Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung
Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, August 2017
Vorwort
Gesellschaften sind immer im Wandel. Das gilt auch für rechtsstaatlich verfasste Demokratien. Der Blick auf einige europäische Nachbarstaaten und auf die USA zeigt, wie rasant und teilweise tiefgreifend dieser Wandel ist. Dieser Blick lehrt uns auch, dass selbst innerhalb der westlichen Wertegemeinschaft Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterschiedlich konstruiert sein und nach unterschiedlichen Regeln funktionieren können. Das Nebeneinander von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht beispielsweise zeigt, wie unterschiedlich man demokratische Beteiligung denken und konzipieren kann.
Auch in Deutschland erleben wir eine Veränderung der Demokratie. Die bundesrepublikanische Gesellschaft der Nachkriegszeit war stark konsensorientiert. Obwohl es bereits in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erhebliche Konflikte gab, die teilweise in Gewalt umschlugen, war doch eine breite Mitte auszumachen, auf die hin man Konflikte moderieren konnte. Vor diesem Hintergrund hat die Evangelische Kirche in Deutschland 1985 ihr Verhältnis zu Demokratie und Rechtsstaat in einer Denkschrift beschrieben. Sie sah ihre Rolle vornehmlich darin, die von ihr vertretenen Werte und das Orientierungswissen der christlichen Tradition in die Konsensfindung einzubringen.
Verglichen mit anderen Ländern ist die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor in hohem Maße konsensorientiert und stabil. Dennoch ist die Gesellschaft nicht mehr so homogen wie früher. Populismus hat in der Parteienlandschaft und in der Gesellschaft insgesamt zugenommen. Die Nutzung der digitalen Medien hat zu einer ungeheuren Beschleunigung von Debatten und einer teilweise erheblichen Brutalisierung des Tons der Auseinandersetzung geführt. Stärker als früher müssen wir uns darauf einstellen, dass manche Konflikte bleibend sein werden. Umso mehr stellt sich für alle gesellschaftlichen Kräfte die Aufgabe, am Zusammenhalt der Gesellschaft mitzuwirken. Der vorliegende Text der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD beschreibt diese veränderte gesellschaftliche Situation, skizziert Bedingungen und Funktionsweisen des Populismus und nimmt diese Analyse zum Ausgangspunkt für Überlegungen, wie die evangelische Kirche sich unter diesen Bedingungen mit ihren Überzeugungen, ihren Werten und ihrem Glauben in politische Debatten einbringen kann. Das erfordert zum einen die Rückbesinnung auf die Grundsätze der EKD-Denkschrift von 1985, zum anderen das Aufnehmen neuer Fragestellungen. Manche Frage stellt sich heute anders und dringlicher, etwa die Frage, mit wem man spricht und mit wem manGespräche ablehnt bzw. unter welchen Bedingungen Gespräche auch mit denen möglich sind, die Menschen ausgrenzende Positionen vertreten. Eine zu frühe Grenzziehung kann Positionen stärken, die man nicht stärken möchte. Fehlende oder unklare Grenzziehungen können grundlegende Werte in Gefahr bringen. So erscheint das Evangelium nicht nur als eine Botschaft, von der her materiale Überzeugungen in die gesellschaftlichen Debatten einzubringen sind, sondern auch als Botschaft, die mit ihrem starken Freiheitsimpuls für einen breiten, möglichst offenen Diskursraum eintritt.
Der Text richtet sich an alle diejenigen in Kirche, Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, die über unsere gegenwärtige gesellschaftliche Situation nachdenken und etwas zur Stabilität der Demokratie und zur Fortentwicklung unserer offenen Gesellschaft beitragen wollen. Ganz bewusst wählt der Kammertext nicht den Ton einer Verlautbarung. Er ist vielmehr – dem Thema angemessen – in einem nachdenklichen, diskursiven Ton geschrieben. Damit trägt er in die gegenwärtige öffentliche Debatte über Zustand und Zukunft unserer Gesellschaft, in der oftmals aufgeregt und laut gesprochen wird, einen eher behutsamen, auf Dialog ausgerichteten Ton ein. Ich wünsche dem Text sehr, dass dieser Ton und auch die Zwischentöne gehört und aufgenommen werden.
Der Kammer und ihrem Vorsitzenden, Professor Dr. Reiner Anselm, danke ich herzlich für ihre Arbeit!
Hannover, im August 2017
Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Landesbischof
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland