Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland - Gestaltung der christlichen Begegnung mit Muslimen

Eine Handreichung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloher Verlagshaus, 2000. ISBN 3-579-02373-X

II. Teil: Theologische Orientierung und Grundsätze der Begegnung mit dem Islam

1. Zur Notwendigkeit theologischer Standortbestimmung

1.1. Islam in unserer Nähe

Muslime gehören zu unserer Gesellschaft. Sie beteiligen sich aktiv an unserem Gemeinwesen. Wir Christen sind dafür mit verantwortlich, dass das Zusammenleben nicht durch Feindbilder behindert oder gar verhindert wird. Wir haben für eine Versachlichung des Gesprächs einzutreten. Darum ist es nötig, dass die Glieder der verschiedenen religiösen Gemeinschaften in unserer Gesellschaft einander begegnen und sich näher kennenlernen.

Diese Situation erfordert von unseren Kirchen ein Nachdenken über ihr geschichtliches und theologisches Verhältnis zum Islam und zu den Themen, die Muslime in unsere Gesellschaft einbringen.

1.2. Die Aufgabe christlicher Neuorientierung

Das Verhältnis christlichen Glaubens und Lebens zu den Muslimen in unserer Gesellschaft theologisch so zu klären und darin Orientierung zu ermöglichen, dass sich hieraus praktische Konsequenzen für das Zusammenleben ergeben, ist eine für unsere Kirchen neue Aufgabe. Die Theologiegeschichte zeigt jedoch, dass sich von frühester Zeit an christliches Bekenntnis und christliche Identität im Gegenüber zu fremdreligiösen Traditionen bildeten und bewähren mussten. Solche dialogische Existenz, die in Auseinandersetzung mit den Glaubensüberzeugungen anderer von Gott redet und Glauben lebt, gehörte und gehört zu den Triebkräften christlichen Bekenntnisses.

1.3. Im Prozess der Verständigung

Vielfach begegnen wir Christen heute in Nachbarschaft, Schule, Arbeitswelt und Gesellschaft Muslimen. Wir müssen in solcher Begegnung unser Christsein nicht verleugnen. Wir haben dabei jedoch zu lernen, mit Muslimen in aufrichtiger Offenheit und mit der Bereitschaft zum gegenseitigen Sichkennenlernen umzugehen. Dieser Lernprozess bedarf der Orientierung an Gottes Wort und der Vergewisserung durch die Tradition, zugleich aber auch der Bestärkung durch Menschen mit eigener Erfahrung in der christlichmuslimischen Begegnung und der sachlichen Information. Es gilt z.B., nach Sprachbildern und Ausdrucksformen zu suchen, die vom Gegenüber verstanden werden können. Das wird unserer eigenen Sprachfähigkeit zugute kommen. Auch haben wir unseren Glauben angesichts der anderen religiösen Überzeugung neu zu bedenken. Das Zeugnis der Heiligen Schrift fordert von uns den Mut, uns diesem Lernprozess auszusetzen. Die biblischen Texte dokumentieren solchen Mut, indem sie Menschen zeigen, die in den unterschiedlichen historischen, sozialen und kulturellen Bezügen von Gott, von seinen Taten und Verheißungen und von ihrem Glauben an ihn Zeugnis ablegen.

1.4. Begegnung als Wesensmerkmal der Kirche

Die Begegnung mit Andersgläubigen ist uns nicht nur durch die heutige multireligiöse Situation aufgegeben, sondern sie ist im Kirchesein selbst verankert und findet ihre Grundlegung in Jesus Christus. Sie ist nur dann zukunftsfähig, wenn sie als »Mission in der Weise Christi« [10] geschieht, die sowohl die Verantwortung gegenüber den Menschen als auch ihre Verpflichtung gegenüber Gott in Christus ernst nimmt. Wenn sich die Kirche den Muslimen zuwendet, treibt sie nicht ein ihr fremdes Geschäft, sondern ihr Sein und ihre Sendung führen sie notwendigerweise zu den ihr religiös Fremden. Die Kirche ist nach Jesu Verheißung »Licht der Welt«, »Salz der Erde« (Mt 5). Sie muss über ihre Grenzen hinausgehen. Sie muss Leuchte sein, überall in der Welt. Im Vollzug dieser Sendung trifft die Kirche auf Menschen, die Anhänger nicht-christlicher Religionen sind. Wie sind sie zu sehen und wie ist ihre Religion im Licht des christlichen Glaubens zu verstehen?

2. Das christliche Bekenntnis zu Gott und die anderen Religionen

2.1. Verschiedene Positionen im Verhältnis zu anderen Religionen

Die Frage, welche Bedeutung die anderen Religionen nach christlichem Selbstverständnis haben, ist in der Vergangenheit verschieden beantwortet worden [11]. Vielfach hat man – besonders im Zeitalter des Kolonialismus – die Überlegenheit der christlichen Religion herauszustellen versucht. Heute wird in der Begegnung mit anderen Religionen oft die Besonderheit des eigenen Glaubens zurückgestellt und das uns angezündete Licht unter den Scheffel gestellt. Vorschnell behauptet man einen Grundkonsens und erklärt die Religionen als Ausdrucksformen ein und derselben Wahrheit. Doch weder der Weg der Selbstüberschätzung auf Kosten der anderen noch der der Selbstverleugnung auf Kosten der eigenen Identität ist die angemessene Haltung in der Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen und für die theologische Beurteilung dieser Religionen. Vielmehr muss die theologische Deutung der außerchristlichen Religionen sowie Grund und Art der Begegnung mit ihnen im Herzen des christlichen Glaubens selbst angesiedelt sein, im Bekenntnis zum dreieinen Gott.

2.2. Der eine Gott

Im Bekenntnis zum dreieinen Gott bekennen wir Christen ebenso nachdrücklich und eindeutig wie Muslime: »Es gibt keinen Gott außer Gott« – außer dem einen, einzigen, wahren Gott. Es ist beachtenswert, dass das arabische Wort »Allah« kein anderer Gottesname ist, sondern einfach »Gott« bedeutet. Arabisch sprechende Christen übersetzen daher die biblische Gottesbezeichnung mit »Allah « und gebrauchen das Wort im Alltag wie in Literatur und Liturgie. Im südostasiatischen Umfeld z.B. verwenden viele Christen das Wort »Allah« bewusst, um sich gegen ein polytheistisches oder sonst unbiblisches Gottesverständnis abzugrenzen. Es besteht hier nicht zufällig eine Gemeinsamkeit. Denn die koranischen Aussagen über Gott haben in der Begegnung mit jüdischen und christlichen Traditionen Kontur gewonnen. So bekehren sich Muslime, wenn sie Christen werden, nicht zu einem anderen als »Allah«, auch wenn sich ihnen damit in Jesus Christus durch den Heiligen Geist ein anderes, neues Gottesverhältnis eröffnet.

