Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung
Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, August 2017
5. Wer ist zugehörig?
Der gesellschaftliche Wandel hat auf vielen Ebenen Fragen der Zugehörigkeit dringlich werden lassen. Vor allem durch die großen Fluchtund Migrationsbewegungen der vergangenen Jahre sind diese Fragen neu auf die politische Agenda gelangt. Dabei gehört es zu den Lernprozessen der demokratischen Kultur, anzuerkennen, dass die Zugehörigkeiten selbst nur in demokratischen Prozessen geklärt werden können. Gesichtspunkte wie beispielsweise eine bestimmte kulturelle Identität, wie Abstammung oder Nationalität mögen Anhaltspunkte liefern und entfalten eine mitunter verstörende Anziehungskraft. Sie stehen für die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und für den Wunsch, über Fragen der Zugehörigkeit nicht in einen politischen Diskurs eintreten zu müssen. Dennoch können sie die politische Urteilsbildung nicht ersetzen.
Demokratische Gesellschaften sind hier gezwungen, sich dem Konflikt zu stellen: zwischen der unaufgebbaren Anerkennung universaler, unteilbarer und unveräußerlicher Menschenrechte einerseits, die das Recht bedrohter Menschen auf Zuflucht und Schutz vor Verfolgung einschließen, und andererseits dem Recht der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die politische Ordnung des Gemeinwesens zu bestimmen und zu gestalten. Zu diesem Konflikt gehört auch die Auseinandersetzung darüber, wie humanitäre Flüchtlingsaufnahme, Asylverfahren und Zuwanderung in europäischer Verantwortung so gestaltet und gesteuert werden können, dass die Funktionsfähigkeit staatlicher Institutionen nicht gefährdet und der innergesellschaftliche Frieden bewahrt wird. Seit den Erfahrungen des Jahres 2015 liegt hier eine Kernfrage der politischen Auseinandersetzungen. Die Rechte aller bedrohten und verfolgten Menschen müssen geachtet und geschützt werden. Gleichzeitig erfüllt die politische Ordnung nur im Rahmen umgrenzter Räume ihre Grundfunktion, Freiheit und Sicherheit zu ermöglichen. Dieser Aspekt tritt noch stärker hervor, wenn man die Möglichkeiten der sozialen Sicherung mit einbezieht. Denn dann ist darüber zu entscheiden, wer mit welchem Beitrag für wen aufzukommen hat.
Die Frage der Zugehörigkeit wird dadurch verschärft, dass wichtige politische Entscheidungen nicht mehr allein in den vertrauten Räumen des Nationalstaats mit seinen gewachsenen Institutionen und im Rahmen einer kulturell und sprachlich relativ homogenen Bürgerschaft getroffen werden können. Damit sind solche Entscheidungen aber einer demokratischen Kontrolle nur eingeschränkt oder zumindest nur indirekt zugänglich. Das gilt häufig weniger für die formalen Verfahren demokratischer Mitbestimmung als vielmehr für die Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Partizipation. Denn die Zugangsschwellen für Einzelne wie für Organisationen sind in diesem Bereich erheblich. Die deutliche Spannung zwischen der Supranationalisierung und der Demokratie bietet den Nährboden für politische Positionen, die einem Isolationismus im Namen der Demokratie das Wort reden. Die Skepsis gegenüber einer steigenden internationalen Verflechtung, die auch in eine Skepsis gegenüber der EU ausstrahlen kann, wird aus dieser Spannung gespeist. Sie kann sich national wie international mit ganz unterschiedlichen politischen Optionen verbinden: Gegner des Freihandels bedienen sich ihrer ebenso wie Kritiker einer Politik großzügiger Zuwanderung.
Dies ist das Spannungsfeld, in dem sich die Demokratie heute bewähren muss: Auf der einen Seite steht eine aus der Hochschätzung von Freiheit und internationaler Solidarität entspringende Supranationalisierung, auf der anderen das Bedürfnis, die Regeln der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens selbst bestimmen zu können. Um beidem gerecht zu werden, muss die Demokratie zu Entscheidungen finden, die zwischen nationalen und supranationalen bzw. transnationalen Verpflichtungen, Regeln und Verfahren abwägen.
Im Zeitalter von Flucht und Migration braucht die Demokratie Verständigung darüber, wer zugehörig ist. Sie muss sich dem Konflikt zwischen den Rechten schutzsuchender Menschen und der Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens stellen.
Die Akzeptanz solcher Entscheidungen hängt dabei von mehreren Faktoren ab, die sich am Beispiel des Umgangs mit Geflüchteten verdeutlichen lassen: Zunächst sollten die Spannungen zwischen nationalen Ansprüchen und transnationalen Ansprüchen benannt werden. Dann gilt es, die Spannung zwischen den Rechten von Geflüchteten und Zuwandernden auf der einen und den Ansprüchen der Bürgerinnen und Bürger eines Landes auf der anderen Seite wahrzunehmen. Sodann ist zu prüfen, ob politischer Entscheidungsspielraum und auch Entscheidungsbedarf vorliegen oder ob Entscheidungen bereits durch Rechte der Betroffenen und durch eingegangene Verträge vorgegeben sind, etwa durch die Genfer Flüchtlingskonvention. An diesem Ort ist auch die Unterscheidung zwischen Schutzbedürftigen, Asylbewerberinnen und Asylbewerbern sowie Migrantinnen und Migranten zu beachten. Denn sie führt zu jeweils unterschiedlichen politischen Gestaltungsspielräumen und rechtlichen Ansprüchen, Gewährleistungen und Erwartungen. Schließlich ist zu bestimmen, wo genau politische Entscheidungen anstehen. Diese Debatte ist dann unter Anerkennung der Konflikte und der unterschiedlichen Positionen und Argumente zu führen.
Um die so identifizierten Themenkreise muss es dann eine offene politische Auseinandersetzung geben, die die unterschiedlichen Positionen anerkennt und im Wettstreit der Argumente nach Lösungen sucht. Dazu gehört, die politische Urteilsbildung nicht vorschnell durch vermeintlich nicht verhandelbare Regelungen stillzustellen. Hier und nur hier ist darauf zu achten, dass die Nöte und Sorgen derer, die Teil der politischen Gemeinschaft sind, genauso beachtet werden wie die Erwartungen von Zuwandernden und Geflüchteten. Und natürlich sollen auch die Chancen der Zuwanderung thematisiert werden. Dabei darf die Debatte durchaus kontrovers geführt werden. Ebenso wie die Befürworter einer großzügigen Einwanderungspolitik für ihre Position politisch streiten und sie unter den rechtsstaatlichen Bedingungen verteidigen dürfen, müssen auch jene in den Prozess demokratischer Meinungsbildung hineingenommen werden, die gegenüber jener Politik Vorbehalte haben. Auch ihre Anfragen müssen gehört werden.
Die demokratische Gesellschaft, und mit ihr die Kirchen, wird diese schwierigen Fragen mit demokratischen Mitteln lösen müssen: über den Austausch von Argumenten und über kommunikativ wie rechtsförmig geregelte Verfahren. Dazu bedarf es jedoch des Mutes, gerade auch die kontroversen und schwierigen Themen als Aufgabe der demokratischen Urteilsbildung und des politischen Handelns zu begreifen und sie nicht etwa der Kraft der herrschenden Verhältnisse oder der Märkte zu überlassen.