Christen und Juden III
4. Handlungsfelder und Aufgaben von Christen und Juden
4.1 Menschenrechte
Die Juden und Christen gemeinsame biblische Grundlage eröffnet eine Fülle von Perspektiven und Handlungsfeldern, in denen ein Zusammenwirken Gestalt gewinnen kann. Allerdings lassen sich zweitausend Jahre der Abgrenzung der Kirche vom Judentum mit ihrem christlichen Antijudaismus nicht einfach überspringen. Für eine gemeinsame Verantwortung vor der Welt muß erst das Vertrauen zwischen beiden Religionsgemeinschaften wachsen.
Von fundamentaler Bedeutung wird dabei der Einsatz für die Menschenrechte sein. Die biblische Grundorientierung an Recht und Gerechtigkeit kann sich heute nicht zuletzt deshalb immer wieder darin konkretisieren, weil die Menschenrechte eine ihrer historischen Wurzeln in den biblischen Texten des Alten Testaments, speziell im biblischen Recht, der Tora, haben.
Jüdische Stimmen haben deshalb die neuzeitliche Entwicklung der Menschenrechte zumeist begrüßt und darin ihr Eigenes wieder erkannt. Die meisten christlichen Kirchen und die Ökumene dagegen haben die Menschenrechte ausdrücklich erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg positiv aufgenommen und damit auch den vielen Menschenrechtsverletzungen der eigenen Geschichte z.B. gegenüber Juden und Frauen eine Absage erteilt. Das geschah im Zusammenhang theologischer Neuorientierungen, bei denen sich zugleich eine Neubewertung des Alten Testament, seines Menschenbildes und seiner Rechtstradition vollzog. Vorher waren neben dem Dekalog nur wenige alttestamentliche Gebote wie das der Nächstenliebe (3.Mose 19,18) christlich rezipiert worden. Daneben aber bestanden viele Vorurteile und abwertende Mißverständnisse, die sich mit der Vorstellung verbanden, dass diese Weisungen für Christen grundsätzlich überwunden seien.
Ein wichtiges Beispiel dafür ist bis heute das sogenannte Talionsgesetz "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Es gilt zwar im allgemeinen öffentlichen Bewusstsein und vor allem in der Sprache der Medien als typisch "alttestamentarisches" Rachegesetz. Man braucht aber nur etwa die Fassung in 2.Mose 21,24f in ihrem Zusammenhang zu lesen, um zu sehen, dass schon alttestamentlich Körperverletzungen rechtlich gerade nicht durch entsprechende Verletzungen des Täters geahndet wurden, sondern durch angemessene Ausgleichszahlungen an die geschädigte Seite (2.Mose 21,18f.22). Die jüdische Auslegung hat es dementsprechend als Regelung dafür verstanden, dass die Strafe für ein Verbrechen dem Schaden und den beteiligten Personen angemessen sein soll. Hiermit legt das Alte Testament - ganz im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung - die Grundlage für ein Rechtssystem, in dem Verhältnismäßigkeit und Gerechtigkeit gewährleistet sind.
So ist im Talmud zu lesen (Bab. Tal. Baba qama 83b): "Wer seinen Nächsten verletzt, hat fünf Zahlungen zu leisten: Schadenersatz, Schmerzensgeld, Kurkosten, Versäumnisgeld und Beschämungsgeld." Dieses aus der Mischna stammende Wort wird in der Gemara weiter diskutiert, jetzt auch konkret an der Frage, wie "Auge um Auge" zu verstehen sei: "Es wird gelehrt: R. Dostaj b. Jehuda sagte: Auge um Auge, eine Geldentschädgígung. Du sagst eine Geldentschädigung, vielleicht ist dem nicht so, sondern wirklich das Auge? Ich will dir sagen, wie könnte man in dem Falle, wenn das Auge des einen groß und das Auge des anderen klein ist, aufrecht erhalten [die Worte] Auge um Auge? Wolltest du erwidern, in einem solchen Falle nehme man von ihm eine Geldentschädigung, so sagt ja die Tora: einerlei Recht soll für euch gelten, das Recht soll für euch alle gleichmäßig sein." So wird in der Gemara in mehreren Schritten das Talionsgebot diskutiert, immer wieder mit dem Ergebnis: es geht um eine angemessene Erstattung des Schadens.
Auch das Neue Testament stellt diese Tradition einer gerechten Wiedergutmachung nicht grundsätzlich in Frage. Wenn Jesus in der Bergpredigt dem Talionsgebot die Aussage gegenüberstellt: "Wenn dir einer auf die rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar." (Mt 5,39), so setzt er das Gebot der gerechten Bestrafung nicht außer Kraft. Für seine Jünger soll aber der Verzicht auf Vergeltung für erlittenes Unrecht Vorrang haben.
Ähnlich ist es für Christen wichtig zu erkennen, dass das Gebot der Nächstenliebe (3.Mose 19,18) "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR" von Jesus in seiner Bibel, unserem "Alten Testament", vorgefunden wurde, wo es zugleich um die Fremdenliebe ergänzt ist (19,33f). Auch die so genannte Überbietung des Liebesgebotes in der Bergpredigt (Mt 5,44), "Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde ... bittet für die, die euch verfolgen", tritt nicht aus der jüdischen Tradition heraus. Vielmehr kennt schon das Alte Testament die Aufforderung, dem Feind zu helfen: "Wenn du dem Rind oder Esel deines Feindes begegnest, die sich verirrt haben, so sollst du sie ihm wieder zuführen." (2.Mose 23, 4; vgl. Spr 25,21f)
Dass Christen und Juden die Menschenrechtserklärungen als Ausdruck ihres eigenen Menschenverständnisses auffassen können, ist besonders deutlich im Menschenbild. Haben die Menschenrechte ihr Fundament in der Menschenwürde, so ist hier der Zusammenhang mit dem biblischen Menschenbild, speziell der Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes (1.Mose 1,26ff), eindeutig. Die biblische Vorstellung der Abstammung aller Menschen von einem einzigen ersterschaffenen Paar bringt die grundsätzliche Gleichheit alles Menschlichen unübersehbar zum Ausdruck. Dies ist ein wichtiges Argument gegen alle Formen von Rassismus und übersteigertem Nationalismus. In der Mischna heißt es dazu: "Warum schuf Gott nur einen Menschen? Damit niemand zu seinem Mitmenschen sagen kann: Mein Vorfahr war größer als deiner" (Sanhedrin 4,5). Der Bezug auf die Erschaffung des Menschen ist am deutlichsten in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776: "All men are created equal." Dieser Gedanke wurde ähnlich von der Französischen Nationalversammlung (1789) aufgenommen und schließlich von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. Dort heißt es: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." (Artikel 1)
Aus der Menschenwürde und ihrer Wahrung erwachsen die Schutzbestimmungen für das menschliche Leben. Es gibt eine Vielfalt der Entsprechungen und Zusammenhänge zwischen dem biblischen Recht und den modernen Menschenrechten. Sie reichen von formalen Aspekten, - in beiden Bereichen geht es um ein Recht, das nicht, wie das positive Recht sonst, vom Staat festgesetzt ist, sondern diesem übergeordnet bleibt und geradezu als Maßstab dafür gilt - über die klassischen Freiheits- und Gleichheitsrechte bis zu den besonders engen Entsprechungen im Bereich der sogenannten sozialen Menschenrechte. Zwar sind diese bis heute nicht Teil der geltenden Grundrechtskataloge, sondern bei uns etwa im Rahmen des Sozialstaates gesichert, aber dass auch für die Armen und sonst sozial Schwächsten ein menschenwürdiges Leben einschließlich einer gesicherten ökonomischen Grundlage rechtlich garantiert sein soll, ist ein Hauptthema biblischen Rechts, das immer neu zur Geltung zu bringen ist.
Die Geltung der Menschenrechte wird sich immer wieder an den Menschen zu bewähren haben, die als Fremde und Ausländer, als Flüchtlinge, Vertriebene und Asylsuchende in Gefahr stehen, zu Rechtlosen zu werden. Gerade dieses fundamentale "Recht, Rechte zu haben" (Hannah Arendt) wurzelt in den vielen biblischen Schutzbestimmungen für Fremde, die von der Fremdenliebe bis zur Betonung der rechtlichen Gleichheit reichen: "Einerlei Recht gelte für euch und für den Fremden, der bei euch weilt" (4.Mose 15,16f; 3.Mose 24,22 u.a.).
Ausgehend von dieser biblischen Grundlegung in Gottes Geboten werden Juden und Christen ihren Auftrag in der Welt gerade auch in der Wahrung und Stärkung der grundlegenden Menschenrechtsbestimmungen sehen. Menschenrechtsverletzungen, von wem auch immer sie begangen werden, können nicht entschuldigt werden. Deshalb werden immer wieder Christen und Juden ihre Stimme erheben, wo Unrecht in der Welt geschieht.
4.2 Bewahrung der Schöpfung
Seit in der ökologischen Krise unübersehbar geworden ist, dass eine Fortsetzung des Raubbaus an der Natur die Grundlagen des menschlichen Lebens auf dieser Erde in Frage stellen kann, wird christlicherseits unter dem Stichwort "Bewahrung der Schöpfung" verstärkt nach dem Verständnis der Welt als Schöpfung sowie den ethischen und rechtlichen Folgerungen daraus gefragt. Dabei spielt die Wiederentdeckung der einschlägigen biblischen Grundlagen eine große Rolle.
Besonders seit dem Beginn der Neuzeit war christlicherseits das sogenannte dominium terrae, der göttliche Auftrag an den Menschen, sich die Erde "untertan" zu machen und die Tiere zu beherrschen (1.Mose 1, 28), im Sinne einer unbegrenzten, durch keine Regeln und Gebote eingeschränkten Ausbeutung der Welt verstanden worden, so dass der neuzeitliche Umgang mit der Natur religiös legitimiert schien. Zwar werden im biblischen Schöpfungsbericht am Anfang des Alten Testamentes die Menschen beauftragt, sich Erde und Tiere zu unterwerfen, aber der Zusammenhang zeigt eindeutig, dass damit trotz der Härte der benutzten Worte zunächst keinerlei Tötung, selbst zum Zweck der Nahrung, eingeschlossen ist. Demnach waren die ersten Menschen Vegetarier. Erst als in die friedliche, und deshalb "sehr gute" Welt (1,31) Gewalt eingedrungen ist, die zur Sintflut führt (6,11f ) kommt es nach der Flut zur Eindämmung dieser Gewalt durch göttliche Gebote, die auf rechtliche Ordnungen zielen (1.Mose 9,1ff). Zwar dürfen jetzt Tiere gegessen werden, doch das Verbot des Genusses von Blut, als dem Träger des Lebens ist ein dauerhaftes Zeichen für die Grenze menschlicher Verfügungsgewalt. Es ist im Zusammenhang der jüdischen Speisegesetze im Judentum bis heute bewahrt worden.
Diese anfängliche Eindämmung der Gewalt gegenüber der außermenschlichen Schöpfung findet in einer großen Anzahl weiterer Gebote der Tora eine Fortsetzung. Beispielhaft sei auf den Schutz der Tiermütter (5.Mose 22,6f ), das Verbot, Tiere zu quälen (25,4), und die Regeln zur Erhaltung der Sauberkeit der Natur durch eine Art Verursacherprinzip (23,14f) hingewiesen. In all dem zeichnet sich modellhaft ein verantwortungsbewußter Umgang mit der Umwelt ab, der für christliche wie jüdische Praxis richtungweisend, aber auch für heute umstrittene Fragen wie die nach Rechten außermenschlicher Geschöpfe anregend sein kann und weitgehend noch der Entdeckung harrt. Besonders hingewiesen sei darauf, dass das heute neu auftretende Problem der Verantwortung für nachfolgende Generationen auf wichtige biblische Erkenntnisse zurückgreifen kann (vgl. Jer 31,29; Ez 18,2; 2.Mose 20,5).
Viele dieser Gebote und die aus ihnen resultierenden Haltungen sind im Judentum weit lebendiger geblieben als im Christentum. Vor allem sind die für die meisten Christen weithin unverständlichen jüdischen Speisegesetze letztlich aus solchen biblischen Regeln zum verantwortlichen Umgang mit Tieren und Pflanzen hervorgegangen. Ohne dass Christen sie übernehmen sollen oder müssen, kann die Erkenntnis derartiger Zusammenhänge heute nicht nur Respekt hervorrufen, sondern zum neuen Nachdenken über einen verantwortlichen Umgang mit den Mitgeschöpfen anleiten bis hin zum Überdenken der eigenen Essgewohnheiten. Für die in Zukunft immer wichtiger werdende ethische Frage nach Regeln und Grenzen für Eingriffe in das Erbgut von Pflanzen, Tieren und Menschen könnte eine gemeinsame Orientierung an den biblischen Grundlagen besondere Bedeutung gewinnen.
4.3 Arbeit und Ruhe, Sonntagsheiligung und Sabbatruhe
Die Sieben-Tage-Woche mit ihrem Ruhetag ist eine der nachhaltigsten christlichen Übernahmen aus dem Judentum. Sie prägt den Rhythmus des Lebens, ragt in Fragen der sozialen und politischen Ordnung hinein, betrifft von ihrem Ursprung her auch das Verhältnis zur Natur, und hat Bedeutung für viele persönliche Lebensaspekte. Sie steht heute in heftigen aktuellen Auseinandersetzungen neu auf dem Prüfstand. Als Christen erkennen wir dankbar diese soziale Errungenschaft der jüdischen Gemeinschaft. Sie heute zu bewahren und neu mit Leben zu füllen, ist eine wichtige gemeinsame Aufgabe für die Zukunft.
Noch immer gibt es viele Christen, die das Feiertagsgebot des Dekalogs in der Formulierung des Kleinen Katechismus Martin Luthers: "Du sollst den Feiertag heiligen" wie selbstverständlich auf den Sonntag beziehen. Aber die Bibel spricht im Feiertagsgebot vom Halten des Sabbat, also nach unserer üblichen Bezeichnung vom Sonnabend/Samstag. In der alttestamentlichen Ursprungszeit geht es vor allem anderen um einen Ruhetag, an dem jede Arbeit unterbrochen wird. Demgegenüber tritt z.B. auch Gottesdienst und Kult deutlich zurück. Alle Menschen sollen diesen Sabbat halten. Auch dem Fremdling und sogar den Tieren soll die Möglichkeit zur Ruhe gegeben werden (2.Mose 20,10). Gott selbst ist dabei das Vorbild (1.Mose 2,2). Es geht um eine allumfassende Ruhe in der gesamten Gesellschaft, die in sich die Kraft zu neuer Kreativität birgt. Dass der Sabbat im nachbiblischen Judentum als Vorgeschmack der messianischen Zeit verstanden wird, zeigt seine hohe Bedeutung gerade im Gegensatz zum Arbeitsalltag.
Die christliche Urgemeinde hat zunächst den Sabbat mit seinen ursprünglichen Inhalten als den siebten Tag der Schöpfung weiter begangen. In der neutestamentlichen Diskussion um das Einhalten des Sabbats werden bestimmte Aspekte seiner Heiligung, die auch im Judentum vorhanden waren, unterstrichen. Etwa wenn Jesus in der Diskussion mit den Pharisäern betont: "Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen" (Mk 2,27), wird die Erhaltung und Förderung menschlichen Lebens als überragendes Ziel gesehen. Neben den Sabbat aber tritt die Feier der Auferstehung Jesu am ersten Tag der Woche. Mit der Feier der Auferstehung als Anfang der neuen Schöpfung konnte sich der Gedanke der Erschaffung des Lichts am ersten Tag der Schöpfung verbinden. Hieraus ist schließlich der christliche Sonntag entstanden.
In bestimmten Zeiten und Regionen feierten die Christen beide Tage. So heißt es noch im 4. Jahrhundert in den Apostolischen Konstitutionen: "Ich Petrus und ich Paulus ordnen an, dass die Unfreien fünf Tage arbeiten und den Sabbat und den Herrentag freihaben sollen" (VIII 31). In der kirchlichen Tradition verbanden sich dann immer mehr Elemente der Sabbatheiligung, insbesondere die Arbeitsruhe, mit dem Sonntag.
Der Sonntag als gesellschaftlich anerkannter gemeinsamer Ruhetag ist heute durch aktuelle Diskussionen um Ladenöffnungs- und Maschinenlaufzeiten in Frage gestellt. Das fordert zur Neubesinnung auf die biblische Tradition heraus. So haben sich der Rat der EKD und der Zentralrat der Juden in Deutschland 1998 "gemeinsam gegen eine weitere Aushöhlung des Schutzes des Ruhetages (Schabbat/Sonntag)" gewandt und die für Juden wie Christen gemeinsame Tradition eines Ruhetages für Mensch und Tier betont. Nach biblischer Überlieferung ist für menschliches Leben der Wechsel von Arbeit und Ruhe unaufgebbar: "Sechs Tage sollst du arbeiten" - dieser Satz hängt im Dekalog mit dem Ruhetagsgebot untrennbar zusammen. Arbeit gehört zum menschlichen Leben ebenso, wie der für alle Mitglieder der Gesellschaft gemeinsame freie Tag zu einer menschlichen gesellschaftlichen Ordnung gehört.
Zu erinnern ist schließlich daran, dass sich in der Bibel wie in der Gegenwart mannigfaltige Versuche finden, den Sabbatrhythmus, der sich in der Woche durch viele Kulturen und Zeiten hindurch bewährt hat, auf größere Zeiträume zu übertragen. Im angelsächsischen Bereich kennt man schon seit längerem die Einrichtung des Sabbatjahres (sabbatical). Dies spielt auch in Deutschland in manchen Berufen zunehmend eine Rolle in der Diskussion um eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit, von der man sich eine Entlastung des Arbeitsmarktes erhofft. In bestimmten Bereichen wird sie bereits praktiziert. Statt eines immer früheren Übergangs in den Ruhestand bzw. in die Rente könnte ein derart durch kreative Unterbrechungen veränderter Lebensrhythmus durchaus neue Perspektiven eröffnen.
Biblisch ist das Sabbatjahr zugleich das Jahr eines umfassenden Schuldenerlasses (5.Mose 15,12ff). In der Kampagne für eine Schuldenbefreiung für die ärmsten Länder der Dritten Welt ist diese Ausformung des biblischen Glaubens an den befreienden Gott - in Verbindung mit dem größeren Zeitraum eines Jobeljahres nach Ablauf von sieben Sabbatjahrperioden (3.Mose 25) - aktuell aufgenommen worden. Sie hat aber auch im neuen Insolvenzrecht mit der Möglichkeit, aus überhöhten Privatschulden befreit zu werden, eine moderne Entsprechung gefunden. Dass derartige Traditionen heute auch ohne kirchliche Vermittlung aufgenommen und in ihrem Wert erkannt werden, zeigt, welche Schätze Juden und Christen in der gemeinsamen Tradition haben und für die Zukunft neu entdecken können.
4.4 Den Antisemitismus bekämpfen - Minderheiten schützen
4.4.1 Den Antisemitismus bekämpfenSchon 1948 erklärte der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) auf seiner Gründungsversammlung: "Antisemitismus ist Sünde gegen Gott und Menschen." Nach mehr als fünfzig Jahren ist festzustellen, dass antisemitische Einstellungen weiterhin bestehen.
Rechtsradikale Parteien hatten in den letzten Jahren in Deutschland und auch in anderen europäischen Ländern Wahlerfolge zu verzeichnen. Die Zahl antisemitisch motivierter Straftaten hat seit 1994 deutlich zugenommen. Zwischen 1980 und 1989 registrierte das Bundesministerium des Innern insgesamt 3159 antisemitische Straftaten, zwischen 1990 und (September) 1999 jedoch 7049. Zu diesen Straftaten zählen unter anderem Brandanschläge, Körperverletzungen und Störungen der Totenruhe. Neue Medien wie das Internet, aber auch Computerspiele werden zur Verbreitung antisemitischer Propaganda missbraucht. Hetz- und Drohbriefe gehören zum Alltag jüdischer Persönlichkeiten, die im öffentlichen Leben stehen. Jüdische Einrichtungen - vom Kindergarten bis zum Synagogenraum - sind auf strenge Sicherheitsvorkehrungen und Polizeischutz angewiesen.
Diese Situation weckt verständlicherweise bei vielen jüdischen Menschen in Deutschland - und nicht nur bei ihnen - große Sorge. Sie erinnern sich daran, dass es in den zwanziger Jahren ebenfalls kleine Splittergruppen waren, die mit antisemitischen Aktionen auf sich aufmerksam machten und die anfangs niemand ernst nahm. Als sich die wirtschaftliche Krise zuspitzte, zeigte sich, wie schnell der Antisemitismus in breiten Kreisen der Bevölkerung Boden gewinnen konnte.
Auf gefährliche Entwicklungen hinzuweisen kann nicht einzig die Aufgabe jüdischer Bürgerinnen und Bürger sein. Öffentlicher Protest gegen jede Diskriminierung und Zeichen der Solidarität gerade von christlicher Seite sind notwendige Beweise für die ehrliche Bereitschaft, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Trotz vieler guter Ansätze in Pädagogik und Homiletik ist es noch nicht gelungen, die alten Klischees gänzlich auszuräumen. Gerade in der älteren Generation hält sich z.B. hartnäckig die Auffassung, "die Juden" - und nicht alle Menschen - seien schuld am Tod Jesu, obwohl diese Behauptung seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil von kirchlicher Seite in zahlreichen Erklärungen als falsch zurückgewiesen wurde. Einerseits gilt es, theologisch einen Zugang zum Kreuzesgeschehen zu vermitteln. Dies geschieht etwa in dem Passionslied von Paul Gerhardt, das im Blick auf Jesus und sein Leiden formuliert:
"Ich, ich und meine Sünden,
die sich wie Körnlein finden
des Sandes an dem Meer,
die haben dir erreget
das Elend, das dich schläget,
und deiner schweren Martern Heer." EG 84,3
Andererseits ist es nötig, dem immer noch bestehenden Mangel an historischer Information abzuhelfen. Erforderlich ist vor allem eine Hilfestellung, wie mit solchen Texten des Neuen Testamentes umzugehen ist, die scharfe Kritik am Tun und Lassen von Juden üben. Nach allem, was in 2000 Jahren Kirchengeschichte geschehen ist, verbietet es sich, diese Texte weiter zu gebrauchen, ohne auf ihren zeitbedingten Kontext aufmerksam zu machen (vgl. Studie II, 3.5.4).
Eine verhüllte Form von Antisemitismus, die auch in christlichen Kreisen anzutreffen ist, äußert sich in oft höchst emotional vorgebrachter Kritik am Staat Israel und dessen Politik, für die pauschal alle Juden zur Verantwortung gezogen werden. So werden dort inakzeptale und verletzende Parallelen zwischen der NS-Politik und der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern gezogen, wobei man letztere als "Opfer der Opfer" bezeichnet.
Wie jede andere Regierung darf auch die Regierung des Staates Israel in ihren politischen Entscheidungen kritisiert werden. Solche Kritik ist nicht ohne weiteres schon antisemitisch. Es muss allerdings angesichts der Tatsache, dass es nach der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden weder zwischen Juden und Christen (besonders in Deutschland) noch zwischen Deutschland und Israel ein "normales" Verhältnis gibt, mit besonderer Sorgfalt darauf geachtet werden, dass dadurch nicht willentlich oder unwillentlich der alte Antisemitismus neue Nahrung bekommt.
Gefährlich sind aber auch die überspannten Erwartungen, die vor allem fundamentalistisch eingestellte Christen an den Staat Israel knüpfen. Sie können leicht in bittere Enttäuschung umschlagen. Nicht selten verbirgt sich auch hinter philosemitischen Sympathiebekundungen ein uneingestandenes und diffuses Schuldgefühl. Problematisch ist die damit oft einher gehende Weigerung, die schwierige Situation der Palästinenser ebenso einfühlsam wahrzunehmen wie die der Juden.
Durch glaubhafte und bleibende Solidarität mit Juden können Christen ihren bescheidenen Beitrag zum Frieden leisten. Durch enge Beziehungen zu Juden und zu christlichen Palästinensern gelingt manchmal sogar ein Brückenschlag.
4.4.2 Minderheiten schützen
Wie in der Zeit des Nationalsozialismus auch andere Minderheiten (z.B. Sinti und Roma) aus rassistischen Motiven diffamiert, verfolgt und ermordet wurden, so zeigt sich auch heute in rechtsradikalen Kreisen ein enger Zusammenhang zwischen Judenhaß, Rassismus, Sündenbock-Denken und Fremdenfeindlichkeit.
Die Verschlechterung der sozialen Lage mit einer dauerhaft hohen Zahl von Arbeitslosen und tiefgreifenden Veränderungen der sozialen Sicherungssysteme kennzeichnet die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland. Dies führt in besonders betroffenen Bevölkerungsteilen zu starker Verunsicherung. Es besteht die Gefahr, dass viele anstelle einer differenzierten Auseinandersetzung um zukunftsfähige Modelle in Wirtschaft und Gesellschaft den einfachen Erklärungsmustern und Lösungen rechtsextremer Parteien Glauben schenken. Existenzielle Ängste sind von jeher ein gefährlicher Nährboden für Fremdenhaß und die Suche nach Sündenböcken.
Die Kirche als Teil der Gesellschaft kann in dieser Situation nicht abseits stehen. Sie hat die Pflicht, die biblischen Wertvorstellungen, die sie aus der jüdischen Tradition übernommen hat - Gerechtigkeit, Menschenwürde, Nächstenliebe, Fremdenfreundlichkeit, Gastfreundschaft, Barmherzigkeit - in den Prozeß politischer Meinungsbildung mit Nachdruck einzubringen. An dieser Stelle können Juden und Christen eine in ihrem jeweiligen Glauben begründete gemeinsame Aufgabe wahrnehmen.
Zentral steht in der Bibel die Erinnerung daran, dass die Israeliten selbst Fremdlinge gewesen sind in Ägypten: "Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägypten." (3.Mose 19,33f) Im Neuen Testament identifiziert sich Christus selbst mit den Bedrängten: "Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen!" (Mt 25,35)
Die Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen, ist die wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung hilfreichen Verhaltens in einer Gemeinschaft. Menschen, die auch gegen Widerstand Zivilcourage beweisen, zeichnen sich außerdem durch gesundes Selbstwertgefühl und ausgeprägten Gerechtigkeitssinn aus. In Erziehung und Unterricht hat die Kirche vielfältige Möglichkeiten, verantwortliches und hilfreiches Verhalten einzuüben und der Tendenz, in der anonymen Masse unterzutauchen, entgegenzuwirken.
Die prinzipiell gleiche Würde aller Menschen unterstreicht die Schöpfungserzählung (1.Mose 1). Sie bezeugt im Unterschied zu den Schöpfungsmythen vieler anderer Völker, in denen der erste Mensch der Ahnherr des jeweils eigenen Volkes ist (mit allen Merkmalen der eigenen Volkszugehörigkeit), dass der Mensch als Gattung nach dem Bilde Gottes erschaffen wurde (vgl. 4.1).
Nötig ist gerade in Zeiten zunehmender Vereinzelung und sozialer Kälte die Wiederentdeckung der Gastfreundschaft, wie sie in der Bibel begegnet. Sprichwörtlich ist die Gastfreundschaft Abrahams (1.Mose 18,1-15, Hebr 13,2). Die Evangelien erzählen von zahlreichen Gastmählern, die Jesus mit Freunden und Fremden hielt. Am Abendmahlstisch feiert die Gemeinde, dass Gott selbst uns Gäste sein lässt: "Schmeckt und seht, wie freundlich der Herr ist!" (Ps 34,9)
Christliche Initiativen, die sich darum bemühen, Brücken zu schlagen zwischen Menschen verschiedener Herkunft, Kultur oder Religion, verdienen Anerkennung und Unterstützung. Sie machen sichtbar, dass die christliche Gemeinde ihrem Wesen nach eine Gemeinschaft ist, die alle Grenzen von Nationalität und Kultur überschreitet. Diese Einheit in der Vielfalt wird in der Pfingstgeschichte abgebildet: Der Heilige Geist überwindet die Barrieren, die Menschen voneinander trennen und stellt sie in eine neue Gemeinschaft (Apg 2,7-11).
Die Vision einer versöhnten Menschheit, die Juden und Christen miteinander teilen (Jes. 2; Offb 21), bestärkt und verpflichtet sie, schon jetzt für die Einheit und Versöhnung aller Menschen zu arbeiten. Denn: "So spricht der Herr: Wahrt das Recht und übt Gerechtigkeit, denn mein Heil ist nahe, dass es komme, und meine Gerechtigkeit, dass sie offenbar werde."(Jes. 56,1)
4.5 Formen des Gedenkens
4.5.1 Die Pflege der Erinnerung an bestimmte Gestalten und Ereignisse gehört seit alters zur menschlichen Kultur. "In der jüdisch-christlichen Tradition ist das Erinnern und die generationenüberspannende Weitergabe geschichtlicher Erfahrungen für die individuelle wie kollektive Identitätsbildung zentral. Die Frage nach der Identität der Deutschen und dem Rang der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen für ihr kulturelles Gedächtnis steht heute neu auf der Tagesordnung." (Gestaltung und Kritik, Seite 30).
