschaftsprozess beobachten. Der Rückzug der staatlichen Hochschulpolitik kann die Spielräume für die akademische Verantwortlichkeit vergrößern, freilich um den Preis einer Ermäßigung der durch die Ministerien vermittelten parlamentarisch-demokratischen Legitimation. – Die Budgetierung der Hochschuletats befreit den hochschulinternen Mitteleinsatz von politischer Einflussnahme und ermöglicht eine längerfristige Planung; ist sie aber mit einem Rückzug der Hochschulfinanzierung durch die zuständigen Bundesländer verbunden, so verfestigt sie die bestehende Unterfinanzierung der Hochschulen und begünstigt Abhängigkeiten von Drittmitteln, darunter auch privaten Mitteln. Anreize zur Einwerbung privater Drittmittel können insbesondere bei anwendungsnaher Forschung und Lehre eine Mitverantwortung der privaten Wirtschaft für eine auch in ihrem Interesse liegende Wissenschaft mobilisieren und dem Wissenstransfer dienen. Abhängigkeit von privaten Mitteln kann jedoch zu Abhängigkeit von privaten Interessen zulasten gesamtgesellschaftlicher Verantwortung führen. Dabei darf man die herausragende und in den letzten Jahren erfreulich wachsende Bedeutung der Leistungen privater Stiftungen nicht übersehen. Durch sie werden nicht nur dringend benötigte Mittel bereitgestellt, sondern auch Innovationen angeregt, zu denen die staatliche Förderung oft nicht bereit oder in der Lage ist. Eine eigene Würdigung verdient auch die vor allem wissenschafts- und forschungsstrategischen Kriterien folgende Vergabe von Drittmitteln durch große Wissenschaftsorganisationen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft u.a. Einerseits wird dadurch die mittelintensive Spitzenforschung wirksam gefördert; bei unzureichender Grundausstattung der Hochschulen wird dadurch andererseits deren kompetitive Situation in problematischer Weise verschärft. – Eine Zentralisierung der Befugnisse innerhalb der Hochschulen kann dazu beitragen, korporative Interessen und Konzepte der gesamten Hochschule besser zu formulieren und zu verwirklichen oder dezentrale Hemmungen vor Innovationen zu überwinden; sie entfernt aber zugleich die akademische Selbstverwaltung von den eigentlichen Trägern akademischer Verantwortung, nämlich den Wissenschaftlern und ihrer kollegialen, nach fachlicher Zusammengehörigkeit organisierten Willensbildung. – Hochschulräte können dazu beitragen, externen, insbesondere unternehmerischen Sachverstand für die Hochschulleitung nutzbar zu machen; sie können aber – zumal in Verbindung mit einer Zentralisierung von Befugnissen – auch Gegengewichte gegen die eigentliche akademische Selbstverwaltung aufbauen und damit die akademische Verantwortlichkeit aus den von der Hochschulpolitik geöffneten Räumen verdrängen.
Nach Meinung des Evangelischen Hochschulbeirats sind alle diese Effekte nach dem Kriterium der Bildungsverantwortung zu beurteilen. Eine Rücknahme der staatlichen, demokratisch legitimierten Verantwortlichkeit muss der akademischen Selbstverwaltung zugute kommen. Akademische Selbstverwaltung muss primär und maßgeblich in der Autonomie der Wissenschaftler bzw. Wissenschaftlerinnen und ihrer kollegialen Willensbildung sowie in der Partizipation der an der Hochschule Tätigen nach dem Maß ihrer Nähe zur Verantwortung für Forschung und Lehre verankert bleiben. Alle externen Einflussgrößen – ob über private Drittmittel, Beteiligung in Hochschulgremien oder auch über eine externe Beratung der Hochschulpolitik – sollten den Vorrang gesamtgesellschaftlicher, bildungspolitischer und fachwissenschaftlicher Aspekte vor wissenschaftsfremden Drittinteressen achten und im gesamtgesellschaftlichen Interesse zu fördern suchen. Wo dies bereits in Frage gestellt ist, ist eine Re-Akademisierung der akademischen Selbstverwaltung zu fordern. Die Aufgaben der Hochschulräte sind strikt auf die Bildungsverantwortung der Hochschule zu beziehen. In dem Maße, in dem über die Hochschulräte hochschulexterne gesellschaftliche Kräfte am Diskurs über die Bildungsziele der Hochschule beteiligt werden sollen, sieht der Evangelische Hochschulbeirat hier auch ein Forum für das kirchliche Bildungsengagement.
Die Befugnisse der Hochschulräte müssen den Anforderungen an demokratische und selbstverwaltungsrechtliche Legitimation genügen: Während beratende Funktionen weitgehend unproblematisch sind, lassen sich Mitentscheidungsbefugnisse nur durch demokratische Staatsaufsicht oder durch eine Rückbindung an die eigentliche akademische Selbstverwaltung rechtfertigen. Die personelle Zusammensetzung der Hochschulräte – die bisher oft einen eher unausgewogenen Eindruck macht [11] – muss dem Diskurs über die Bildungsziele der Hochschule dienlich sein.
Im Zusammenhang der Autonomie der Forschung und der Forschenden ist aus evangelischer Perspektive überdies darauf hinzuweisen, dass die zunehmende Orientierung der Forschung an Drittmittelprojekten und die deutlich gestiegene Abhängigkeit der Forschung von – auch öffentlichen – Drittmitteln nicht nur eine Bereicherung der Forschung darstellt, insofern sie zu mehr Kooperation und Interdisziplinarität anregt, sondern auch mit problematischen Folgewirkungen einhergeht. Sie schränkt die Freiheit des Forschens ein, insofern sie dazu (ver)führt, vor allem solche Forschungsprojekte zu verfolgen, die die Chancen auf eine erfolgreiche Drittmitteleinwerbung steigern. Favorisiert werden dann Themen, die politisch "en vogue" oder interdisziplinär anschlussfähig sind. Damit dominieren mehr und mehr strategische Überlegungen die intrinsische Motivation der Forschenden, die grundlegend ist für die Kreativität der Forschung. Überdies ist unter vielen Forscherinnen und Forschern eine gewisse Ermüdung im Hinblick auf den – oft vergeblichen – Wettlauf um Drittmittel zu erkennen, der sich langfristig nicht förderlich auf die Forschung auswirken wird. Nicht zuletzt gilt es gerade im Hinblick auf die Geisteswissenschaften zu bedenken, dass hervorragende Forschungsleistungen oft aus Einzelforschungen resultieren. Außerdem macht die Drittmittelforschung viele originelle Forscherinnen und Forscher zu Wissenschaftsmanagern, die, gerade wenn sie erfolgreich sind, kaum mehr in der Lage sind, selbst zu forschen und zu publizieren. Anders als unter Umständen im naturwissenschaftlichen Bereich ist ein solches Wissenschaftsmanagement und die damit verbundene Delegation von Einzelforschungsaufgaben für die Geisteswissenschaften nur bedingt sinnvoll und möglich. Anliegen des Evangelischen Hochschulbeirates ist es deshalb, dass die Eigenständigkeit nicht drittmittelgebundener Forschung sowohl durch eine finanziell solide Grundausstattung der Professuren als auch weiterhin über die Vergabe von Forschungssemestern gewährleistet bleibt. Damit wird zugleich zum Ausdruck gebracht, dass nicht nur Drittmittelforschung, sondern auch Einzelforschung exzellente Ergebnisse hervorbringen kann.