Der christliche Glaube an den einen Gott weiß sich dem ersten Gebot verpflichtet. Es untersagt, »andere Götter« anzubeten. Wir werden Muslimen umso glaubwürdigere Zeugen und Dialogpartner sein, je stärker wir uns in der Begegnung mit ihnen an den kritischen Ernst dieses Gebotes erinnern lassen. Auch Christen und Christinnen sehen sich immer wieder der Versuchung ausgesetzt, sich von anderen Mächten, Werten und Instanzen abhängig zu machen, statt den lebendigen Gott über alles zu fürchten, ihn zu lieben und ihm zu vertrauen. Er ist der Eine, der, in Schöpfung und Geschichte handelnd, sich mit den Menschen verbündet. Ihm allein gehört unsere Anbetung und nicht den Wunschbildern menschlicher Fantasie. »Woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott« (Martin Luther). In diesem Sinn gibt es »viele Götter und Herren«, aber es ist doch kein anderer Gott als der Eine, der »Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm«, und kein anderer Herr als »Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn« (1.Kor 8, 4 – 6). Das Bekenntnis zum dreieinen Gott bezeugt: »Gott ist Liebe« (1.Joh 4,16) – seine Liebe gilt für alle Menschen. Dieser Gott wirkt auch außerhalb der Kirche.

2.3. Der menschgewordene Gott der Versöhnung

Die Frage, die zwischen uns Christen und Muslimen steht, ist besonders die, wie der eine und einzige Gott sich den Menschen mitteilt und wie die Menschen dadurch Zugang und Beziehung zu Gott finden. Wenn wir Christen den einen Gott als den dreieinen bekennen, so liegt das zutiefst an unserem Glauben, dass Gott der Eine ist nicht jenseits der geschichtlichen Wege und Wandlungen, sondern in seinem Reden und Handeln in Beziehung zu seinem von ihm erwählten Volk und zu den von ihm dann hinzuberufenen Völkern. Ja, das liegt an unserem Glauben, dass Gott seine Hoheit und Souveränität in Jesus Christus in seiner Erniedrigung bis zum Tod am Kreuz zur Versöhnung und Erlösung des Menschen erweist.

Die Rede von dem einen Gott sagt nicht dasselbe wie die verbreitete Meinung »wir glauben doch alle an denselben Gott«. Denn diese Behauptung lässt offen, wer Gott ist – so, als ob Gott sich nicht offenbart hätte. Statt dessen versteht sie die Religionen als beliebige Möglichkeiten des Menschen, sich einen Gott so oder so vorzustellen, und geht davon aus, alle meinten im Grunde dasselbe, eben weil solch ein »Gott« keine konkrete Gestalt hat. Gott ist jedoch der, der in einer bestimmten, uns bezeugten Geschichte handelt, der Lebendige, der Gott Israels, der Vater Jesu Christi, der sich uns bekannt gibt und mit uns verbindet, so dass wir ihn bei seinem Namen anrufen, mit Du ansprechen können.

Im Zentrum christlichen Bekenntnisses steht: Gott wird Mensch, ja, er erniedrigt sich selbst bis zum Kreuz. In dieser menschlichen und erniedrigten Gestalt haben wir es mit Gott selbst zu tun. Er lässt sich auf unsere menschliche Gestalt ein, um an der Stelle, an der wir uns befinden, gutzumachen, was der Mensch auch in seinen besten Unternehmungen verkehrt gemacht hat. Das hat entscheidende Bedeutung für die Begegnung von Christen mit Menschen anderer Religionen. Wenn es einen guten, innerchristlichen Grund gibt, sich nicht die Welt mit christlichen »Absolutheitsansprüchen« zu unterwerfen, sondern Andersgläubigen versöhnlich und nicht feindlich zu begegnen, sie in ihren Eigenheiten und auch in ihrem religiösen Suchen zu achten und nicht zu verachten, von ihnen das Beste zu hoffen und sie nicht zu verurteilen, dann ist der Grund für Christen hier zu suchen und zu finden: Er liegt in der Erinnerung daran, dass Gott in Christus nicht – »Christ«, sondern Mensch wurde, dass Gott in der Hingabe seines Sohnes Jesus Christus »die Welt« trotz ihrer Verkehrung geliebt und mit sich versöhnt hat und nicht bloß eine spezielle »Kirchenwelt« (Joh 3,16; 2.Kor 5,19). So begegnen wir Christen Muslimen im Bewusstsein, dass diese Liebe und Versöhnung Gottes auch ihnen gilt. Wie sich Muslime dazu auch stellen mögen, so sind sie dennoch in die Dynamik dieser Wirklichkeit auf ganz besondere Art hineingenommen.

2.4. Gottes Heiliger Geist

Derselbe Gott, der uns in der Hingabe seines Sohnes geliebt hat, gießt im Heiligen Geist seine Liebe aus in unsere Herzen (Röm 5,5) und erhebt so Anspruch auf unser ganzes Leben. Es ist im Heiligen Geist noch einmal Gott selbst, der den Menschen dafür empfänglich macht und in ihm wirkt. Über diesen Gottesgeist können wir nicht verfügen. Seine Freiheit können wir nicht einschränken. Er »weht, wo er will« (Joh 3,8), wann und wo es Gott gefällt. Wir haben darum immer für uns selbst zu bitten, dass wir nicht geist-los werden, und haben uns zugleich dafür offenzuhalten, dass Gottes Geist auch außerhalb der Kirche wirkt und redet. Er tut es sicher nicht vergeblich. Wir Christen können es nur dankbar wahrnehmen, wenn wir Spuren des Geisteswirkens auch bei Muslimen bemerken.

Solche Spuren sehen wir aber nicht als einen Beweis dafür, dass Menschen von sich aus offen sind für das, wofür nur der Gottesgeist sie öffnen kann. Wir wissen es ja auch aus eigener Erfahrung, dass die Bilder, die wir Menschen uns von Gott machen, sehr wohl den Zugang zu Gott versperren und verschließen können. Als Christen bekennen wir, dass der Geist Gottes selbst in unser Gottesbild immer wieder neu eintritt und eintreten muss, um unsere Gotteserkenntnis von allen Verdunklungen zu reinigen. Allein in dem Licht, das Gott uns und in uns aufscheinen lässt, sehen wir das Licht (vgl. Ps 36,10; 2.Kor 4,6). Der Geist führt auf unterschiedlichen Wegen zu einem Verstehen des versöhnenden Handelns Gottes, das wir in Christus erkennen. Und wie der Geist uns für Gott öffnet, so öffnet er auch Menschen in all ihrer Verschiedenheit füreinander. Der Geist ist es, der Spannungen überbrückt. Im Gespräch mit Muslimen können wir erspüren, wie der Geist wirkt, an Muslimen und an uns Christen: wenn sich unerwartet theologische Erkenntnis eröffnet und das Geheimnis des Glaubens an Gott erschließt. Wir stellen es Gott und seinem Wirken anheim, inwieweit die Begegnung mit uns Christen auch Muslimen neue Horizonte eröffnet.

