Christen und Juden III
1. Die Entwicklung seit Studie II
Zu den am meisten beachteten Teilen der Studie II aus dem Jahre 1991 gehört der Abschnitt "Der bisher erreichte Konsens". Auf der Grundlage der seit 1975 erschienenen offiziellen Erklärungen der Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war festgestellt worden: In den folgenden Fragen hat sich ein Einverständnis herausgebildet, das für alle Gliedkirchen gelten kann. Dabei wurden fünf Punkte benannt:
- Die Absage an den Antisemitismus
- Das Eingeständnis christlicher Mitverantwortung und Schuld am Holocaust
- Die Erkenntnis der unlösbaren Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Judentum
- Die Anerkennung der bleibenden Erwählung Israels
- Die Bejahung des Staates Israel
Was in den kirchlichen Erklärungen als Konsens zum Ausdruck kommt, hat sich auch in der Breite kirchlicher Meinungsäußerungen weitgehend durchgesetzt. Dies gilt nicht nur für die Gliedkirchen der EKD, sondern auch für die evangelischen Freikirchen. Und es kann weitgehend auch für die römisch-katholische Kirche vorausgesetzt werden. Allerdings gibt es durchaus auch Rückfragen, in einzelnen Punkten sogar Widerspruch. Unterschiedlich wird zudem beurteilt, was aus den Konsensaussagen zu folgern ist. Weitere Klarstellungen sind darum notwendig. Der Konsens muß sowohl befestigt wie vertieft werden. Zur Verankerung des Konsenses haben eine Reihe von Gliedkirchen der EKD Änderungen in ihren Grundordnungen vorgenommen. Zu seiner Vertiefung haben andere Gliedkirchen Erklärungen erarbeitet und veröffentlicht.
Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Judentum, von Christen und Juden, hatten bisher die Form kirchlicher Erklärungen angenommen. Eine Ausnahme macht lediglich die Evangelisch-reformierte Kirche, die bereits im Jahre 1988 eine solche Aussage in ihre Kirchenverfassung aufgenommen hat. Ihr folgten inzwischen die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (1991), die Evangelische Kirche der Pfalz (1995), die Evangelische Kirche im Rheinland (1996), die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg (1996), die Pommersche Evangelische Kirche (1997) und die Lippische Landeskirche (1998). Es ging darum, Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Judentum zu den Grundartikeln der Kirche selber zu zählen und sie entsprechend in den Kirchenverfassungen zu verankern. Die Aussagen kommen dabei nicht nur zu stehen in den Abschnitten der Kirchenverfassungen, die die Aufgaben der Kirche benennen, sondern vor allem in den Teilen, die das Wesen und das Bekenntnis der Kirche beschreiben. Naturgemäß sind solche Formulierungen knapp. Sie beschränken sich auf das, was in den Synoden breite Zustimmung zu finden vermag.
Im folgenden werden die Aussagen nach ihrer Häufigkeit angeordnet, wie sie in den Neuformulierungen anzutreffen sind.
Die bleibende Verbundenheit der Kirche mit dem jüdischen Volk
Die Hauptaussage der Ergänzungen in den Kirchenordnungen ist die von der bleibenden und notwendigen Verbundenheit der Kirche mit Israel. "Deshalb gehört es zum Wesen und Auftrag der Kirche, Begegnung und Versöhnung mit dem Volk Israel zu suchen"; Aufgabe der Synode ist es, "das Gespräch mit Juden zu suchen und die Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft zu fördern" (Ev-ref. Kirche). "Sie weiß sich zur Anteilnahme am Weg des jüdischen Volkes verpflichtet. Sie bleibt ... mit ihm verbunden" (Berlin-Brandenburg und Pomern). Eine theologisch profilierte Aussage der Verbundenheit ist es, wenn die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau sagt: "Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dies Zeugnis (nämlich das von der bleibenden Erwählung der Juden) ein."
Die bleibende Erwählung Israels
Die Aussage vom Bund Gottes mit Israel, d. h. von der bleibenden Erwählung Israels bzw. von der bleibenden Verheißung Gottes für sein Volk Israel ist das theologisch tragende Element aller Neuformulierungen in den Kirchenverfassungen. "Gott hat Israel zu seinem Volk erwählt und nie verworfen" (Ev.-ref. Kirche). Die Kirche "bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält" (Ev. Kirche im Rheinland). "Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie (die Kirche) neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen" (Ev. Kirche in Hessen und Nassau). "Sie erkennt und erinnert daran, dass Gottes Verheißung für sein Volk Israel gültig bleibt" (Berlin-Brandenburg und Pommern). Das Bekenntnis zu Gott erhält eine weitere nähere Bestimmung durch den Hinweis: "der ... sein Volk Israel erwählt hat und ihm die Treue hält" (Lippische Landeskirche).