Seit dem 19. Jahrhundert war solches Gedenken immer mehr in den Dienst eines überzogenen Nationalstolzes gestellt worden durch Siegesfeiern an Jahrestagen, Denkmäler berühmter Feldherrn, Künstler und Wissenschaftler und Kriegerdenkmäler. In diesen Entwicklungen war nicht christlicher Geist am Werk, aber auch die Kirchen haben sich daran beteiligt. Ihre letzte Übersteigerung erfuhr diese Entwicklung in den bombastischen Feiern und Denkmälern des Nationalsozialismus - allerdings auch in dem von oben verordneten und politisierten Gedenken in den sozialistischen Ländern.
Als Reaktion auf solche Übersteigerungen hat sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland allmählich eine Neubesinnung durchgesetzt. Es werden nicht mehr "Helden" gefeiert, sondern auch in der Durchsetzung ihrer Ziele Gescheiterte wie die Gestalten des deutschen Widerstands gegen Hitler. Erst später rückte auch das Gedenken an die Opfer des Faschismus und damit die Auseinandersetzung mit der Schuld der Täter in den Vordergrund. Aus dem Erschrecken über die Schoa heraus wurde vor allem auch an belastende Ereignisse der Vergangenheit erinnert durch KZ-Gedenkstätten, Gedenktage für die Opfer der NS-Herrschaft, Dokumentationen in Funk und Fernsehen zu bestimmten Anlässen usw. Eine neue Kultur des Gedenkens, die die Opfer und die Schuld in den Mittelpunkt stellt, hat sich auch in den Kirchen durchgesetzt, z.B. in Gottesdiensten und Feiern zum 10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag), zum 9. November (Gedenktag des Novemberpogroms) oder zum 27. Januar (Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus/Gedenktag der Befreiung des KZ Auschwitz). Es gibt viele Orte, Personen und Termine, die Anlaß zum Gedenken geben.
4.5.2 Durch die Diskussion um das zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin wurde die Frage nach einem angemessenen Erinnern und Gedenken wieder neu und grundsätzlich aufgeworfen. Die Zahl der Zeitzeugen aus den Reihen der Opfer und der Täter wird immer kleiner, und die nachwachsenden Generationen in Deutschland haben keinen unmittelbaren Zugang mehr zur Zeit des Nationalsozialismus.
In dieser Situation wird erneut gefragt, ob es nicht an der Zeit sei, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, um die aus ihr her rührenden Verwundungen ausheilen zu lassen. Ferner wird gefragt, ob die bisherigen Formen des Gedenkens nicht zur Routine erstarrt seien und so eher zur Neutralisierung und Verdrängung der Vergangenheit beitragen als zu ihrer Vergegenwärtigung. Alle Überlegungen führen jedoch immer wieder zu dem Ergebnis, dass ein Verzicht auf die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht möglich und sogar gefährlich wäre, dass aber über die Formen des Gedenkens angesichts des Generationenwechsels neu nachzudenken ist. Die immer noch anwachsende Literatur zum Holocaust spiegelt ein starkes Interesse auch der jungen Generation an der neueren Geschichte wider.
4.5.3 In diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf die intensive Kultur des Gedenkens im Judentum, das in besonderer Weise ein Volk der Geschichte ist, hilfreich. Wenn es in der Pessach-Haggada heißt: "Ein jeder verstehe sich so, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen", so ist damit die grundsätzliche Gleichzeitigkeit aller Generationen angesprochen, die den tiefen Graben zur Vergangenheit überbrückt. Die Feste Israels dienen insgesamt der Vergegenwärtigung einer heilvollen Vergangenheit (vgl. 4.3). Ein wesentlicher Teil des Gedenkens ist das Wachhalten des Geschehenen durch das Erzählen (5.Mose 6,20ff).
Doch auch belastende Erinnerungen haben ihren festen Ort im jüdischen Leben. Das Gedenken an die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier (587 v.Chr.) und durch die Römer (70 n.Chr.) hat die biblischen Schriften ebenso geprägt wie die nachbiblische Tradition. In den Memorbüchern der Gemeinden wird die Erinnerung an die Opfer von Verfolgungen und Pogromen in alter und neuerer Zeit lebendig gehalten. Die Mahnung "Sachor/Gedenke!" (5.Mose 25,17) findet sich heute in vielen Synagogengebäuden.
Auf vielfache Weise wird so im Judentum die Vergangenheit erinnert, vergegenwärtigt und bewußt gehalten; sie ist integraler Bestandteil der Gegenwart.
4.5.4 Auch das Christentum hat durchaus Ansätze zu einer solchen Kultur des Gedenkens: Die Verlesung und Auslegung biblischer Texte im Gottesdienst und bei anderen Gelegenheiten hält die biblische Geschichte gegenwärtig. Das Gedenken an Märtyrer und andere bedeutende Gestalten der Kirchengeschichte hat in weiten Teilen der Christenheit seinen festen Ort. Das Abendmahlswort "Dies tut zu meinem Gedächtnis" lädt ein zum Gleichzeitigwerden mit der Geschichte Jesu und der seines Volkes Israel.
Allerdings sind diese Ansätze wenig entwickelt und oft verdeckt. Das Gedenken der Märtyrer und Glaubenszeugen ist in den orthodoxen und katholischen Kirchen in eine Heiligenverehrung umgewandelt, in den evangelischen Kirchen demgegenüber sehr zurückgetreten; Glaubenszeugen aus der jüdischen Bibel, erst recht aus dem späteren Judentum, werden kaum einbezogen. Die Einladung zum Gedenken im Rahmen des Abendmahls wurde im Zusammenhang der theologischen Auseinandersetzungen der Reformationszeit nur eingeschränkt wahrgenommen. Die Tradition des Schuldbekenntnisses ist stark individualisiert. Auch wenn der Buß- und Bettag traditionell oft die Schuld des Einzelnen in den Blick nimmt, so ist er doch von seinem Ansatz her auf das Leben in der Gemeinschaft und ihre Schuld vor Gott ausgerichtet.
4.5.5 Heute gilt es neu zu entdecken, was Erinnern und Gedenken wirklich heißt. Es geht um ein tiefgreifendes Erinnern und Vergegenwärtigen früherer Ereignisse und Gestalten, die für das Leben in Gegenwart und Zukunft maßgebende Bedeutung haben sollen, um ein Gleichzeitigwerden, das die Vergangenheit wirkungskräftig erhält in Ermutigung und Mahnung.
Dabei muss jeweils geprüft werden, wer Subjekt des Gedenkens ist: Es ist nicht dasselbe, ob überlebende Opfer sich erinnern oder Täter, ob es Menschen sind, die den Ereignissen gleichzeitig waren oder solche, die später geboren sind. Das Gedenken kann - getrennt oder gemeinsam - gelingen, wenn zuvor ehrlich Rechenschaft über diese Unterschiede gegeben wird. Ältere, die Zeitgenossen der Schoa waren, können ihre Trauer und ihre Schuld eingestehen. Jüngere, die persönlich nicht in das Geschehen der Schoa verwickelt sind, können doch stellvertretend für ihre Vorfahren/Eltern Verantwortung für das Geschehene übernehmen. Sie leisten so einen Beitrag zu einer Identitätsstiftung über den persönlichen Bereich hinaus, über die Generationsgrenzen hinweg. Nachkommen von Tätern, Opfern und Zuschauern können zu gemeinsamem Gedenken zusammenfinden, indem sie das Erinnern verbinden mit dem festen Entschluß "Nie wieder!" Ein solches Gedenken darf nicht abstrakt sein, sondern muß konkret deutlich machen, dass es um bestimmte einzelne Menschen ging, nicht um die abstrakte Zahl von sechs Millionen. Von solchem Gedenken wird immer wieder neue Beunruhigung ausgehen. So wird Gedenken zur Mahnung, ebenso wie die Erinnerung an Taten der Menschlichkeit zur Ermutigung wird.
