Christen und Juden III
5. Orientierungen im christlich-jüdischen Gespräch
5.1 Im Schatten von Auschwitz
Jede Begegnung zwischen Christen und Juden geschieht heute im Schatten von Auschwitz, zumal in Deutschland. Der systematisch vorbereitete und brutal ausgeführte Mord an Millionen von Juden und darüber hinaus einer großen Zahl von Nichtjuden, deren Menschenrecht auf Leben die nationalsozialistische Ideologie ebenfalls verneinte, stellt einen irreparablen Bruch in der europäischen Geschichte und Geistesgeschichte dar. Der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno spricht von einem „neuen kategorischen Imperativ“, an dem sich alles Denken und Handeln zu messen habe: dass Auschwitz nicht noch einmal sei!
Für die Kirche und für die christliche Theologie hat Auschwitz dazu noch eine eigene theologische Dimension: die Schuld vor Gott. Denn zugleich mit den Juden hat die Kirche den Gott verraten, der in Jesus Christus seine Kirche unauflöslich mit dem jüdischen Volk verbunden hat. Wo christlicher Glaube und kirchliche Lehre die Beziehung zum Judentum als zufälliges, geschichtlich bedingtes Faktum abtun, verleugnen sie den in der Schrift bezeugten Gott Israels, seinen Bund und seine Erwählung. Schon um ihrer eigenen Botschaft willen hätten die Christen dem erklärten Ziel der Nationalsozialisten, das Judentum auszurotten, Widerstand leisten müssen. Dass sie es nicht taten - oder nur in verschwindend kleiner Zahl - unterstreicht die Notwendigkeit einer fundamentalen Kritik der von traditionell antijüdischen Denkmustern geprägten christlichen Theologie.
Diese Einsicht setzt sich erst allmählich durch. Viele Abwehrmechanismen auf Seiten der Christen waren und sind zu überwinden, bevor Christinnen und Christen die schuldhafte Verwicklung von Kirche und Theologie in jene Katastrophe, für die der Name Auschwitz steht, zu erkennen bereit sind. Die Verbindungslinien zwischen der Behauptung, die Kirche sei an die Stelle Israels getreten, während die Juden als vermeintliche Gottesmörder unter einem ewigen Fluch stünden, hin zu den Judenpogromen, die durch die Jahrhunderte das christliche Abendland von Spanien bis nach Russland überzogen und in letzter Konsequenz nach Auschwitz führten, treten immer deutlicher zutage. Die vordringliche Aufgabe jeder christlichen Theologie, die von Auschwitz berührt (Johann Baptist Metz) ist, bleibt es, das traditionelle Antiverhältnis zum Judentum zu überwinden. Im Hören auf die Schrift wird sie Israel als Volk Gottes bejahen und würdigen, dass Juden und Christen unterwegs sind zu demselben Ziel, wenn auch auf verschiedenen Wegen. Die in Studie II und in dieser Studie gewonnenen neuen Einsichten zu den biblischen Begriffen Volk Gottes, Christus / Messias und Bund untermauern exegetisch die Überzeugung, dass zwischen Gottes Treue zu seinem Bundesvolk Israel und dem Heil aller Menschen ein unauflösbarer Zusammenhang besteht. Die Kirche kann darum ihre Identität nicht gegen Israel oder an Israel vorbei beschreiben. Aus dieser besonderen Nähe zum Judentum erwuchs, wie die Theologiegeschichte zeigt, allerdings immer wieder die Gefahr einer Verfremdung oder gar Enteignung jüdischer Vorstellungen und Begriffe, die in der Konsequenz zu Judenfeindschaft führte. Auf diese Gefahr zu achten, ist nach Auschwitz eine Frage der Glaubwürdigkeit jeder christlichen Theologie.