Die Absage an den Antisemitismus
Diese Absage ist mehr als alle andern Aussagen inzwischen kirchliches Gemeingut geworden und wird gelegentlich in den Ergänzungen der Kirchenverfassungen hier und da aufgegriffen. "Zur Umkehr gerufen ... tritt (die Kirche) jeder Form von Judenfeindschaft entgegen" (Ev. Kirche der Pfalz). Die Gesamtsynode hat "dem Antisemitismus zu widersprechen" (Ev.-ref. Kirche). In den Aussagen über die Verbundenheit von Kirche und Judentum ist die Absage an den Antisemitismus stets mit enthalten.
Von der Mitverantwortung und Schuld am Holocaust sprechen die geänderten Grundordnungstexte eher indirekt, aber doch deutlich, z. B. wenn die Kirche sich "aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen" weiß (Ev. Kirche in Hessen und Nassau).
Die These von der Hineinnahme in den Bund Israels
Die Ev.-ref. Kirche sagt: Gott "hat in Jesus Christus die Kirche in seinen Bund hineingenommen". Eine anders akzentuierte Formulierung hat die Ev. Kirche der Pfalz gefunden: "Durch ihren Herrn Jesus Christus weiß sie (die Kirche) sich hineingenommen in die Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem ersterwählten Volk Israel": In den übrigen Neuformulierungen der Kirchenverfassungen wird eine solche Formulierung nicht verwendet (s. Teil 2 dieser Studie).
Weitere Aussagen
Neu gegenüber dem bis dahin zu erkennenden Konsens ist der Hinblick auf Gottes zukünftiges Handeln. Die Ev. Kirche im Rheinland stellt als wichtiges Element der Verbundenheit von Kirche und Israel die eschatologische Erwartung heraus: "Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde." Berlin-Brandenburg und Pommern sagen: Die Kirche "bleibt ... in der Hoffnung auf die Vollendung der Gottesherrschaft mit ihm (Israel) verbunden".
Ein weiteres Element der Gemeinsamkeit, auf das hingewiesen wird, ist das Hören auf Gottes Weisung: Die Tora hat Bedeutung sowohl für Juden wie für Christen (Berlin-Brandenburg und Pommern).
Zur Vertiefung des Konsenses haben jene Kirchen wichtige Beiträge geleistet, die seit Studie II neue Erklärungen zum Verhältnis von Kirche und Israel beschlossen und veröffentlicht haben. Es sind dies die Ev.-ref. Kirche (1992), die Ev.-.Luth. Kirche in Oldenburg (1993), die Ev. Kirche von Westfalen (1994 und 1999), die Ev.-luth. Landeskirche Hannovers (1995), die Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck (1997), die Evang.-Luth. Kirche in Bayern, die Lippische Landeskirche und die Evang.-Luth. Landeskirche Mecklenburgs (alle 1998). Die angeführten Erklärungen setzen den in Studie II skizzierten Konsens voraus, teilweise nehmen sie ausdrücklich und ausführlich darauf Bezug (Oldenburg, Kurhessen-Waldeck, Bayern).
Die Überwindung der Entfremdung vom Judentum
In Studie II ist dies die gemeinsame Überschrift der Abschnitte zu Antisemitismus und zum Holocaust. Dies bleibt das Hauptanliegen der Texte. Die Erklärungen sind vom ausdrücklichen Willen zur Umkehr geprägt. Die Verflochtenheit der Kirche in die Vorgeschichte des Holocaust kommt zum Ausdruck (Oldenburg, Bayern), die Verpflichtung, Antisemitismus und Antijudaismus entgegenzutreten, wird in allen Erklärungen betont. Antijudaismus wird als dem innersten Wesen des christlichen Glaubens entgegengesetzt erkannt (Bayern).