3. Bildungsauftrag und Studienreform
Die Gestaltung der Hochschullehre interessiert aus einer evangelischen Perspektive im Hinblick darauf, dass sie dem Bildungsauftrag der Hochschule gerecht wird. Unter den Zielen der Hochschullehre hat die Entwicklung einer grundständigen wissenschaftlichen Kompetenz Vorrang vor dem Erwerb eines Kanons an Wissen und Fertigkeiten. Maßstab für die Studieninhalte muss weniger die Quantität als die Qualität des vermittelten Wissens und Könnens sein. Die Hochschullehre soll zu wissenschaftlicher Kritik, zum selbstständigen Methodeneinsatz und zu ethischer Reflexion befähigen. Das Studienangebot soll Studierenden eine selbstbestimmte Bildungsentwicklung ermöglichen. Zu den Bedingungen dafür gehören die Transparenz und Rationalität der Studiengänge. Studierende müssen ohne vermeidbare Schwierigkeiten den Studienort wechseln können, um die dadurch eröffneten Möglichkeiten zur individuellen Studiengestaltung und zur allgemeinbildenden Horizonterweiterung zu nutzen. Das Studium soll eine Grundlage für das lebenslange Lernen schaffen, Berufschancen eröffnen und über die akademische Professionalisierung des Einzelnen zu einer auf Bildung und Wissenschaft beruhenden Gesellschaftsentwicklung beitragen. Die auf die Ausbildung zu bestimmten beruflichen Qualifikationen zugeschnittenen Bestandteile des Studiums müssen in einem angemessenen Verhältnis zum Bildungsziel stehen. Die Grundbedingung für den Bildungswert des Studiums ist die prinzipielle akademische Freiheit des einzelnen Studierenden. Diese Freiheit schließt verbindliche Rahmenbedingungen des Studierens selbstverständlich nicht aus. Essentiell bleiben die grundsätzlich freie Wahl eines Studienganges, eine über das rein Repetitive hinausgehende Dimension des Lernens und die Möglichkeit selbstständiger geistiger Auseinandersetzung mit den Inhalten der Lehre und den Personen, die diese vermitteln.
Fast alle Studiengänge der Hochschulen werden gegenwärtig auf die konsekutiven Abschlüsse "Bachelor" und "Master" umgestellt. Für diese Reform wurden ursprünglich drei Kernargumente angeführt. Erstens sei dadurch eine Verbesserung der Mobilität der Studierenden und eine Vergleichbarkeit der Abschlüsse in Europa zu erreichen. Zweitens werde die Qualität der Lehre verbessert, weil die Studiengänge gestrafft bzw. "entrümpelt" und die Studienplanung transparent würden; dies werde die Studienabbrecherquote verringern. Drittens werde mit dem Bachelor ein berufsqualifizierender Abschluss entwickelt, der die Studierenden praxisnäher für den Arbeitsmarkt ausbilde. Für die Situation in Deutschland wurde zudem auf den im internationalen Vergleich auffälligen Befund der sehr hohen Durchschnittslänge des Studiums sowie der sehr hohen Abbrecherquote als Anlass zur Verbesserung der Studienorganisation hingewiesen.
Die genannten Ziele sind zu einem guten Teil im Sinne des beschriebenen Bildungsauftrags der Hochschule. Es wäre daher zu begrüßen, wenn die konsekutiven Studiengänge die Mobilität der Studierenden erleichterten, die Lehrsituation verbesserten, die oft zu hohe Studienabbrecherquote senkten, die in manchen Fächern vorher teilweise schwer planbaren Studiengänge verlässlicher machten und die Chancen der Absolventinnen und Absolventen auf eine selbstbestimmte berufliche Entwicklung ihrer Begabungen förderten.
An den Fachhochschulen ist die Umstellung auf die gestuften Studiengänge weitgehend abgeschlossen. Der Evangelische Hochschulbeirat würdigt, dass dies zu deren Aufwertung beigetragen und den Studierenden der Fachhochschulen bessere Karrierechancen und neue Studienmöglichkeiten erschlossen hat.
Auch kann erhofft werden, dass – wie etwa im Bereich sozialer Berufe und der Elementarpädagogik – die Einführung von Bachelor-Studiengängen zu einer breiteren akademischen Qualifikation für den Arbeitsmarkt beiträgt.