5.2 Das Alte Testament als Schrift der Christen
„Das christlich-jüdische Verhältnis ist dadurch einzigartig, dass Juden und Christen die Schrift gemeinsam haben, die die Bibel Jesu, seiner Jünger und der neutestamentlichen Autoren ist.“ (Studie II, 3.2.2). Dies ist in der Vergangenheit kaum gewürdigt worden und blieb deshalb folgenlos. Die jüdische Schriftauslegung zum Beispiel schien den Christen ohne theologische Bedeutung, da die Juden Christus als den für sie entscheidenden Schlüssel zur Auslegung der Schrift ablehnten. In der christlichen Kunst des Mittelalters kommt diese Einstellung zum Ausdruck in dem beliebten Motiv von Kirche und Synagoge, das - in Anspielung auf 2.Kor 3,14ff - die blinde Synagoge mit den zerbrochenen Tafeln des Bundes im Kontrast zur triumphierenden Kirche zeigt.
Im christlich-jüdischen Gespräch haben Christen neu entdeckt, welchen Gewinn für Auslegung und Bibelwissenschaft es bedeutet, die jüdische Schriftauslegung in Talmud und Midrasch kennen zu lernen. Es war Hochmut zu meinen, die Juden, die seit mehr als 2000 Jahren mit der Schrift umgehen, hätten den Christen nichts zu sagen.
Das Evangelium von Jesus Christus ist nicht zu verstehen ohne das Alte Testament. Dass Gott Liebe ist und Versöhnung will - nicht nur für Israel, sondern für die gesamte Menschheit - ist alttestamentliche und jüdische Tradition. Gerade die Texte, die von der Deutung des Todes Jesu als Heilsereignis sprechen, sind stark alttestamentlich geprägt (Mk 14,24; Röm 3,25). Für die neutestamentlichen Zeugen ist das, was im Alten Testament von Gott gesagt ist, verdichtet in der Person Jesu Christi, dem fleischgewordenen Wort Gottes. Das „Neue“ ist in der Deutung des Neuen Testamentes gerade das Alte, nämlich das von alters her als das Neue Erwartete.
Im Rahmen ihres zweiteiligen Kanons hat die christliche Kirche die jüdische Bibel - ihr „Altes Testament“ - stets von Christus her und auf Christus hin verstanden. Ohne Zweifel wird damit eine Perspektive eingenommen, die nicht aus dem Alten Testament selbst hervorgeht, sondern vom Neuen Testament her an das Alte herangetragen wird. Aber auch die umgekehrte Perspektive ist für das christliche Verständnis unaufgebbar, um die Botschaft Jesu im weiten Horizont der biblischen Verheißungen und damit ihn selbst als den Christus zu verstehen. Ohne die Sprache des Alten Testaments würde der Kirche die Sprache überhaupt ausgehen. Zentrale Begriffe des Neuen Testaments wie Sühne und Vergebung, Rechtfertigung und Heil kommen aus dem Alten Testament. Es ist noch zu wenig ins Bewußtsein gerückt, dass eben diese Sprache bis heute - im wörtlichen und im übertragenen Sinne - im jüdischen Volk gesprochen wird. Für Christen kann es nur ein Gewinn sein, zu erfahren, wie Jüdinnen und Juden die Schrift deuten und in ihrem Leben darauf antworten: Die jüdische Bibel und das jüdische Volk gehören zusammen.
Wie das Neue Testament sich auf das Alte Testament bezieht, so steht auch die nachbiblische jüdische Tradition, die im Laufe der Jahrhunderte gesammelt und schriftlich zusammengefasst wurde (z.B. in den beiden Talmudim) unbestreitbar in Kontinuität zur Schrift. Jeder Versuch, jüdische Auslegung oder jüdisches Leben mit der Tora als defizitär zu beschreiben, ist entschieden zurückzuweisen. Angemessen ist vielmehr eine Haltung des Respekts und der Dankbarkeit gegenüber den jüdischen Lehrern, die über Jahrhunderte hinweg den alttestamentlichen Text und das Verständnis seines Wortlauts bewahrt und auch der Kirche überliefert haben.