Die bleibende Verbundenheit der Kirche mit Israel
Was als Verbindendes schon bisher Konsens war, wird konkreter benannt. Als Stichworte dafür werden in den Erklärungen mehrfach genannt: die Heilige Schrift, die Schöpfung, die Treue Gottes, die Ethik des Doppelgebots der Liebe, die Vollendung der Welt (Oldenburg), der ungekündigte Bund (Hannover), der Glaube an den einen Gott, die Existenz als Volk Gottes, die jüdische Herkunft Jesu, das Einstehen für Frieden und Gerechtigkeit, die Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde (Kurhessen-Waldeck), das Bekenntnis zu dem einen Gott, dem Schöpfer und Erlöser, der Gottesdienst als Ausdrucksform des Glaubens, die Wechselbeziehungen zwischen Gerechtigkeit und Liebe (Bayern).
Das Unterscheidende
In den Erklärungen werden auch Merkmale hervorgehoben, die die Kirche vom Judentum unterscheiden. Das geschieht in pointierten Aussagen aus der Christologie, der Ekklesiologie und der Rechtfertigungslehre. Genannt werden z.B. die Bindung der Kirche an Jesus Christus, sein Kreuz, seine Auferstehung, sein Richtersein (Oldenburg), die Existenz der Christen als neue Kreatur, die Kirche als Leib Christi (Kurhessen-Waldeck). "Das Bekenntnis zu Jesus Christus, der um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt ist (Röm 4,25) trennt Christen und Juden" (Bayern). Die Hannoversche Erklärung dagegen stellt Fragen: Wie verhält sich die Berufung der Kirche aus Juden und Heiden zur Erwählung Israels? Inwiefern erlaubt die christliche Überzeugung, dass in Jesus Christus das Heil aller Menschen erschienen ist, einen offenen Dialog mit Juden? Was bedeutet es für das jüdisch-christliche Gespräch, dass beide Seiten dieselben Texte, das Alte Testament, die Hebräische Bibel, unterschiedlich auslegen?
Zur Judenmission
Formulierungen der Rheinischen Synodalerklärung von 1980 aufnehmend und fortführend stellt die Erklärung der Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen (1999) fest: "Juden und Christen bezeugen je für sich und füreinander die Treue Gottes, von der sie beide leben. Deshalb achten Christinnen und Christen jüdische Menschen als Schwestern und Brüder im Glauben an den Einen Gott. Der offene Dialog über Gottes Gnade und Wahrheit gehört zum Wesensmerkmal der Begegnung von Christen mit Juden. Diese Einsichten lassen nicht zu, dass Christen Juden auf den christlichen Glauben verpflichten wollen. Deshalb dstanziert sich die Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen von jeglicher Judenmission."
Schon vorher hat die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg in ihrer Synodalerklärung von 1990 festgestellt: "Deshalb ist es heute unsere Aufgabe herauszufinden, wie wir Jesus Christus allen bezeugen können, ohne die heilsgeschichtlich einmalige Stellung des jüdischen Volkes zu nivellieren oder zu negieren. Eine Judenmission lehnen wir ab."
Der Staat Israel
Die Stellung zum Staat Israel ist Anlaß und Inhalt einer Erklärung der Ev.-ref. Kirche: "Die Rückkehr der Juden in das Land Israel und ihr Wohnen in diesem Land stehen in unlösbarem Zusammenhang mit dem Zeugnis der Heiligen Schrift und der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Deshalb wenden wir uns entschieden gegen alle Bestrebungen, die Israel eine freie und unabhängige Existenz absprechen." Nicht unmittelbar vom biblischen Zeugnis, sondern von der christlichen Verantwortung her argumentiert die Erklärung von Kurhessen-Waldeck, wenn sie sagt: zu dieser "gehört das Bemühen darum, dass der Staat Israel mit seinen Nachbarn - insbesondere mit dem palästinensischen Volk - in gegenseitiger Achtung des Heimatrechts einen sicheren Frieden findet". Ähnlich formuliert die Bayerische Erklärung: "Christen unterstützen das Bestreben des jüdischen Volkes nach einer gesicherten Existenz in einem eigenen Staat. Zugleich sorgen sie sich um eine Friedenslösung im Nahen Osten, die die Rechte auch der Palästinenser und insbesondere der Christen unter ihnen einschließt und Sicherheit für alle dort lebenden Menschen gewährleistet." Die Westfälische Kirche verdeutlicht, dass sie in ihrer Synodalerklärung von 1999 mit "Israel" das Volk Gottes in biblischem Sinne meint. Sie hebt hervor: "Es ist also nicht der Staat Israel gemeint und keine Stellungnahme zu den politischen Konflikten des Nahen Ostens beabsichtigt. Die ökumenische Verbundenheit mit den Kirchen des Nahen Ostens fordert uns heraus, die berechtigten Anliegen von Israelis und Palästinensern auch künftig im Blick zu behalten."