Diesem umfassenden Gedenken muß in der Gesellschaft und auch in der Kirche Raum gegeben werden. Die Formen des Gedenkens werden sich von Generation zu Generation ändern. Zu den bewährten Formen des Aufsuchens besonderer Orte, des Wahrnehmens besonderer Termine werden neue hinzutreten, die das Gewohnte verwandeln, verlebendigen und erneuern: Verlesung der Namen von Opfern, aktiver Einsatz im Friedensdienst, Pflege jüdischer Friedhöfe, Vergegenwärtigung von ermutigenden Beispielen des Widerstands und des Glaubensmuts und von mahnenden Schicksalen der Opfer durch Bild, Wort und Ton, durch symbolisches Nacherleben/ erlebendes Gedenken (vgl. Kindermahnmal in Jad-wa-Schem; United States Holocaust Memorial Museum in Washington). Gerade in einer zum Individualismus neigenden Zeit ist es wichtig, dass Gedenken nicht nur individuell, sondern auch gemeinschaftlich geschieht; so wird die Identität nicht nur der einzelnen, sondern der Gesellschaft insgesamt geprägt. Solches Gedenken wird Auswirkungen auf eine Vertiefung des gottesdienstlichen Gedenkens haben. Dafür könnte auch der Buß- und Bettag bei entsprechender Gestaltung eine Möglichkeit bieten. Ein Schritt dazu ist auch das von der evangelischen und der katholischen Kirche gemeinsam vorbereitete Gedenken an die Märtyrer des 20. Jahrhunderts.
Durch das Überprüfen bisheriger Formen und das Entdecken neuer Formen erweist sich Gedenken als ein Prozeß lebendiger Auseinandersetzung in Aneignung und Abwehr.
4.6 Israel - Land und Staat
4.6.1 Warum geht uns das Thema an?
Die Existenz des Staates Israel, der in seiner Gründungsurkunde und mit seinem Namen ausdrücklich an biblische Traditionen anknüpft, macht es Christen unmöglich, von Israel so zu sprechen, als handle es sich dabei nur um eine Größe der Vergangenheit. Der moderne jüdische Staat fordert Christen dazu heraus, über ihr Verhältnis zum jüdischen Volk nachzudenken. Er ist ein wichtiger Faktor im Gespräch mit Juden innerhalb und außerhalb des Staates Israel.
Für arabische Christen allerdings stellen Existenz und Politik des Staates Israel das größte Hindernis auf dem Weg zu einer theologischen Neuorientierung im Blick auf das Judentum dar. Dies gilt in abgeschwächter Form auch für Christen anderer Länder und für kirchliche Organisationen, die sich besonders mit den Palästinensern und ihrem Anspruch auf das Land solidarisieren.
Einerseits eröffnet die Existenz eines jüdischen Staates ganz neue Möglichkeiten der Begegnung, weil sich dort zum ersten Mal seit fast zweitausend Jahren die jüdischen Gesprächspartner gegenüber den Christen in der sicheren Mehrheit befinden und von daher unbefangener ihre Positionen vertreten können. Andererseits blockiert der politische Streit zwischen dem Staat Israel, den Palästinensern und der arabischen Welt oft das Gespräch zwischen den drei abrahamitischen Religionen - Judentum, Christentum, Islam.
Umstritten ist, ob es für Christen theologische Gründe gibt, für den Staat Israel besonders einzutreten, und welche Bedeutung für sie das Land der Verheißung hat.
4.6.2 Widerstreitende theologische Positionen
Als erste Kirche der Welt widmete sich die Nederlandse Hervormde Kerk in einer theologischen Handreichung "Israel: Volk, Land und Staat" vom 16. Juni 1970 ausführlich der Frage, ob der Staat Israel für Christen auch eine Glaubensdimension habe. Diese Handreichung kommt zu dem Schluß, dass der Staat Israel für Christen kein Staat wie jeder andere sein könne, weil die Bindung des jüdischen Volkes an das Land biblisch begründet sei. Sie stellt fest: "Darum sind wir davon überzeugt, dass der, der aus dem Glauben heraus die Wiedervereinigung von Volk und Land bejaht, unter den gegebenen Verhältnissen auch die Gestalt eines eigenen Staates für dieses Volk bejahen muss." Mit dieser Einschätzung verbindet die Handreichung allerdings den hohen Anspruch an das jüdische Volk, sein Volksein unter den Nationen der Welt exemplarisch zu verwirklichen. Auch der Staat Israel müsse exemplarisch sein: "Wenn Israel für uns ein Staat wie alle anderen wäre, dürften wir an ihn auch nicht solche Maßstäbe anlegen, denen kein einziger anderer Staat Genüge tut. Aber wir glauben, dass Israel einzigartig ist: Sein einzigartiger Charakter beruht auf Gottes Erwählung, denn das jüdische Volk ist noch immer das besondere Volk, das auf Grund der Verheißungen Gottes mit diesem besonderen Land verbunden ist. Darum erhoffen wir von diesem Volk auch mehr als von irgendeinem anderen Volk."
Es überrascht nicht, dass die 1970 formulierte und mehrheitlich von der niederländischen Synode unterstützte Handreichung auch Widerspruch hervorrief. In der teilweise öffentlich geführten Debatte meldeten sich vor allem ökumenische Partner der Palästinenser kräftig zu Wort. Das Stichwort von der "doppelten Solidarität" gegenüber Juden und Palästinensern machte die Runde. Im Jahr 1988 - als die Intifada (der Volksaufstand gegen die israelische Besatzung) bereits die Schlagzeilen beherrschte und viele zum ersten Mal auf die verzweifelte Situation der Palästinenser aufmerksam wurden - entschloss sich die Synode zu weitergehenden Studien über das Thema.
In einem neuen Beratungsprozess fanden bewusst auch die Stimmen der palästinensischen Christen Gehör. Vor dem Hintergrund ihrer leidvollen Erfahrungen hinterfragen palästinensische Theologen wie Naim Ateek oder Mitri Raheb die Gültigkeit der biblischen Landverheißung in der Gegenwart. Sie verweisen darauf, dass die entsprechenden biblischen Texte fast alle in eine Situation hinein gesprochen wurden, in der das jüdische Volk ohne Land war. Man dürfe sie keinesfalls dazu benutzen, die heutige Machtposition Israels zu untermauern.
Wer die Rückkehr der Juden nach Palästina und die Errichtung des jüdischen Staates als "Zeichen der Treue Gottes" interpretiere, wie westliche Christen dies z.T. getan haben, unterstelle, dass es auch Gottes Wille war, dass etwa eine Million palästinensische Menschen als direkte oder indirekte Folge der Staatsgründung ihre Heimat verloren.
In einer 1995 vorgelegten Stellungnahme der Synode der Nederlandse Hervormde Kerk werden diese Schwierigkeiten dargestellt und Mißverständnisse zurechtgerückt, die die Handreichung von 1970 - vor allem bei fundamentalistisch eingestellten kirchlichen Kreisen - befördert hatte. Zu einer einvernehmlichen theologischen Position findet die niederländische Studienkommission jedoch nicht.