5.3 Die Einheit der Bibel
Es gab und gibt auf Seiten der Christen immer wieder Versuche, das Neue gegen das Alte Testament auszuspielen, so etwa mit der Begründung, das Gottesbild des Alten Testamentes sei von dem des Neuen Testamentes grundsätzlich verschieden (vgl. Studie II, 3.2.2.). So wird unterstellt, der Gott des Alten Testamentes (und der Juden) sei ein ferner, richtender Gott. Im Neuen Testament dagegen würde Gott als der zugewandte, barmherzige und menschenfreundliche Gott (der Christen) dargestellt. Solche Gegensätze beruhen auf Vorurteilen und sind aus den biblischen Texten nicht zu rechtfertigen. Das Neue Testament selbst gibt nirgends einen Hinweis darauf, dass das Gottesbild des Alten Testamentes ganz oder teilweise zu korrigieren sei. Es gibt sowohl im Alten wie im Neuen Testament Texte, die für Bibelleser anstößig sind und der Auslegung bedürfen. Die jüdische Art, mit schwierigen Texten des Alten Testamentes umzugehen, kann für Christen eine Hilfe sein - auch im Blick auf das Neue Testament.
Christen würden sich zu Richtern über Gottes Wort machen, wenn sie eigenmächtig jeweils entscheiden wollten, was ihnen, zum Beispiel am Gottesbild der Bibel, akzeptabel scheint und was sie ablehnen und daher aus ihrer Bibel verbannen möchten. Solche Versuche hat es von Marcion, der im 2. Jahrhundert lebte, bis zu den „Deutschen Christen“ in der NS-Zeit immer wieder gegeben. Auch in der Gegenwart findet sich besonders in der populärwissenschaftlichen Literatur gelegentlich eine das Alte Testament pauschal diskreditierende Bewertung.
Die Einheit zwischen Altem und Neuem Testament tritt klarer hervor, wenn man vermeidet, alttestamentliche Texte ausschließlich in christologischer Perspektive zu lesen. In der Schrift begegnet Juden und Christen der eine Gott, der sich zu erkennen gibt in seinen „herrlichen Taten“: Gott, der mit den Menschen unterwegs ist und ihnen Gnade und Barmherzigkeit erweist. Auf diese, Juden und Christen verbindende Grundüberzeugung sollte bei der Rezeption alttestamentlicher Texte immer wieder hingewiesen werden.
5.4 Sachkritik am Neuen Testament?
Die kritische Sichtung antijüdischer Traditionen im Christentum hat zu der Frage Anlass gegeben, ob und in welchem Maße die Wurzel judenfeindlicher Einstellungen bereits im Neuen Testament zu suchen ist. In der Tat gibt es Stellen im Neuen Testament, die Jesus und - später - die christusgläubige Gemeinde im Konflikt mit Juden zeigen bzw. solche Konflikte voraussetzen
Für eine sachgemäße Auslegung solcher Texte ist dreierlei zu beachten:
- Die in den Evangelien geschilderten Auseinandersetzungen Jesu, etwa mit Pharisäern und Schriftgelehrten, sind innerjüdische Konflikte. Man mag sie mit einem Familienstreit vergleichen, der mit Härte ausgetragen wird, aber die grundsätzliche Zusammengehörigkeit nicht in Frage stellt.
- Zweitens ist in den Evangelien zu unterscheiden zwischen der erzählten Jesusgeschichte und dem, was aus der aktuellen Situation der einzelnen Evangelisten bzw. ihrer Adressaten in die Darstellung mit einfließt. So schlagen sich z.B. im Matthäusevangelium Probleme nieder, die erst in der Zeit nach 70 n.Chr. eine Rolle spielen. Bei einer Reihe von antijüdisch empfundenen Texten eröffnen die Analyse des historischen Hintergrunds und die Berücksichtigung der begrenzten Aussageabsicht eines Textes durchaus Möglichkeiten einer nicht polemischen, sachgemäßen Interpretation.