2.5. Gott der Schöpfer

Derselbe Gott, der der Versöhner der Welt mit sich selbst ist und im Heiligen Geist seine Liebe ausgießt in unsere Herzen, ist auch der Schöpfer aller Menschen. In derselben Güte, in der er sich der Menschen aus Gnade annimmt und sie zu seinen Kindern macht, gönnt und gibt er ihnen auch ihr irdisch-menschliches Dasein, hält und trägt er sie und »gibt nicht preis das Werk seiner Hände«. Er selbst schafft damit die Voraussetzung, um ihnen nahezukommen. So ist er ihnen nicht fern (Apg 17,24-27). Er findet Mittel und Wege, um menschliches Zusammenleben zu ermöglichen. Wie Regierungen (Röm 13) können auch Religionen Werkzeuge Gottes sein.

Wir begegnen auch im Islam wie in anderen Religionen Menschen, die schon in Gottes Hand sind. Das macht uns bescheiden und froh und führt zum Respekt gegenüber den anderen Religionen. Im Licht des uns in der Bibel bezeugten Gottes können wir auch dort Spuren seiner Wahrheit und Wirklichkeit entdecken. Wir würden unserem Glauben an diesen Gott untreu, wenn wir diese Spuren nicht beachteten. Dass fromme Muslime ihr Leben als Glaubenszeugnis der Tat verstehen und so zur Ausbreitung ihrer Religion beitragen wollen, können Christen in diesem Sinn würdigen, ohne ihren eigenen Auftrag zum Zeugnis aufzugeben.

Gleichzeitig müssen wir jedoch eingestehen, dass in allen Religionen Gottes Gaben von Menschen verkehrt werden. Menschen machen immer wieder Bedingtes zu Unbedingtem, d.h. sie verwechseln Schöpfer und Geschöpf (Röm 1,23.25), vielleicht am raffiniertesten da, wo sie dagegen gefeit zu sein meinen. Die Verkehrung des göttlichen Handelns und der göttlichen Gaben in menschliche Eigenmächtigkeiten in den Religionen und ihre Dämonisierung ist bittere Geschichtserfahrung, bis in die Gegenwart hinein. Auch unsere Religion ist davon nicht ausgenommen. Gleichwohl bleibt Gottes gutes Vorhaben mit den Menschen ihren Verkehrungen überlegen. Auf Grund dessen können in den Religionen trotz ihrer Verkehrungen jene Spuren seiner Wahrheit und Wirklichkeit entdeckt werden.

2.6. Christen als Zeugen des dreieinen Gottes

Wir bezeugen den dreieinen Gott, der in seinem schöpferischen, durch Jesus Christus versöhnenden und durch seinen Geist heiligenden Wirken das Heil aller Menschen will, auch unseren muslimischen Gesprächspartnern. Wir versuchen dies im persönlichen Gespräch ebenso wie im öffentlichen Bekenntnis der christlichen Gemeinde. Wir wissen dabei um die Schuld, die Christen seit den Zeiten der Kreuzzüge auf sich geladen haben. Wir hoffen, dass diese Schuld nicht unüberwindliche Barrieren aufrichtet, und vertrauen auf Gottes Vergebung, die anzunehmen und aus der zu leben alle Menschen eingeladen sind. Wir halten es für unerträglich und bedauern zutiefst, dass Christen in vielen islamisch geprägten Ländern ihren Glauben noch nicht frei bekennen können. Dass hier noch erhebliche Probleme bestehen, darf jedoch kein Hinderungsgrund für eine gemeinsame und versöhnte Zukunft sein. Die Versöhnung selbst ist das schönste Zeugnis für die Barmherzigkeit des dreieinen Gottes. Wir hoffen, dass ein gelingendes Zusammenleben von Christen und Muslimen in Deutschland weltweit zum Frieden zwischen beiden Religionen beiträgt.

3. Vom Umgang mit Differenz und Nähe

3.1. Die Methode des Lehrvergleichs

Eine Möglichkeit, das spannungsvolle Verhältnis zwischen Divergenzen und Konvergenzen zweier Religionen zu bearbeiten, ist die Methode des religionsphänomenologischen oder theologischen Vergleichs. Hier werden einzelne Glaubenswahrheiten und -überzeugungen miteinander verglichen und solche Aspekte in den Vordergrund gerückt, in denen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Religionen zu bestehen scheinen. Diesen Weg ging z.B. das Zweite Vatikanische Konzil 1965 in seinem Anliegen, von einer Verurteilung des Islam hin zu einer Wertschätzung des Islam zu gelangen [12]. Dieses Vorgehen erleichtert das Aufeinanderzugehen und mag für den Einstieg in einen interreligiösen Dialog hilfreich sein. Allerdings führt es leicht in theologische Sackgassen. Wer selektiv einige Aspekte einer Religion herausgreift und dabei Ähnlichkeiten festzustellen glaubt, denkt und argumentiert notwendigerweise bloß aus seiner eigenen Perspektive. Einzelne Aspekte können dabei ein Gewicht erhalten, die sie in der anderen Religion gar nicht haben. In diesem Zusammenhang wird etwa die Marienverehrung und die Bedeutung Jesu im Koran hervorgehoben. Die Marienverehrung spielt im islamischen Volksglauben eine nicht unwichtige Rolle. Jesus hat in der Geschichte der islamischen Mystik bisweilen eine erhebliche Bedeutung erlangt. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass diesen Aspekten in der traditionellen islamischen Theologie wenig Gewicht beigemessen wird.

Das Zweite Vatikanische Konzil vermochte auch den grundlegenden islamischen Glaubenssatz, das Bekenntnis zur Einheit Gottes (tawhîd), positiv zu würdigen. Zur Stellung Mohammeds im islamischen Glaubensbekenntnis und dem Verständnis seines Prophetentums hingegen fehlt eine Erklärung, ebenso wie zur zentralen Bedeutung des religiösen Rechts im Islam. Hierin wird die Schwäche eines solchen Ansatzes deutlich, der dort theologisch schweigen muss, wo sich keine Konvergenzen nahelegen. Unter Hinweis auf den Geist des Vaticanum II und auf die Tatsache, dass im Koran biblische Gestalten als Propheten anerkannt werden, wird von islamischer Seite oft gefordert, auch zum Prophetentum Mohammeds Stellung zu beziehen. In der 1988 vom Evangelischen Missionswerk herausgegebenen Broschüre »Die Begegnung von Christen und Muslimen« [13] wurde der Versuch unternommen, diese Frage von evangelischer Seite aufzugreifen und beide, Muslime und Christen, zu einem gemeinsamen Gespräch über ihr Verständnis des Prophetentums anzuregen.