Im Blick auf bewährte Studiengänge hat die Stufung jedoch die Situation insbesondere für die universitäre Lehre in allen genannten Kriterien nicht nur nicht verbessert, sondern verschlechtert. Das Argument, konsekutive Studiengänge würden die europäische Vergleichbarkeit und Mobilität erleichtern, hat sich inzwischen als falsch erwiesen und wurde stillschweigend fallengelassen. Die Beurteilung und Anerkennung von Studienleistungen im europäischen und außereuropäischen Ausland richtet sich nach anderen Kriterien. Für die Mobilität innerhalb Europas haben namentlich das bewährte Erasmus- und Sokrates-Programm eine deutlich bessere Wirkung als die Stufung der Studiengänge. Die starke Reglementierung der gestuften Studiengänge schränkt die Wirksamkeit dieser Programme und die Mobilität der Studierenden insgesamt erheblich ein, indem sie eine individuelle Gestaltung ein- oder zweisemestriger Auslandsaufenthalte praktisch ausschließt. Die von starr modularisierten Studienplänen geforderte Verdichtung des Studiums und der erhöhte Lehr- und Prüfungsaufwand machen es notwendig, dass zugleich die Betreuungsrelationen verbessert werden. Da nicht für eine ausreichende Finanzierung des hierfür nötigen Mehraufwands gesorgt worden ist, vermindert sich im Ergebnis die Qualität der Lehre und des Studiums. Zusätzlich zieht das wuchernde Akkreditierungsgeschäft erhebliche Mittel und Kräfte von den eigentlichen Aufgaben der Lehre und Forschung ab. Wenig überraschend zeigen erste Statistiken, dass die Studienabbrecherquote in den neuen Studiengängen signifikant höher ist als in den herkömmlichen Studiengängen [12]. Bei den Betroffenen selbst ist die Skepsis darüber, dass die neuen Bachelor-Studiengänge die Ziele der Studienreform zu erreichen geeignet sind, nicht am Schwinden, sondern am Wachsen [13]. Die neuen Bachelor-Studiengänge stellen den Berufsbezug des Studiums auf den Kopf, indem sie nur selten auf ein verlässliches Berufsbild verweisen, sondern umgekehrt darauf spekulieren, dass der Arbeitsmarkt seine Berufsbilder nach den neuen Bachelor-Studienabschlüssen ausrichten werde. Es ist gegenwärtig zweifelhaft, ob für Absolventinnen und Absolventen nur mit einem Bachelor-Abschluss tatsächlich ein adäquater Arbeitsmarkt in Konkurrenz zu den beruflichen Ausbildungen und anderen Studienabschlüssen entstehen wird. Da die Fragwürdigkeit des Bachelor-Abschlusses für gute Berufsaussichten den Studierenden nicht verborgen bleibt, sind die auf geringere Übergangsquoten gegründeten Kapazitätsprognosen für die konsekutiven Master-Studiengänge hinfällig. Die teilweise unternommene Steuerung der Übergangsquoten stößt auf verfassungsrechtliche Bedenken. Dass für die neuen Abschlüsse die weltweit anerkannten und bewährten deutschen Diplomabschlüsse aufgegeben wurden, ruft außerhalb Deutschlands nur Verwunderung hervor.
Ein ernstes Problem von starr modularisierten Studiengängen ist, dass die starke Reglementierung von Studieninhalten und Studienverläufen die akademische Freiheit des Studiums weitgehend zu ersticken droht. Die Studienreformen verschärfen die bestehende Tendenz, Studiengänge weniger als Bildungs- denn als Ausbildungswege zu konzipieren. Die Bedingungen dafür, im Studium eine grundständige wissenschaftliche Kompetenz, Kritikfähigkeit, selbständiges Methodenbewusstsein und ethisches Reflexionsvermögen zu gewinnen, sind nicht sichergestellt. Neben dem Fehlen einer ausgewogenen Strategie zur Implementierung der Studienreform scheint eine Ursache für diese besorgniserregenden Fehlentwicklungen die selbstauferlegte Vorgabe zu sein, für alle Studiengänge eine formale Einheitlichkeit herzustellen. Der Evangelische Hochschulbeirat ist der Meinung, dass für einen Ausweg aus der verfahrenen Lage hier anzusetzen ist: Es sollte eine neue Reformphase der Differenzierung eingeleitet werden, in der die Studiengänge den fachspezifischen Erfordernissen eines Studiums mit Bildungswert wieder angenähert werden können. Dabei wird es darauf ankommen, die Bedingungen für ein im genannten Sinn wissenschaftliches Studium wiederherzustellen. Das verlangt zum einen Geld. Das verlangt zum anderen und vor allem Freiheit für die einzelnen Hochschulen, Freiheit für die einzelnen Fächer und Freiheit für die einzelnen Studierenden. Die Pluralität der Wissenschaft muss auch für die Lehre anerkannt werden. Der Schematismus, mit dem die neuen Studienabschlüsse durchgesetzt wurden, wird dem nicht gerecht. Stattdessen müssen die Spielräume, die die politischen Vereinbarungen der europäischen Kultusminister lassen, konsequent genutzt werden.