- Drittens ist darauf zu achten, dass die spätere Trennung von Juden und Christen nicht schon in die Interpretation der neutestamentlichen Texte eingetragen wird.
Umstritten ist, wie weit die Sachkritik - also die Zurückweisung einzelner biblischer Aussagen von der Mitte der Schrift her - gehen darf. Einerseits beruft man sich auf die Mündigkeit des Christentums, das um seiner Glaubwürdigkeit willen aus der nachweisbar fatalen Wirkungsgeschichte einiger neutestamentlicher Texte nun auch Konsequenzen ziehen müsse. Andererseits gibt es grundsätzliche Vorbehalte gegen Sachkritik an biblischen Texten: Der offene Prozess der Exegese werde durch Sachkritik abgebrochen und die Möglichkeit, das vermeintlich schon Verstandene noch einmal anders zu verstehen, verbaut.
Es scheint noch kaum ausgelotet, wie grundsätzlich die Anfragen an den christlichen Umgang mit der Schrift sind, die sich aus der Aufdeckung der negativen Seiten ihrer Wirkungsgeschichte ergeben. Die Autorität der Bibel ernst zu nehmen erfordert von Christen, dass sie von deren Mitte her die Interpretationsmuster und das Vorverständnis ihrer Interpreten immer wieder befragen und überprüfen.
5.5 Die Wiederentdeckung der Kapitel 9 bis 11 des Römerbriefs
Sehr verschieden sind die geschichtlichen Beziehungen zwischen Synagoge und christlicher Gemeinde, die den jeweiligen Hintergrund der neutestamentlichen Texte bilden. Sie reichen von bestätigender Anknüpfung an das (seinerseits höchst disparate) Judentum bis zu vernichtender Polemik. Das Neue Testament gibt Einblick in die Entstehungszeit des Christentums. In ihm werden nicht nur die für seine frühe Entwicklung maßgeblichen Hauptlinien sichtbar, sondern auch die konkreten geschichtlichen Umstände, unter denen seine Glaubensüberzeugungen ausfomuliert worden sind (z.B. beim sog. Apostelkonzil, s.o. 3.2.3). Verschiedene theologische Stränge liefen damals nebeneinander her, deren grundlegende Gemeinsamkeit im Bekenntnis zu Christus als dem auferstandenen Herrn bestand.
Bei dem Versuch, zu einer theologischen Verhältnisbestimmung von Christen und Juden in der Gegenwart zu gelangen, kann man sich daher nicht auf einzelne Schriftstellen berufen. Stattdessen ist der Gesamtzusammenhang neutestamentlicher Verkündigung zu beachten und der Kontext eines Textes - damals und in der Gegenwart - zu berücksichtigen. Ein Beispiel für solches Vorgehen ist die Entscheidung in Studie II (3.4.4) dem Abschnitt Römer 9 bis 11 bei der theologischen Urteilsbildung über den Begriff „Volk Gottes“ Priorität einzuräumen. In der vorliegenden Studie (2.6) kann umgekehrt dem Hebräerbrief keine vergleichbare Schlüsselstellung zugewiesen werden.
Im Anschluss an Römer 9,1-5 hat sich heute die Überzeugung durchgesetzt, dass alle Juden, auch die nicht an Christus glaubenden, in der Kontinuität des Bundes und der Verheißungen Gottes stehen : Sie sind „Israeliten ... denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch“. Die alte kirchliche Tradition, die in Israel nur mehr eine Größe der Vergangenheit sah, läßt sich biblisch nicht rechtfertigen. Diese Einsicht hat für das christlich-jüdische Gespräch grundlegende Bedeutung (s.o. 2.1 und 3.2.4).