3.2. Gemeinsame historische Wurzeln

Christentum und Islam haben gemeinsame Wurzeln im Judentum. So findet sich bisweilen der Ansatz, religiöse Gebräuche und theologische Motive des Islam aus diesen früheren Religionen abzuleiten. Ein derartiges Vorgehen ist religionsgeschichtlich interessant, hilft in konkreten Begegnungen zwischen Christen und Muslimen jedoch wenig weiter, da eine solche Ableitung oft die besondere Prägung des Motivs im islamischen Kontext außer Acht lässt und Gefahr läuft, den Eindruck zu vermitteln, hier wäre etwas »Ursprüngliches« lediglich kopiert worden.

Gelegentlich wird in kirchlichen Texten auf die »gemeinsame abrahamitische Tradition« verwiesen [14]. Hierbei besteht die Gefahr, das im gemeinsamen Ursprung (aus der eigenen Perspektive) Verbindende so stark ins Zentrum zu rücken, dass das Spezifische an Wert verliert und unscharf wird. Der Respekt vor der Würde und Integrität einer Religion gebietet es, sich ihr als ganzer zu stellen und nicht einzelne, der eigenen Religion nahestehende Aspekte herauszufiltern und in einer Art Vereinnahmungsstrategie sich anzugleichen.

3.3. Jede Religion ist ein Ganzes

Jede Religion muss als Ganzes und in sich Eigenständiges wahrgenommen werden. Sie ist ein unteilbares Ineinander verschiedenster Elemente, ein dichter Bildteppich. Alle Teile sind so eng ineinander verschränkt, dass sie erst in dieser Verknüpfung ihre eigentliche Bedeutung erhalten und nur in diesem Gesamtzusammenhang richtig interpretiert werden können.

Ein derartiger Ansatz widersetzt sich Versuchen, das theologische System der anderen Religion in Kategorien einer ihr fremden Religion zu pressen und so verständlich machen zu wollen. Auch das Ansinnen, christlicherseits eine theologische Mitte des Islam zu benennen, aus der heraus sich ein Gesamtbild darlegen ließe, führt leicht zu unsachgemäßen Verzerrungen. Allzu häufig werden einzelne Motive isoliert und ohne ihren Gesamtzusammenhang leichte Beute christlicher »Widerlegung«. Dieser Vorbehalt gilt auch gegenüber der Isolierung einzelner Koranverse, die ohne ihren Kontext und die Fülle innerislamischer Auslegungen und Bedeutungsebenen sinnentstellt einem fremden Publikum präsentiert werden.

Sich hingegen auf eine Religion als Ganzes einzulassen und sie aus ihrem eigenen Sinnzusammenhang verstehen zu wollen, gelingt nur in der Orientierung an einem »Ethos des Dialogs, ... den anderen so zu verstehen, wie er sich selbst versteht« [15]. Dazu bedarf es der Begegnung mit Vertretern der fremden Religion und deren Selbstverständnis.

Solch ein Gespräch kann nur in persönlicher Ehrlichkeit und in Treue zur eigenen Tradition geführt werden. Nur so können wir glaubhaft erzählen und erklären, welche Hoffnungen und Erfahrungen wir mit unseren religiösen Überzeugungen verbinden. Unterschiede und Gegensätze werden sich zeigen, auch Auslegungsvielfalt in den eigenen Traditionen. Immer wieder wird man dabei an Grenzen des Verstehens und Verstandenwerdens stoßen. Menschen, die sich auf diesen Weg einlassen, machen die Erfahrung, dass sich dort, wo von zunächst Ähnlichem ausgegangen wird, Differenzen vertiefen können und das je Eigene neu deutlich wird.

3.4. Ein Beispiel: Das islamische und das christliche Menschenbild

Der genannte Grundsatz soll an der Frage des Menschenbildes in Christentum und Islam verdeutlicht werden. Gott schuf den Menschen, so bekennen beide Religionen. Gerade im Rahmen des Schöpfungsglaubens gibt es Grundwerte für die Sinngebung des Lebens und für den Auftrag des Menschen, die Christen, Muslimen und Juden gemeinsam sind: so etwa Dankbarkeit für die Schöpfung und Verantwortung für sie, Solidarität mit allen Kreaturen, Sinngebung für ein nicht dem Egoismus verfallenes Leben, Geborgenheit aus dem Glauben an Gott, Kritik an der Vergötzung von innerweltlichen Zielen, Einsatz für Schwächere und Benachteiligte, Achtung der Menschenwürde.

Christen und Juden glauben auf Grund biblischer Botschaft, dass der Mensch zum »Bild Gottes«, zu dem Gott entsprechenden und verantwortlichen Gegenüber, geschaffen ist und dadurch seine Würde hat. Für Muslime ist der Mensch nach dem Koran Diener (´abd) und – der heute überwiegenden Interpretation zufolge – Stellvertreter (khalifa) Gottes auf Erden. Weil er nach islamischem Verständnis von Natur aus (fitra) auf Gott ausgerichtet ist, kann er Gottes Willen erkennen und ihm gemäß leben. Das heißt, der Mensch ist grundsätzlich in der Lage, das Bekenntnis zur Einheit und Einzigkeit Gottes auszusprechen und in Verantwortung vor Gott zu leben. Es gibt keinen Sündenfall, der dem Menschen diese Möglichkeit verschlossen hat. Der Mensch bedarf lediglich der Rechtleitung durch Gott. Sie ist nötig, damit der Mensch das Verbotene meidet und um das Gute weiß. Diese Leitung hat Gott durch die Zeiten hindurch dem Menschen gegeben: durch die Propheten, durch die Heiligen Schriften und durch den Koran als die letztgültige Offenbarung. Durch seinen Gehorsam, der dem Bekenntnis folgt und in seinem Tun konkret wird, zeigt der Mensch, dass er zu Gott gehört und als sein Stellvertreter auf Erden handelt.