Inspiriert nicht zuletzt von der theologischen Debatte in den Niederlanden hat sich in Deutschland zuerst die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland deutlich zum Staat Israel geäußert: Sie bezeugt in ihrem Synodalbeschluss vom 11. Januar 1980 die "Einsicht, dass die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind."
Während die Mehrzahl der kirchlichen Stellungnahmen seitdem in der Argumentation vorsichtiger ist (s. o. I, 1.2; vgl. Studie II, 3.5.1), heißt es in den von der Hauptversammlung des Reformierten Bundes 1990 beschlossenen Leitsätzen "Wir und die Juden - Israel und die Kirche": "Weil wir als Christen in einem besonderen Zusammenhang mit dem jüdischen Volk stehen, treten wir öffentlich für das Leben dieses Volkes ein und begleiten voll Hoffnung und Sorge das Leben der Juden im Land Israel und den Weg des Staates Israel. Wir widersprechen allen Bestrebungen, die das Lebensrecht Israels problematisieren. Mit unseren Gebeten und in politischer Verantwortung sind wir dem Staat Israel, seiner Lebensgestalt und seiner Entwicklung, besonders in seinen Gefährdungen und Bedrohungen, zugewandt und verpflichtet." In den ausführlichen Erläuterungen wird erklärt: "Dies bedeutet nicht, dass wir in der Existenz des Staates Israel unmittelbar die endzeitliche Erfüllung der Verheißungen erkennen könnten. Es bedeutet aber ausdrücklich, dass wir denen widersprechen, die Israel als Volk, Israel als Land und Israel als Staat aus den Fragen des Glaubens und der Theologie fernhalten möchten."
4.6.3 Der ungekündigte Bund und das Land der Verheißung
Zu den neuen Einsichten, die aus dem christlich-jüdischen Dialog ihren Weg bis in die Grundordnungen mehrerer Gliedkirchen der EKD hinein gefunden haben (vgl. 1. 1.1), gehören der ungekündigte Bund Gottes mit seinem Volk Israel und dessen bleibende Erwählung.
Es ist unbestreitbar, dass nach dem biblischen Befund Erwählung, Bund und Landverheißung aufs Engste miteinander verknüpft sind (z.B. 1.Mose 12,1ff; 17,2ff; 5.Mose 6,1ff ). Dabei sind allerdings weder die Grenzen des verheißenen Landes noch eine bestimmte Organisationsform für das Wohnen im Land eindeutig zu beschreiben. Die archäologischen Erkenntnisse über den Prozess der sogenannten Landnahme ergeben ein wesentlich differenzierteres Bild als es die biblischen Berichte nahelegen. Vermutlich haben zu jeder Zeit verschiedene Völker nebeneinander im Land gelebt. Für das Verständnis der biblischen Geschichtsschreibung ist zu beachten, dass es sich immer um in einem bestimmten Kontext interpretierte Geschichte handelt.
Schon Abraham wird das Land versprochen: "Ich will aufrichten meinen Bund zwischen mir und dir und deinen Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht, dass es ein ewiger Bund sei, so dass ich dein und deiner Nachkommen Gott bin. Und ich will dir und deinem Geschlecht nach dir das Land geben, darin du ein Fremdling bist, das ganze Land Kanaan, zu ewigem Besitz, und will ihr Gott sein." (1.Mose 17,7f)
Mit der Gabe des Landes ist die Berufung verknüpft, gemäß der Tora zu leben: "Du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott. Dich hat der Herr, dein Gott aus allen Völkern, die auf Erden sind, für sich erwählt, dass du sein eigen seist." (5.Mose 7,6ff) Die Erwählung und das Land sind Gnadengaben. Darum mahnt die Schrift zur Demut: "So wisse nun, dass der Herr, dein Gott, dir nicht um deiner Gerechtigkeit willen dies gute Land zum Besitz gibt, da du doch ein halsstarriges Volk bist." (5.Mose 9,6)
Das Land schafft die Bedingungen, um an einem ganz konkreten Ort nach der Weisung Gottes zu leben - als Licht für die Völker. Die Bibel hält aber fest, dass das Land nur geliehen ist. Es gehört Israel nicht: "Das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei mir." (3.Mose 25,23) Die Gesetze über Sabbat- und Erlassjahr basieren auf dieser Grundüberzeugung (3.Mose 25). Die Propheten drohen sogar mit dem Verlust des Landes, wenn Israel den religiösen und ethischen Forderungen Gottes zuwiderhandelt: "Bessert euer Leben und euer Tun, dass ihr recht handelt einer gegen den andern und keine Gewalt übt gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen und nicht unschuldiges Blut vergießt an diesem Ort und nicht andern Göttern nachlauft zu eurem eigenen Schaden, so will ich euch wohnen lassen an diesem Ort, in dem Lande, das ich euren Vätern gegeben habe für immer und ewig." (Jer 7,5-7)
Auch wenn solche Worte Israel Anlaß geben, darüber nachzudenken, ob sein Leben im Land "Verwirklichung und Bewährung" (Martin Buber) des Auftrags ist, den es von Gott empfangen hat, so legitimieren sie Christen doch nicht, die Gültigkeit der Verheißung und des Bundes in Zweifel zu ziehen.
Auch Israels Verhältnis zu den heidnischen Weltvölkern ist in den Blick genommen, wo es um das Land geht: "Wenn ich euch aus den Völkern bringen und aus den Ländern sammeln werde, in die ihr zerstreut worden seid, werde ich mich an euch als der Heilige erweisen vor den Augen der Heiden. ... Und ihr werdet erfahren, dass ich der Herr bin, wenn ich so an euch handle zur Ehre meines Namens, und nicht nach euren bösen Wegen und verderblichen Taten, du Haus Israel, spricht Gott der Herr." (Hes 20,41ff)
In der nachbiblischen Tradition gewinnt die Auffassung von der Heiligkeit des Landes noch an Bedeutung: "Nur in Erez Israel" (im Land Israel) lässt sich der Geist Gottes auf den Menschen nieder." (Bab. Tal. Baba batra 158b) Vielfach findet sich aber auch eine Spiritualisierung des Landes. In der jüdischen Mystik des Mittelalters wird die Zionsliebe ein beherrschendes Motiv. Eine sichtbare Folge davon ist im 16. Jahrhundert eine beachtliche jüdische Präsenz im Land in Safed(Galiläa). Die Sehnsucht nach Zion setzt sich fort bis in die Gedankenwelt des religiösen Zionismus in diesem Jahrhundert (z.B. in der britischen Mandatszeit bei Rabbi Abraham Isaak Kook).
Von der Zeit der Kirchenväter bis in unsere Zeit hinein war die vorherrschende Auffassung der Kirchen, dass die Zerstörung der Stadt Jerusalem und des Tempels ebenso wie die Vertreibung der Juden aus ihrem Land Folge ihres Fehlverhaltens seien, insbesondere ihrer Ablehnung Jesu als Messias Israels. Hier wurde Geschichte in einer bestimmten Weise christlich theologisch gedeutet.