Inspiriert von Römer 9 bis 11 erweist sich ein theologischer Ansatz, der das ewige, Zeiten und Völker umfassende Wort Gottes in den Vordergrund stellt, im Unterschied zu einem individualistisch, allein auf die Entscheidung des Einzelnen ausgerichteten Verständnis des Evangeliums als der Schrift gemäßer. Die neue Sicht auf Römer 9 bis 11 hat den für den evangelischen Glauben zentralen Punkt der Rechtfertigung allein aus Gnaden durch Glauben vertieft, indem sie diese mit der Treue Gottes zu seinem erwählten Volk Israel in Beziehung setzt. Sie ist ein Beispiel dafür, wie der Dialog mit dem Judentum sich bereichernd für das Verständnis des eigenen Glaubens auswirken kann.
5.6 Konturen des christlich-jüdischen Gesprächs in der Gegenwart
Grundvoraussetzung für den Dialog zwischen Christen und Juden ist die Bereitschaft vieler Juden, sich trotz Auschwitz auf das Gespräch mit Christen einzulassen. Paradoxerweise ist der Dialog mit dem Judentum nie so intensiv geführt worden wie seit dem Zweiten Weltkrieg, obwohl infolge der Vertreibung und Vernichtung die Zahl der jüdischen Gelehrten und Gemeinden in Deutschland immer noch sehr gering ist. Vor dem Krieg, als sich u.a. einige der renommiertesten jüdischen Hochschulen auf deutschem Boden befanden, wurde diese Chance - mit wenigen Ausnahmen - vertan.
Zu den Voraussetzungen eines gelungenen Dialogs gehört die Bereitschaft, die vielfältige Gestalt des Judentums wahrzunehmen. Im jüdischen Selbstverständnis gibt es ebenso deutliche Unterschiede wie im christlichen. Die Beziehungen zwischen Juden und Christen haben oft darunter gelitten, dass von christlicher Seite den Juden ein aus dem Bezugsrahmen christlicher Theologie gewonnenes Verständnis des Judentums unterstellt und ihr eigenes Selbstverständnis dadurch nicht wahrgenommen wurde. Um über den Glauben sprechen zu können, muss man außerdem - wie auch sonst in der Ökumene - zunächst zu einer Verständigung über die Sprache kommen. Oft sind dieselben Worte bei Juden und Christen unterschiedlich gefüllt (z.B. die Begriffe Gesetz, Gerechtigkeit, Erlösung). An ethischen Fragen und an den Möglichkeiten gemeinschaftlichen Engagements sind die jüdischen Gesprächsteilnehmer häufig stärker interessiert als an der Frage, wie Christen Gott oder Jesus Christus verstehen.
Eine weitere Bedingung für den Dialog ist seine prinzipielle Offenheit (vgl. Abschnitt 3 dieser Studie). Im Gespräch zwischen Juden und Christen soll das je eigene Zeugnis Platz haben und bereichernd wirken, aber nicht auf Bekehrung des anderen ausgerichtet sein. Nach den überwiegend leidvollen Erfahrungen, die Juden im Lauf ihrer Geschichte mit Christen gemacht haben, ist für viele Juden eine unmißverständliche Absage an die Judenmission Voraussetzung für ein ehrliches und gleichberechtigtes Glaubensgespräch.
Das leitende Interesse der Partner im christlich - jüdischen Dialog ist nicht identisch: Christen können ihre eigene christliche Identität nicht bestimmen, ohne sich über ihr Verhältnis zu den Juden und zum jüdischen Glauben Rechenschaft abzulegen. Gerade in ihrem Bemühen um ein neues Verstehen der jüdischen Wurzeln ihres Glaubens sind sie auf jüdische Gesprächspartner angewiesen. Nach einer jahrhundertelangen Geschichte der Verzeichnung und Diffamierung des jüdischen Glaubens hat der begonnene Dialog in erster Linie den Charakter des Lernens, aber auch des Verlernens von negativen Klischees. Juden brauchen das Christentum nicht, um ihren eigenen Glauben zu beschreiben, obwohl auch das Judentum im Verlauf seiner Entwicklung vom Christentum beeinflusst worden ist. Sie wollen in der Begegnung mit Christen vor allem ein authentisches Bild vom Judentum vermitteln und auf diese Weise Vorurteilen und antisemitischen Einstellungen entgegenwirken. Die Gestaltung des Zusammenlebens zwischen Juden und Nichtjuden in einer traditionell christlich geprägten Umgebung ist ein wichtiges Anliegen. Der latente Antisemitismus in Deutschland und anderen Ländern bleibt dabei der Kontext, dem auch die christliche Seite ihre Aufmerksamkeit schenken muss. Das Wachhalten der Erinnerung an die Opfer der Schoa ist eine gemeinsame Aufgabe. Jede Generation wird dafür die eigenen angemessenen Formen finden müssen (vgl. 4.5).