Viele dieser Begriffe klingen uns Christen vertraut. Und dennoch ist hier im Zentrum der Lehre vom Menschen eine erhebliche Differenz zum christlichen Glauben angelegt, die viele scheinbare Übereinstimmungen als Unterschiede oder gar Gegensätze erweist. Nach christlicher Lehre kann der Mensch Gottes Willen nicht erfüllen, da er durch die Sünde schlechthin dem Ungehorsam verfallen ist. Ihm kann bloße Rechtleitung nicht helfen, er bedarf der Erlösung. Deshalb begibt sich Gott selbst in die Welt hinein, um dem Menschen Erlösung zu erwirken. Im Islam gibt es für eine dem christlichen Glauben vergleichbare Erlösungslehre keinen Platz. Das hat weitreichende Konsequenzen für die Gotteslehre, die Christologie, das Verständnis der Geschichte und die Bedeutung Abrahams für den Glauben. Die Bedeutung Jesu, hier als der Erlöser verstanden, dort als Prophet, ist unauflöslich mit der Lehre vom Menschen verbunden. Und sie ist zugleich mit dem Gottesverständnis verbunden. Das Bekenntnis zum dreieinen Gott hängt untrennbar zusammen mit der Erkenntnis, dass Gott zum Menschen kommt, um diesen zu erlösen. Wenn der Islam die Trinitätslehre ablehnt und in ihr die Einheit Gottes gefährdet sieht, so hängt das untrennbar mit seiner Überzeugung zusammen, dass der Mensch keiner Erlösung und daher keines besonderen Kommens Gottes zum Menschen bedarf.

Es zeigt sich, dass vieles, was auf den ersten Blick als Gemeinsamkeit erscheint, bei genauerem Hinsehen unverwechselbare Besonderheiten und dabei auch Differenzen erkennen lässt. Gleichlautendes bekommt durch das andere Netz des Gesamtzusammenhanges eine andere Bedeutung: Gott, Mensch, Schrift, Geist, Mission, Gemeinde, jedes dieser Worte schwingt und klingt im Klangkörper des Islam anders als in dem des Christentums und ruft beim muslimischen Gläubigen eine andere Resonanz hervor als bei uns. Es ist deshalb im interreligiösen Austausch wichtig, Verbindendes und Trennendes im jeweiligen Gesamtzusammenhang zu sehen und einen Weg zu finden, der die Differenzen zu verstehen lehrt und trotz der Differenzen den Respekt vor der anderen Religion vertieft. Dies gilt es auch durchzuhalten angesichts einer wachsenden Radikalisierung einzelner islamistischer Gruppierungen, die mit ihrem politischen Extremismus und ihren terroristischen Aktionen heute bei vielen das Bild des Islam bestimmen und verzerren. Ohne die Gefahren zu verharmlosen, sind soziale Ursachen sorgfältig zu analysieren sowie die Politisierung religiöser Identität wahrzunehmen. Das unterstreicht die Notwendigkeit zum Dialog.

4. Grundsätze der Begegnung

4.1. »Konvivenz«

Das theologische Gespräch mit dem Islam erwächst aus der Begegnung mit Muslimen und führt in diese zurück. Die Begegnung mit Muslimen vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen: im alltäglichen Zusammenleben, im offiziellen Dialog oder im gemeinsamen Handeln in Verantwortung für das gesellschaftliche Miteinander. Nur aus der Gemeinschaft des Zusammenlebens heraus kann ein gegenseitiges Verstehen entstehen und die Anerkennung des anderen wachsen. Daher müssen die Kirchen und ihre Gemeinden nicht nur die flüchtige Begegnung, sondern das Zusammenleben mit den Angehörigen anderer Religionen suchen. Die Weltmissionskonferenz von Bangkok, 1972, spricht von »Dialog in Gemeinschaft«, die Studie der VELKD und der Arnoldshainer Konferenz von »Konvivenz«. Diese wird beschrieben als »gegenseitige Hilfeleistung, als wechselseitiges Lernen und als gemeinsames Feiern« [16]. Konvivenz bedarf der Informiertheit der einzelnen Partner sowie des Respekts vor der anderen Religion.

4.2. Gegenseitiges Zeugnis

In alltäglich miteinander geteiltem Leben erwachsen das Interesse nach besserem Verstehen und authentische Fragen nach dem Selbstverständnis des anderen: »Was feierst du?«, »Was glaubst du?«, »Wer

ist dein Meister, der dich lehrt, so zu leben?«. Konvivenz schließt das Zeugnis gegenüber den Muslimen nicht aus, sondern sie führt vielmehr in das Zeugnis des Lebens und Glaubens hinein, in das Zeugnis von Wort und Tat, das nur in sensibler Wahrnehmung und Achtung vor dem gelebt und ausgesprochen werden kann, was dem anderen in seinem Glauben wert und wichtig ist [17].

Der Auftrag zum Zeugnis und die Bereitschaft zum Dialog dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Als Christen können wir keinen Dialog mit Muslimen führen, ohne dabei unseren christlichen Glauben zu bezeugen. Aber wir können ebensowenig Muslimen Zeugnis geben, ohne auch ihr Zeugnis zu hören und mit ihnen zu reden. In der Offenheit gegenüber der anderen Religion müssen auch kritische Fragen an den eigenen christlichen Glauben ernst genommen werden. Die Anfragen sind als Herausforderung zu begreifen, über die Konsequenzen nachzudenken, die sich aus dem christlichen Glauben für unser Leben ergeben.

Für uns Christen ist es selbstverständlich, von unserem Glauben Zeugnis abzulegen. Dieses Zeugnis bildet das Nervenzentrum allen missionarischen Handelns der Kirche. Mission als Sendung ist ein Wesensmerkmal der Kirche, des wandernden Gottesvolkes, das von Gott gesandt ist, um Gottes Liebe zu den Menschen zu bezeugen. Die Kirche ist ihrem Auftrag nach missionarisch. Wir sind Muslimen das Zeugnis von dem schuldig, was uns im Innersten unseres Glaubens bewegt. Mission ist kein Mittel kirchlicher Herrschaft. Mission als Sendung steht im Dienst am Menschen – im Gehorsam gegenüber Gott, der sich in der Knechtsgestalt als wahrer Herr erwies und so allen Menschen offenbar werden will.

Wir sind uns bewusst, dass auch der Islam eine missionarische Religion ist und fromme Muslime selbstverständlich ihr Leben als Glaubenszeugnis der Tat verstehen und zur Ausbreitung ihrer Religion beitragen wollen. Die Erklärung, die Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen und des Muslimischen Weltkongresses in Chambésy/ Schweiz 1976 gemeinsam formuliert haben, stellt fest, dass »Muslime und Christen das uneingeschränkte Recht haben müssen, zu überzeugen und überzeugt zu werden und ihres Glaubens zu leben sowie ihr religiöses Leben so zu ordnen, daß es mit ihren jeweiligen religiösen Pflichten und Prinzipien übereinstimmt.« [18]

4.3. Authentizität der Gesprächspartner

Die Begegnung zwischen Christen und Muslimen ereignet sich zwischen einzelnen, die sich mit ihren individuellen Lebensformen und Glaubensüberzeugungen einbringen. Jede Begegnung lebt davon, dass die Partner mit ihren persönlichen Meinungen geachtet und ernst genommen werden. Gefahr läuft die Begegnung dort, wo einzelne Gesprächspartner mit dem Islam oder dem Christentum als ganzem identifiziert werden. Sie werden dann etwa (zumindest indirekt) behaftet mit politischen oder gesellschaftlichen Missständen in islamisch geprägten bzw. »westlichen« Ländern. Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen, mit denen sich Muslime bzw. Christen gegenüber diesen Missständen abgrenzen, werden dabei als bedeutungslose Einzelpositionen abgetan.