Der Evangelische Hochschulbeirat nimmt mit Interesse die durch Beschluss der Kultusministerkonferenz [14] getroffene Vereinbarung zur Gestaltung des Vollstudiengangs in Evangelischer Theologie wahr. Danach wird der Studiengang zwar didaktisch reflektiert in Modulen strukturiert, aber auf eine Stufung wird verzichtet. In bemerkenswerter Weise wird damit den Studien- und realen Berufserfordernissen der Evangelischen Theologie Rechnung getragen. Der Evangelische Hochschulbeirat betrachtet dies als Beispiel für sinnvolle Flexibilisierung und Differenzierung bei der Studienreform.
4. Chancengleichheit und Studienfinanzierung
Die finanziellen Rahmenbedingungen des Studiums für den Einzelnen interessieren aus einer evangelischen Perspektive im Hinblick darauf, ob sie einen chancengleichen Zugang aller für das Studium geeigneter Menschen zur Hochschulbildung offenhalten.
Die Rahmenbedingungen dafür werden entscheidend bestimmt durch die staatliche Ausbildungsförderung gemäß dem BAFöG, durch staatliche und private Begabtenförderung – in der sich die evangelische Kirche über das Evangelische Studienwerk Villigst engagiert – und neuerdings verschiedentlich durch allgemeine Studienbeiträge.
Die staatliche Ausbildungsförderung muss zuverlässig an den Kriterien der Bedürftigkeit und der Lebenshaltungskosten ausgerichtet werden. Die jüngste Novelle des BAFöG weist in die richtige Richtung; die Notwendigkeit weiterer Anpassungen muss im Blick behalten werden. Maßstab für die staatliche Ausbildungsförderung bleibt ihre Aufgabe, die gesellschaftliche Breite des akademischen Bildungssystems nachhaltig sicherzustellen.
Unausgereift ist die Koordination von Ausbildungs- und Begabtenförderung mit Studienbeiträgen. Es ist zweckwidrig, wenn die geltenden, nach Bedürftigkeit beziehungsweise individueller Förderwürdigkeit und Lebenshaltungskosten berechneten Fördersätze in das Aufkommen der Hochschulen an Studienbeiträgen durchgeleitet werden müssen. Eine solche Zweckentfremdung der Ausbildungs- und Begabtenförderung kann nicht – woran stellenweise gedacht zu werden scheint – durch die Verwendung von Studienbeiträgen für hochschuleigene Stipendienprogramme geheilt werden. Dies hieße, die eine Zweckentfremdung durch eine weitere Zweckentfremdung kompensieren zu wollen; außerdem wären solche Stipendien im Falle einer BAFöG-Berechtigung mit dem Anspruch auf Ausbildungsförderung zu verrechnen, also wirkungslos – mit dem Effekt, nur Studierende ohne BAFöG-Anspruch besserzustellen. – Überdies spricht gegen hochschuleigene Stipendienprogramme, dass das seit Jahrzehnten bewährte Netz von heute elf Begabtenförderungswerken ein weit umfassenderes Förderkonzept für besonders begabte Studierende anbietet. Ende 2008 gehörten – ermöglicht durch die Finanzierung durch das BMBF – 1 % aller Studierenden einem dieser Werke an, während es vier Jahre zuvor nur knapp 0,7% waren. Der Evangelische Hochschulbeirat hält es für sinnvoll, dass die Hochschulen im Interesse einer qualifizierten Begabtenförderung mit den elf Begabtenförderungswerken kooperieren und von deren Erfahrungen profitieren. Eine eigenständige Begabtenförderung durch die jeweilige Hochschule würde entweder weit höhere Summen verschlingen oder hinter dem erforderlichen Niveau der Förderung zurückbleiben.