Angesichts der wenigen jüdischen Gemeinden in Deutschland haben viele Christen kaum eine Möglichkeit, nachbarschaftliche Beziehungen zu einer jüdischen Gemeinschaft aufzubauen oder sich direkt am jüdisch-christlichen Dialog zu beteiligen. Dass jüdische Gemeinden angesichts ihrer eigenen integrativen Aufgaben (vgl. Abschnitt 1.1.2.) oft überfordert sind mit den Anfragen christlicher Gruppen nach Begegnung oder Teilnahme am Synagogengottesdienst, darf ihnen nicht als Desinteresse ausgelegt werden. Es ist zu wünschen, dass auch von kirchlicher Seite in Unterricht und Verkündigung die Aufgabe übernommen wird, jüdische religiöse Positionen unverstellt zu vermitteln und Kenntnisse des jüdischen religiösen Lebens weiterzugeben. In die eigene theologische Arbeit können die Früchte des jüdisch-christlichen Gesprächs, die inzwischen in einer umfangreichen Literatur Niederschlag gefunden haben, einbezogen werden. So wirkt darin indirekt ein dialogisches Element.
Wünschenswert ist jedoch die Präsenz jüdischer Lehrerinnen und Lehrer an den Theologischen Fakultäten und Ausbildungsstätten, wie sie an mehreren Orten schon seit längerem gegeben ist.
5.7 Vor neuen Aufgaben
Das christlich-jüdische Gespräch hat bedeutende Ergebnisse erzielt. Es ist bisher jedoch trotz großer Bemühungen nur unzureichend gelungen, diese auch auf die Ebene der Gemeinden zu tragen. Hier liegt eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft.
In den zurückliegenden Jahren standen die kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Kirchen im Dritten Reich und die Suche nach einer Theologie, die die überkommenen antijüdischen Denkmuster hinter sich lässt, im Vordergrund. Die Themen hat dabei oft die christliche Seite vorgegeben. So unverzichtbar diese Phase des Dialogs gewesen ist, um Christen überhaupt erst dialogfähig zu machen, so gewiß wird die Bedeutung des christlich-jüdischen Dialogs gerade für die jüdischen Gesprächspartner in Zukunft davon abhängen, ob seine Inhalte die beide Seiten berührenden drängenden Themen unserer Zeit betreffen.
Die pluralistische Gesellschaft braucht dringend Modelle, wie mit den kulturellen und religiösen Differenzen positiv umzugehen ist, die so oft Anlaß zu Konflikten geben - sogar innerhalb einzelner Religionsgemeinschaften. Die Frage, wie sich die eigene Identität ohne Überheblichkeit oder eine abwehrende Haltung gegen die jeweils „anderen“ bestimmen und behaupten läßt, steht heute an vorderster Stelle. In einer unübersichtlich gewordenen Welt, in der es immer weniger gemeinsame Werte und Traditionen gibt, wächst das Bedürfnis des Einzelnen nach Identität.