Allerdings sind Christen und Muslime immer auch in größere familiäre, soziale, politische und religiöse Zusammenhänge und Gemeinschaften eingebunden, durch die sie geprägt sind. Wir müssen es daher akzeptieren, dass wir als deren Repräsentanten angesehen werden. Es ist zu hoffen, dass die Gesprächspartner sachkundig Auskunft geben und etwa Entwicklungen in der islamischen bzw. westlichen Welt zumindest aus persönlicher Sicht authentisch kommentieren können.

4.4. Wechselseitige Gastfreundschaft

Zu einem Begegnen in Gastfreundschaft fühlen wir uns durch die in der Apostelgeschichte berichtete Erfahrung des Petrus (Apg 10) ermutigt: Gottes Geist war es, der ihn aufforderte, sich von den Angehörigen der anderen Religion einladen zu lassen und mit ihnen Tischgemeinschaft zu halten, obwohl das den Reinheitsvorschriften der Jerusalemer Urgemeinde widersprach. Schon früh hat die Kirche gelernt, uneingeschränkt Gastfreundschaft zu üben, so dass Gastfreundschaft, die sprachliche, soziale und rassische Grenzen überwindet, zum Kennzeichen des Urchristentums wurde. Das hat wesentlich zur Anziehungskraft der neuen Religion inmitten der Religionenvielfalt der Antike beigetragen.

Gastfreundschaft beruht immer auf Wechselseitigkeit. Dass auch die Christen sich von Menschen einladen ließen, die ihnen religiös fremd waren, führte zum Dialog mit den Angehörigen anderer Religionen. Das hat ihre Botschaft beeinflusst und ihr jene Weite und vielfältige Gestalt verliehen, in der das Christentum zu einer Weltreligion werden konnte.

4.5. Teilnahme an Festen

Feste sind Orte, an denen in besonderer Weise Gastfreundschaft gewährt und erlebt werden kann. Hier ist der Fremde als Gast willkommen, hier können sich Gastgeber und Gast an Regeln orientieren, die dem Fremden einen respektierten Platz in der Gemeinschaft zuweisen und ihm zugleich die Freiheit lassen, sich so weit auf die Atmosphäre der anderen Religion einzulassen, wie er es verantworten kann. Hier kann Begegnung so stattfinden, dass beide, Christen und Muslime, ganz beim anderen sind und doch zugleich sie selbst bleiben. Die Kraft der Konvivenz ist die Liebe, das Fest aber ihr besonderer Ausdruck. Denn »wo die Liebe sich freut, da ist das Fest« (Chrysostomos).

Ein Festtag ist als gefeiertes Leben Vorwegnahme von erhoffter und Ermutigung zu gelingender Beziehung. Er verändert den Alltag nicht, aber er überstrahlt ihn und wirkt in ihn hinein. Wer sich auf dem Fest begegnet ist, grüßt sich im Alltag und begrüßt sich anders als zuvor. Nähe wird erlebt, aber die Distanz und der wechselseitige Freiraum bleiben gewahrt – Grundvoraussetzung für den nötigen Respekt. Miteinander zu feiern, verstärkt soziale Identitäten und prägt das Bild in der Öffentlichkeit. Nachbarschaftsfeste, Kirchentage, die religiösen Feste im christlichen und islamischen Jahreszyklus oder die Geburt eines Kindes bieten Möglichkeiten zu solcher Begegnung.

Vielfach werden offene Einladungen zu religiösen Festen ausgesprochen. In Ägypten etwa laden sich heute Glieder der verschiedenen Religionsgemeinschaften gegenseitig zu festlichen Anlässen (wie z.B. zum Fastenbrechen) ein. Auch für christliche Kirchen in Minderheitensituationen ist dieses bemerkenswerte Beispiel gegenseitigen Respekts wichtig, um trotz ihrer schwierigen Situation die Verbindung unter den Religionen nicht abbrechen zu lassen. In den letzten Jahren ist es auch in vielen unserer deutschen Kirchengemeinden Brauch geworden, zu den hohen Festtagen in ähnlicher Weise gegenseitig Einladungen auszusprechen und Geschenke oder Glückwünsche auszutauschen.

4.6. Erfahrungen in verschiedenen Kontexten

Die Begegnung mit Muslimen ist auch Aufgabe der ganzen christlichen Gemeinde in ihren unterschiedlichsten Orten und Bedingungen. Im nachbarschaftlichen Zusammenleben ergeben sich andere Erfahrungen als in christlich-islamischen Gesprächsgruppen. Kirchengemeinden werden sich in Innenstädten andere Fragen stellen als in ländlichen Gebieten. Das politische und gesellschaftliche Umfeld in Deutschland ist ein gänzlich anderes als das von Christen in islamisch geprägten Ländern, die in ihrer Minoritätensituation viel Leidvolles erleben und zu beklagen haben. Es ist wichtig, sich über diese unterschiedlichen Erfahrungen auszutauschen und sie in die eigenen Überlegungen mit einzubeziehen. Besonders die orientalischen Christen brauchen Unterstützung von uns als ihren Glaubensgeschwistern. Sie bitten uns, ihre Situation öffentlich anzusprechen. Gleichzeitig möchten wir von ihnen Verständnis dafür erwarten, dass die christlich-islamische Begegnung in Deutschland unter anderen Vorzeichen stattfindet als in ihren Ländern.

4.7. Grenzgänger

Wir können nur dort wirklich in den Raum und das Selbstverständnis der anderen Religion eindringen, wo wir jemanden haben, der uns gleichsam an die Hand nimmt und in die fremde Gesellschaft einführt, bis ein Vertrauensverhältnis entsteht, das die gegenseitige Akzeptanz ermöglicht. So gab es beispielsweise in manchen Kulturen die feste Institution des »Fremdenführers«, der im Auftrag des Häuptlings oder des Fürsten sich des Fremden annahm, ihn begleitete und dafür sorgte, dass das Gastrecht nicht angetastet wurde.

Wir brauchen in der Kirche »Grenzgänger« und »Grenzgängerinnen«, die sich in der Kraft der Liebe Christi und unter der Leitung des Heiligen Geistes zwischen den Religionen bewegen, die die Fremden zu uns einladen und sie begleiten, so dass sie sich inmitten der fremden Religionsgemeinschaft sicher fühlen. Solche Grenzgänger und Grenzgängerinnen sollten sich aber auch ihrerseits stellvertretend für die eigene Gruppe in die fremde Religionsgemeinschaft begeben und diese von innen heraus kennenlernen, so dass man sich ihnen als Fremdenführer in der anderen Religion anvertrauen kann, wenn diese nicht selbst einen solchen bereitstellt.