Konsequenzen für die Praxis
Für die jüngeren Texte ist typisch, dass sie sich auch auf praktische Fragen beziehen. Die Ev. Kirche von Westfalen und die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche haben in ihren Gemeinden einen Gesprächsprozess in Gang gebracht, der sowohl die strittigen theologischen Themen wie deren Bedeutung für das Selbstverständnis der Kirche zum Inhalt hat. Die Oldenburgische und die Hannoversche Erklärung empfehlen besondere Sensibilität für den christlichen Sprachgebrauch im Gottesdienst und im Alltag, die Unterstützung bei der Erhaltung jüdischer Friedhöfe, das Studium des Judentums und seiner Geschichte. Die Geschichte der eigenen Landeskirche in der NS-Zeit und die daraus zu ziehenden Lehren werden in mehreren Erklärungen ins Auge gefaßt (Hannover, Mecklenburg). Die Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck ersucht ihre Gemeindeglieder, "sich in ihrem Zeugnis und in den Begegnungen vom Respekt vor der Glaubenserfahrung Israels leiten zu lassen und so Wege zu finden, Gott gemeinsam zu loben". Die Evang.-Luth. Kirche in Bayern entfaltet ein Programm der Wahrnehmung des Judentums und der Begegnung mit ihm auf allen kirchlichen Ebenen, besonders auf der Ebene der Aus- und Fortbildung.
1.2.1 Starke Zuwanderung in den neunziger Jahren
Nachdem bereits in den 80er Jahren Juden aus der Sowjetunion in Deutschland Aufnahme gefunden hatten, veränderte sich die Situation grundlegend durch die Entscheidung der ersten frei gewählten DDR-Regierung Mitte 1990, Juden aus der früheren Sowjetunion in größerer Zahl die Einwanderung zu eröffnen. Nach der Herstellung der Einheit Deutschlands wurde diese Entscheidung von der Bundesregierung übernommen und die russischen Juden als "Kontingentflüchtlinge" anerkannt. Auf diese Weise sind im letzten Jahrzehnt etwa 50.000 Juden aus der früheren Sowjetunion nach Deutschland gekommen, von denen allerdings nicht wenige in andere Länder weiter gewandert sind oder sich keiner jüdischen Gemeinde angeschlossen haben. Die Gesamtzahl der Juden in Deutschland ist auf über 80.000 angestiegen.
Diese Entwicklung hat für die jüdischen Gemeinden zu einschneidenden Veränderungen geführt. Die bestehenden Gemeinden gewannen neue Mitglieder aus allen Altersgruppen, was zur Verdoppelung oder gar Vervielfachung ihrer Mitgliedszahlen führte. Darüber hinaus haben sich an vielen weiteren Orten neue Gemeinden gebildet, die ebenfalls beachtliche Mitgliederzahlen erreicht haben. Häufig knüpften sie an Traditionen aus der Zeit vor der NS-Herrschaft an. Wo es noch keine Staatsverträge zwischen Bundesländern und jüdischen Gemeinden gab, sind diese inzwischen abgeschlossen worden oder in Vorbereitung; alte Verträge wurden den neuen Verhältnissen angepaßt. Auch einige wissenschaftliche und pädagogische Institutionen konnten mit staatlicher Hilfe errichtet und finanziell abgesichert werden.
Die jüdischen Gemeinden sehen sich durch diese Entwicklung vor gewaltige Herausforderungen gestellt. Die meisten Zuwanderer waren in der Sowjetzeit jüdischem Gottesdienst und jüdischem Leben entfremdet; sie müssen an jüdische Traditionen erst wieder herangeführt werden. Die jüdische Identität der Zuwanderer ist zudem nicht in allen Fällen geklärt. Auch die sprachliche und berufliche Integration der Zuwanderer in die deutsche Gesellschaft stellt vor große Probleme. Diese Integrationsprozesse sind noch längst nicht abgeschlossen und nehmen in den jüdischen Gemeinden viel Kraft und Zeit in Anspruch.