Der Evangelische Hochschulbeirat dringt darauf, in den Regelungen über die Erhebung von Studienbeiträgen einerseits, über die Ausbildungs- und Begabtenförderung andererseits die Wechselwirkungen zu berücksichtigen. Hierfür erscheint es notwendig, dass alle Beteiligten – das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die zuständigen Landesministerien, die Hochschulrektorenkonferenz und die Begabtenförderungswerke – für sachgemäße Lösungen zusammenwirken. Einfache Lösungen liegen freilich nicht auf der Hand. Ein Erlass der Studienbeiträge für die Empfänger einer Begabtenförderung entspräche dem Gedanken leistungsbezogener Differenzierung. In ihn wären die Stipendiaten der elf anerkannten Begabtenförderungswerke einzuschließen. Darüber hinaus wäre an einen rückwirkenden Erlass für besonders erfolgreiche Absolventinnen und Absolventen – etwa die besten zehn Prozent eines Jahrgangs – zu denken. Ein entsprechender Erlass der Studienbeiträge für die Empfänger von Ausbildungsförderung ließe aber eine Lücke zu denen klaffen, die sowohl ihre Lebenshaltungskosten als auch die Studienbeiträge selbst tragen müssen. Bei einer – demgegenüber vorzugswürdigen – Berücksichtigung der Studienbeiträge für den Tatbestand der Bedürftigkeit und die Bemessung des Bedarfs wären die Studienbeiträge in die Fördersätze einzuarbeiten. Dies wiederum würde für diejenigen, die an Hochschulen ohne Studienbeiträge studieren, die Förderung über den tatsächlichen Bedarf wachsen lassen. Würde man deshalb die Bedürftigkeit und den Fördersatz danach differenzieren, ob die bzw. der Berechtigte an einer Hochschule mit oder ohne Studienbeiträgen studiert, entstünde ein Steuerungseffekt zulasten der Hochschulen ohne Studienbeiträge. Die Ausbildungs- und Begabtenförderung würde insoweit einseitig in die finanzielle Ausstattung der Hochschulen fließen, welche Studienbeiträge erheben. Damit würde die sozialstaatlich begründete Ausbildungsförderung und die individuelle Begabtenförderung zum strukturellen Nachteil für diejenigen Hochschulen, die aus sozialstaatlichen Gründen auf die Erhebung von Studienbeiträgen verzichten.
Mit Blick auf die nichtstaatliche Begabtenförderung – wie etwa die des Evangelischen Studienwerks Villigst – weist der Evangelische Hochschulbeirat darauf hin, dass eine Einbeziehung der Studienbeiträge in die Fördersätze durch entsprechende Zuschüsse aus dem Staatshaushalt refinanziert werden müsste. Jedenfalls kann die EKD mit ihren Zuwendungen an das Evangelische Studienwerk Villigst nicht die Ausstattung von Hochschulen mit Studienbeiträgen finanzieren.
In der Diskussion über das Für und Wider von Studienbeiträgen sind die komplexen Steuerungseffekte der Erhebung wie auch der Nichterhebung von Studienbeiträgen gründlich zu bedenken. Der Evangelische Hochschulbeirat schlägt sich weder auf die Seite der Befürworter noch auf die der Gegner von Studienbeiträgen. Es scheint ihm freilich einen Hinweis wert zu sein, dass die Effekte nachgelagerter Studienbeiträge – beispielsweise aus dem später dank dem Studium erzielten "Akademikereinkommen" – gerade im Blick auf die Koordination mit der Ausbildungs- und Begabtenförderung, aber auch im Blick auf einen chancengleichen Zugang zur Hochschulbildung, wesentlich überschaubarer und konsistenter sind. Sie entsprechen übrigens deutlicher der Austauschbeziehung zwischen der Gesellschaft und dem Individuum als Bildungssubjekt sowie dem Zusammenhang zwischen der Lebensphase eines Hochschulstudiums und der darauf folgenden beruflichen Entwicklung – nicht nur in ökonomischer, sondern auch in lebensgeschichtlicher Hinsicht.