Es waren oft das Charisma und das Engagement einzelner, die den Prozess der Verständigung zwischen verschiedenen Konfessionen und Religionen vorangetrieben haben. Wie tief waren die konfessionellen Gegensätze im Vorkriegsdeutschland! Erst dadurch, dass sich nach dem Krieg in fest umgrenzten konfessionellen Gebieten Angehörige der jeweils anderen Konfession als Flüchtlinge ansiedelten, entstand ein Verständnis für die andere Konfession, das schließlich auch zu neuen kirchlichen Stellungnahmen führte. Ähnlich sind die Erfahrungen im Dialog mit dem Judentum. Es war der engagierte Einsatz einzelner Menschen und Gruppen, die sich auf die Begegnung mit Menschen jüdischen Glaubens einließen, die eingeladen wurden zu Gottesdiensten, zu Festen, zu theologischen Gesprächen. Durch ihr unermüdliches Engagement, nicht zuletzt auch auf den Kirchentagen, ist es zu einem neuen Verhältnis von Juden und Christen gekommen. Dadurch ist uns ein unaufgebbarer Reichtum an neuen theologischen Einsichten zugewachsen.

Obwohl sich der innerchristliche Dialog auf einer prinzipiell anderen Ebene vollzieht als interreligiöse Gespräche, brauchen wir auch in der Begegnung mit dem Islam heute solche Grenzgänger zwischen den Kulturen und Religionen. Wir brauchen die teilnehmende Erfahrung von Menschen, die durch eine religionsverschiedene Ehe oder aus dem Dialog des Lebens heraus in einer doppelten Heimat leben und uns durch ihre Erfahrungen helfen können.

4.8.Hoffnung auf ein vertieftes Verständnis

Wir hoffen aber, dass der Geist Gottes die Kirchen durch die Begegnung mit dem Islam zu vertieftem Respekt vor Andersgläubigen und zu neuen Möglichkeiten gegenseitigen Verstehens zu führen vermag. Wir vertrauen uns ihm an und wissen, dass er uns nicht von Christus weg, sondern in neuem Reichtum zu ihm hinführt. Denn indem Christen und Christinnen hier mit divergierenden Antworten konfrontiert werden, können sich für sie durchaus unerwartete theologische Einsichten in das Geheimnis des Glaubens an den dreieinen Gott erschließen – vorausgesetzt, sie sind bereit, die Anfragen an den christlichen Glauben als ernsthafte Herausforderungen anzunehmen.

5. Das christliche und das islamische Gebet

5.1. Anlässe

Aus dem gemeinsamen Leben und Handeln kann das Bedürfnis erwachsen, Hoffnungen, Ängste und Dank für das Erlebte miteinander im Gebet vor Gott zu bringen. Die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen des gemeinsamen Gebets stellt sich in politischen oder ökologischen Krisensituationen ebenso wie in der Ehe eines religionsverschiedenen Paares oder aus der Gemeinschaftserfahrung christlich-islamischer Gruppen. Solch ein gemeinsames Gebet ist jedoch weder für Christen noch für Muslime eine naheliegende Selbstverständlichkeit. Denn alle Schwierigkeiten der unterschiedlichen Glaubens- und Gotteserkenntnis, von denen wir gesprochen haben, bündeln sich hier. Die Frage, ob und in welcher Weise sich Christen und Muslime zum gemeinsamen Gebet zusammenfinden können, ist theologisch umstritten. Ein solches Gebet wird in der Praxis jedoch nicht selten in der einen oder anderen Form bejaht und gewagt.

5.2. Christliches Beten

Die christliche Tradition kennt eine Vielfalt von Gebetsformen, die, teilweise liturgisch geformt, aus biblischen oder kirchlichen Vorgaben oder frei gesprochen werden. In ihrem Mittelpunkt steht als Gebet Jesu das Vaterunser, das die Christenheit eint. Die vorgegebenen Gebetstexte sind Angebote, um unserem Reden mit Gott Wort zu verleihen. Wir Christen beten immer, auch wenn dies nicht ausdrücklich wird oder sogar uns nicht bewusst ist, »durch unseren Herrn Jesus Christus im Heiligen Geist«. Unser Gebet als Christen ist Ausdruck der Gotteskindschaft, zu der Christus uns befreit hat und in die uns der Geist Gottes versetzt. Wie Jesus als Sohn sich in innigem Vertrauen an Gott, den himmlischen Vater wandte: »Abba, mein Vater!« (Mk 14,36), so empfangen wir durch ihn, der uns zu Schwestern und Brüdern macht, den Geist der Kindschaft, durch den wir rufen: »Abba, lieber Vater« (Röm 8,15; Gal 4,6). Christen beten unbesorgt zu Gott als »unserem Vater in dem Himmel« – «in Jesu Namen« (Joh 4,13; 16,23f.; 1.Kor 1,2). Wir haben dadurch die Freiheit, »in allen Dingen« unsere Bitten »im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden« zu lassen (Phil 4,6). Muslime stillschweigend in diese Unbefangenheit mit vereinnahmen zu wollen, wäre nicht nur unredlich und respektlos, sondern es stürzte sie in einen schweren Glaubenskonflikt. Der Koran warnt ausdrücklich vor jenen zentralen christlichen Glaubensaussagen, die das christliche Gebetsverhalten begründen.

5.3. Muslimisches Beten

Das muslimische Pflichtgebet markiert seinerseits eine Grenze: Das Gebet macht den Unterschied zwischen dem Gläubigen und dem Ungläubigen, heißt es in einem überlieferten Prophetenwort. Das Pflichtgebet (salât), das fünfmal an einem Tag verrichtet wird, setzt rituelle Reinheit und genaue Einübung voraus. Da sich die Gebetszeiten nach dem Sonnenstand richten, wandert mit ihm das Gotteslob um den Erdkreis. Das tiefe Sichniederbeugen im Gebet ist Ausdruck der ganzen Hingabe an Gott als den Einen und Einzigen. Im Pflichtgebet werden u.a. Koranverse rezitiert. Damit wird Gottes heiliges Wort wieder vor ihn selbst gebracht.

An das rituelle Gebet fügt sich häufig ein meditatives Gottesgedenken (dhikr), wobei eine Perlenschnur mit 33 oder 3 x 33 Perlen zu Hilfe genommen werden kann. Sie ist eine Zählhilfe, um mit wiederholten Gebetsformeln Gott leise und selbstvergessen zu preisen. Für die mystische Frömmigkeit im Islam ist solches Gottesgedenken von besonderer Bedeutung.