Andererseits haben die Zuwanderer auch viele neue Impulse gegeben. Durch die große Zahl von Kindern und Jugendlichen unter ihnen hat sich die Altersstruktur der jüdischen Gemeinden sehr verändert. So wurden neue jüdische Kindergärten und Schulen eingerichtet und Jugendgruppen gegründet.
1.2.2 Größere Vielfalt in den Gemeinden
Die mit der Zuwanderung verbundene Stärkung des Judentums hat in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland eine größere Vielfalt entstehen lassen. Nach 1945 erschienen angesichts der geringen Mitgliederzahlen nur "Einheitsgemeinden" möglich, in denen sich der Gottesdienst am orthodoxen jüdischen Ritus ausrichtete, auch wenn bei weitem nicht alle Mitglieder dieser Richtung zuneigten. Inzwischen gibt es Grossstadtgemeinden mit mehreren Synagogen, wie z.B. Berlin, wo in bestimmten Synagogen die Gottesdienste nach orthodoxem, in anderen nach einem Reform-Ritus gehalten werden. In kleineren Gemeinden mit nur einer Synagoge werden die Gottesdienste zum Teil abwechselnd in der einen oder anderen Form gehalten, oder man teilt die Gottesdienste nach dem Größenanteil auf Synagoge und Betstube auf oder weicht auf neutrale Räume aus. Unverkennbar ist, dass das religiös-liberale Judentum, das im 19. Jahrhundert von Deutschland ausgegangen war, hierzulande wieder Fuß fasst. Ein eigenes Gebetbuch mit deutscher Übersetzung ist erschienen. In Niedersachsen hat sich ein liberaler Landesverband gebildet. Ebenso haben sich auf der entgegengesetzten Seite des Spektrums orthodoxe Gemeinden (wie "Adass Jissroel" in Berlin) (wieder)gegründet; auch ein Verband "gesetzestreuer" Jüdischer Gemeinden ist entstanden. Bei der Prägung der Gemeinden spielen die Kantoren und Rabbiner eine wichtige Rolle. Unter ihnen heben sich die Anhänger der Lubawitscher Chassidim als besondere Gruppe heraus. Auch hier ist die Entwicklung noch im Fluß. Das Bild des religiösen Judentums in Deutschland ist jedenfalls deutlich vielfältiger - und zugleich unübersichtlicher - geworden.
Im Zusammenhang mit der Integration der Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion und der Herausbildung von Richtungsgemeinden ist es in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland verständlicherweise an nicht wenigen Orten zu erheblichen Spannungen gekommen. Es steht jedoch zu hoffen, dass die Integration der Zuwanderer allmählich doch gelingt und die Entwicklung größerer Vielfalt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu einer Bereicherung des religiösen Lebens in Deutschland wird.
In der jüdischen Gemeinschaft wird nach wie vor darüber diskutiert, wie die in Deutschland lebenden Juden ihre Identität bestimmen wollen - als "Juden in Deutschland", "deutsche Juden" oder als "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens". Für letztere Definition hat sich besonders der verstorbene Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, eingesetzt.
Die Veränderungen innerhalb der jüdischen Gemeinden haben auch Auswirkungen auf das christlich-jüdische Verhältnis in Deutschland. Die Generation der Juden, die nach der Schrec kenszeit der Schoa wieder nach Deutschland kam und hier den Dialog mit Christen aufnahm und trug, steht immer weniger zur Verfügung. Die Beanspruchung der Juden durch ihre enormen internen Integrationsaufgaben führt bei den Jüngeren dazu, dass sie nur in deutlich eingeschränktem Maß zu einem Dialog in der Lage sind. Der Generationenwechsel zieht auch andere Fragestellungen und eine veränderte Interessenlage nach sich. Jüdische Gemeinden sind immer wieder alarmiert durch Anzeichen einer hier und da auftretenden Judenmission. Diese Ängste und Befürchtungen dürfen von christlicher Seite nicht überhört werden; sie sind ernst zu nehmen (vgl. 3).
Immer noch und immer wieder werden Jüdinnen und Juden als Fremde empfunden und abgelehnt. Jüdische Friedhöfe werden nach wie vor zu Orten fremdenfeindlicher Exzesse. Die Gefahr des Antisemitismus ist noch nicht überwunden. Darum bedarf dieser Bereich weiterhin besonderer Aufmerksamkeit (vgl. 4.1.3).