Christen haben im Dialog mit dem Judentum gelernt, die wechselseitige Beziehung zwischen Theologie und Glaubenspraxis ernster zu nehmen. Sie beginnen nach Auschwitz zu erkennen, dass sowohl die Sprache als auch das Handeln Kriterien für die Wahrhaftigkeit von Theologie sind. Diese Umkehr im Denken muss sich in einer veränderten Praxis bewähren.
Die Hinwendung zum Alten Testament als der gemeinsamen Bezugsgröße im Gespräch mit Juden hat den Blick geschärft für den Wert der biblischen Tradition gerade in den aktuellen Auseinandersetzungen um gesellschaftliche und ethische Probleme (vgl. Abschnitt 4.1-5).
Der Traditionsabbruch, der sich am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts unübersehbar zeigt, stellt Christen und Juden gleichermaßen vor die Herausforderung, in einer Welt, die den Namen Gottes kaum noch nennt, von der Hoffnung des Glaubens und seiner orientierenden Kraft Zeugnis zu geben.
Christen und Juden bestimmen ihre Identität aus dem Glauben an Gott, der den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen hat und ihm in seinem Wort den Weg zum Leben offenbart. Die biblische Rede vom Bund hat für beide - allerdings in unterschiedlicher Weise - identitätsstiftende Bedeutung (vgl. Abschnitt 2): Für Juden ist ihr Gottesbund mit der Gabe der Tora unauflöslich verknüpft. Für Christen ist die Gemeinschaft mit Christus, wie sie besonders im Heiligen Abendmahl erfahren wird, die Grundlage des endzeitlich erneuerten Bundes. Durch diesen Bund haben sie teil an Israels Hoffnung auf die Vollendung des Gottesreiches, dessen Anbruch im Kommen Jesu Christi sie glaubend bezeugen.
Ein wichtiges Anliegen der Theologie nach Auschwitz ist die Überwindung der Vorstellung, christliche Identität könne sich nur in polemischer Abgrenzung zum Judentum aussprechen.
Die in Teil 2 dieser Studie vorliegende Untersuchung zeigt exemplarisch, dass die traditionelle Rede vom „alten“ und „neuen“ Bund, die bewusst oder unbewusst fast immer eine Herabsetzung des Judentums einschloß, sich keineswegs auf die Breite der biblischen Tradition stützen kann.
Als Ergebnis von Studie II und dieser Studie kann aber auch festgehalten werden, dass die Suche nach einer biblisch fundierten Formel, mit der sich das Verhältnis zwischen Kirche und Israel treffend beschreiben ließe, bisher zu keiner befriedigenden Lösung geführt hat. Deutlich erweist sich allerdings am Bundesbegriff, wie sehr die frühe Gemeinde ihr Bekenntnis zu Christus aus der Mitte der Schrift heraus verstanden hat.
Der christlich-jüdische Dialog lebt davon, dass beide Partner die Glaubensüberzeugung des jeweils Anderen in ihrem Anspruch auf Wahrheit respektieren und sich darauf einlassen, ihre eigene Glaubensüberzeugung zu der des Anderen in Beziehung zu setzen. Von Christen und Juden wird Gott als Grund und Einheit aller Wahrheit verstanden; zugleich wissen sie aber, dass Gottes Wahrheit für seine Schöpfung noch nicht vollständig erschienen ist. Insofern schafft für beide der Verweis auf Gott als Grund und Ort der Wahrheit Raum für das Wahrheitsbewußtsein des jeweils Anderen (Vgl.Teil 3).
Wenn es der Kirche gelänge, an der tiefsten Bruchstelle, die ihre Geschichte über Jahrhunderte geprägt hat, neue Wege zu beschreiten und vorzuleben, dass ihr Vertrauen in Gott, „der da ist, der da war und der da kommt“ (Offb1,8) so groß ist, dass, was Juden und Christen im Glauben trennt, ausgehalten werden kann und das geschwisterliche Leben miteinander nicht hindern muss, dann wäre sie ein hoffnungsvolles Zeichen für die Möglichkeit versöhnten Lebens in der Zerrissenheit der Welt.