Schließlich gibt es im Zusammenhang mit dem Pflichtgebet die Möglichkeit des frei formulierten Gebets (du´a). Solche Gebete sind auch sonst jederzeit und überall möglich. Sie dürfen in der Muttersprache gesprochen werden. Sie mit Andersgläubigen gemeinsam zu beten, etwa als Bitte um den Frieden oder als Fürbitte für Kranke, Notleidende oder Verstorbene, halten Muslime für möglich und wünschenswert.

5.4. Gemeinsames Beten?

Kann es bei solch unterschiedlichen Auffassungen ein gemeinsames Beten geben? Wer sich diese Frage stellt, sollte folgendes erwägen: Einerseits lässt sich Gottes Geist nicht in von uns vorgeschriebene Kanäle zwingen. Die Möglichkeit eines solchen Gebets muss nicht von der Bedingung abhängig gemacht werden, dass es zuvor schon gelungen ist, die unterschiedliche Gotteserkenntnis theoretisch auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Gottes Wirklichkeit geht weit über unser menschliches Begreifen hinaus. Darin stimmen Christen und Muslime überein. Das Wagnis, dazu einzuladen und uns einladen zu lassen, den einen Gott, trotz unterschiedlicher Überzeugungen, anzurufen, kann uns ja auch zu neuen Einsichten führen.

Andererseits ist Gottes Geist kein Geist der Beliebigkeit. Er bindet uns an Gottes Wort und schärft das Gewissen. Das Gewissen darf nicht verbogen werden. Es widerstrebt gerade dem Wesen des Gebets, instrumentalisiert und für uns zweckmäßig Erscheinendes missbraucht zu werden. Daher dürfen bestehende Unterschiede nicht überspielt und missachtet werden. Aufrichtigkeit, Sensibilität und Augenmaß sind jedenfalls für alle Beteiligten unabdingbar.

5.5. Begriffliche Unterscheidung

Begriffliche Unterscheidungen können dabei hilfreich sein. Gemeinhin unterscheidet man zwischen einem multireligiösen und interreligiösen Gebet [19]. Der erste Begriff meint, dass jeder in seiner Weise zu Gott betet, wie es z.B. 1986 in Assisi beim Friedensgebet geschah, zu dem der Papst eingeladen hatte. Christen und Muslime beten in einem als multireligiös verstandenen Gebet nacheinander in dem ihnen von ihrer Tradition vorgegebenen Ritus, wobei der jeweils andere eingeladen ist, bei dem ihm fremden Gebet in schweigender Beobachtung oder innerer Teilnahme anwesend zu sein. Die Form des multireligiösen Gebets wahrt die Integrität der einzelnen Gebetsriten und begegnet der Sorge, bei solchen Gebetsstunden der Religionen würden die verschiedenen Glaubenstraditionen in unangemessener Weise miteinander vermischt.

Interreligiöses Beten hingegen ist seinem Wesen nach grenzüberschreitend. Unabdingbar für die Form des Gebets ist, dass es in Anliegen, Wortwahl, Form und Ablauf zuvor von allen Beteiligten besprochen und gemeinsam festgelegt wurde. Die Absicht dieser Gebetsform ist, die Texte und den liturgischen Ablauf so zu gestalten, dass Glaubende beider Religionen sie bejahen und in den vorgegebenen Worten Gott anbeten können. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass sich bei solchen gemeinsamen Gebeten besonders Texte bewährt haben, die Gott lobpreisen.

5.6. Gott erhört Gebete

Die Frage, ob wir als Christen und Muslime »nebeneinander« (multireligiös) oder »miteinander« (interreligiös) beten können, wird unterschiedlich beantwortet. Die Unterschiede im Gebetsverständnis, die mit dem unterschiedlichen Gottes- und Menschenbild begründet sind, können nicht übergangen, sondern müssen respektiert werden. Weil diese Unterschiede nicht verwischt werden dürfen, haben wir uns zu bescheiden und die Grenzen zu akzeptieren, die es uns verwehren, uns im gemeinsamen Gebet mit Muslimen vor Gott zu vereinen. Doch können wir im Sinne menschlicher Verbundenheit in einer multireligiösen Situation mit innerer Anteilnahme gleichsam nebeneinander beten: In solchem Beten lässt sich Gemeinschaft erfahren, auch wenn dabei die tiefgreifenden Unterschiede nicht beseitigt sind. Wir stellen es Gott anheim, wie er solches Beten annimmt.

Die Frage, welches Gebet denn tatsächlich Gott erreicht, stellt sich für uns Christen zuerst im Blick auf unser eigenes Gebet. Welches unserer Gebete – und wäre es formal das korrekteste – ist denn dessen würdig, dass Gott es akzeptiert? Es kann ihn nur dann errei45 chen, wenn er unser auch im besten Fall unvollkommenes Gebet in freier Gnade annimmt und in seinem ungeschuldeten Erbarmen erhört. Vertrauen wir hier aber auf seine Gnade und sein Erbarmen, so dürfen wir glauben, dass er auch unsere unzulänglichen, ja verkehrten Gebete erhören will. Eben das gibt uns die Hoffnung, dass Gott in seiner Gnade auch die Gebete von Nichtchristen, auch die Gebete von Muslimen erhören kann und will: als der Gott, der in seinem Erbarmen »will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen« (1.Tim 2,4).

Ist es aber der Gott der Gnade und des Erbarmens, den unsere und ihre Gebete erreichen, dann wenden sich alle Betenden – darauf vertrauen wir Christen – im Grunde und in Wahrheit an denselben einen Gott, den dreieinen, der sich der verlorenen Welt zuwendet und das Zertrennte und Zerstrittene versöhnen will. Das gilt, wie bewusst oder verborgen das den Betenden auch sein mag. Darum glauben wir, dass Gebete von Muslimen ebenso wie die von uns Christen vom dreieinen Gott erhört werden, der uns in Jesus Christus mit sich versöhnt hat und sich im Heiligen Geist vermittelt.

5.7. Beten für einander

Eine traditionelle islamische Auslegung besagt, dass Fürbitten immer erhört werden; das schließt auch die Bitte für Andersgläubige ein. Wir Christen haben unsererseits von der Bibel her den Auftrag, für andere zu beten, und wissen um die Erhörung solcher Gebete. Wir beten auch für Muslime, und wir beten um ein tieferes gegenseitiges Verstehen. Der Geist Gottes ist es, der Christen und Muslime in dringendem Beten und großer Dankbarkeit zusammenbringen kann. Er kommt unserem Gebet zu Hilfe. Denn »wir wissen nicht, was wir beten sollen.« Aber »der Geist hilft unserer Schwachheit auf und vertritt uns aufs beste« (Röm 8,26).

Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland

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