Auch für die kirchliche Haltung gegenüber der zionistischen Bewegung und dem Staat Israel spielte die traditionelle Verwerfungstheologie eine entscheidende Rolle. Als Beispiel mag die Antwort dienen, die Papst Pius X. 1904 in einem Interview Theodor Herzl gab: "Wir können diese Bewegung (den Zionismus ) nicht gutheißen... Der Boden Jerusalems ... ist geheiligt durch das Leben Jesu Christi. ... Die Juden haben unseren Herrn nicht anerkannt, folglich können wir das jüdische Volk nicht anerkennen." Wo es unter Christen Zustimmung gab, stand dahinter weithin die Hoffnung, dass die Rückkehr der Juden in ihr Land der erste Schritt zu ihrer Bekehrung und damit zur endzeitlichen Vollendung sei. Auch heute gibt es eine starke Bewegung, vor allem in charismatisch geprägten und evangelikalen christlichen Gruppen, die auf derselben theologischen Grundlage den Staat Israel und seine Politik, soweit sich diese auf biblische Prophezeiungen beziehen läßt, bedingungslos unterstützen.
Wäre es angesichts der Gefahr missbräuchlicher Benutzung biblischer Texte für die eigenen Interessen nicht besser, auf jede theologische Deutung der Rückkehr der Juden ins Land und der Gründung eines Staates, der den Namen Israel trägt, zu verzichten?
Viele Juden fühlen sich aus biblischen, aus religiösen oder geschichtlichen Gründen an das Land bzw. den Staat Israel gebunden. Der moderne Staat Israel hat für die jüdische Existenz im Land und in der Diaspora eine unentbehrliche Sicherungsfunktion. Er hat sich zum geistigen Zentrum und zum Mittelpunkt jüdischer Kultur und Wissenschaft entwickelt. Aus Respekt vor der Glaubensüberzeugung der Juden und in dem Bewußtsein, dass es auch die schuldbeladene Geschichte der europäischen Nationen ist, die das Land Israel zum Asylort werden ließ und schließlich zum Teilungsbeschluß der Vereinten Nationen von 1947 führte, bejahen Christen die Notwendigkeit des Staates Israel. Sein Existenzrecht ist völkerrechtlich unbestreitbar und bedarf keiner theologischen Legitimation. Die Behauptung, dass Gottes Bund und Verheißungen weiterhin gelten (vgl. Röm 9,4; 11,1ff), und das Alte Testament unverzichtbarer Teil der christlichen Bibel ist, fordert aber zu theologischer Reflexion über die Bedeutung des Landes und der Landverheißung heraus.
Der Einwand, im Neuen Testament spiele das Land keine Rolle, führt nicht weiter. Erstens ist die Frage, ob die Zurückhaltung an diesem Punkt nicht andere Gründe hat, etwa die Abgrenzung gegen politische Messiaserwartungen (Apg 1,6) oder die stillschweigende Voraussetzung, dass Volk und Land Israel zusammengehören. Zweitens hat das Alte Testament für Christen seinen eigenen Wert auch dort, wo das Neue Testament nicht ausdrücklich Bezug darauf nimmt. "Was Christum treibet" (Luther) ist nicht losgelöst zu sehen von dem Einen Gott Israels, von dessen Gnade und Treue auch das Alte Testament zeugt.
Die von palästinensischen Theologen geforderte Universalisierung aller biblischen Aussagen über das Land ("jedem Volk hat Gott ein Land gegeben") widerspricht der in den Abschnitten 2.2 und 2.4 beschriebenen biblischen Einsicht, dass Gott sich selbst unauflöslich an das jüdische Volk gebunden hat, Bund und Land aber zusammengehören. Auch wo ausdrücklich das verheißene Heil für die ganze Welt in den Blick genommen ist, hält die Bibel an der Besonderheit der Erwählung Israels fest.
Gewiss kann, was als Gnadengabe Gottes gemeint war, um ein Leben in Gerechtigkeit und Freiheit zu ermöglichen und zu schützen - Schöpfung, Erwählung, Bund und die Gabe des Landes - durch menschliche Schuld Unrecht und Tod bewirken. Die Bundestreue Gottes fällt damit nicht hin. Zwischen dem Land als Gnadengabe Gottes und dem säkularen Staat Israel ist in jedem Fall sorgfältig zu differenzieren. Dieser Auffassung stimmen gerade religiöse Juden in der Mehrheit zu.
4.6.4 Konsequenzen
Alle Staaten haben - wie Familien oder Völker - die ethische Funktion, das Leben in Gemeinschaft zu schützen. Sie unterliegen der Kritik und der Notwendigkeit, so gestaltet zu werden, dass sie menschliches Leben, Zusammenleben und Überleben fördern. Dies gilt für den Staat Israel in derselben Weise wie es für alle anderen Staaten - auch einen möglichen Staat Palästina - Gültigkeit hat.
Nach dem Zeugnis der Schrift dient die Gabe des Landes, dessen Mittelpunkt der Zion ist, dem Zweck, Frieden und Gerechtigkeit für Israel und die Völker zu erreichen (vgl. Mi 4, Jes 2). Nach seiner Gründungsurkunde will sich der Staat Israel an diesem profetischen Erbe messen lassen. Eine Verabsolutierung des Landes, die von nationalreligiösen Kräften in Israel, aber auch von manchen christlichen Zionisten betrieben wird, widerspricht dem Geist der Profeten Israels. Eine religiöse Überhöhung des Staates Israel ist theologisch unzulässig und gefährdet die Bemühungen um einen friedlichen Interessenausgleich zwischen den Bürgern des Staates Israel und seinen arabischen Nachbarn.
Ebenso falsch wäre es allerdings zu behaupten, dass geschichtliche Ereignisse - besonders wenn sie das jüdische Volk betreffen - für den christlichen Glauben nicht relevant seien. Die Bibel verbindet die Sehnsucht nach der Rückkehr aus der Fremde in das Land der Verheißung mit der Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Dass Israel in Frieden leben soll nach seiner Verheißung wird dadurch ebenso Teil des christlichen Glaubens wie die Utopie von einer Welt, in der sich die Wölfe bei den Lämmern lagern. Dass es in Jerusalem niemals Frieden geben werde - wie es auch aus dem Mund von Christen oft zu hören ist - ist ein vor dem Hintergrund der biblischen Hoffnung nicht vertretbarer Satz.
Christen sind - wie Juden - berufen, Zeugen der Güte Gottes vor der Welt zu sein. Dazu gehört das Ringen um Frieden und Gerechtigkeit, aber auch die Bereitschaft zur Versöhnung. Versöhnung hat mit Heilwerden, mit "Entfeindung" des Feindes zu tun - um der eigenen Menschlichkeit willen. "Wie oft muß ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Ist siebenmal genug?" fragt Petrus. Darauf Jesus: "Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebzig mal siebenmal." (Mt 18,21).
Vergebung ist kein Ersatz für Gerechtigkeit, sondern die notwendige Voraussetzung für eine Gerechtigkeit, die nicht erzwungen ist. Sie erwächst aus der Ehrfurcht vor dem Recht und aus der Liebe zum Menschen. Vergebung wurzelt nicht im Rechtsbewußtsein, sondern in dem Bewußtsein der existentiellen Bedürftigkeit des Menschen vor Gott: "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern!" Das Gebet, das Jesus seinen Jüngern aufgetragen hat, bleibt eine Herausforderung auch für die Christen in Jerusalem und in Palästina, die an den Folgen des politischen Konflikts zwischen dem Staat Israel und den arabischen Nachbarländern, der viele von ihnen zu Fremden im eigenen Land gemacht hat, bis heute tragen.
Christen in Deutschland sollen sich um eine differenzierte Wahrnehmung der Situation bemühen und den Betroffenen auf beiden Seiten mit gleicher Aufmerksamkeit zuhören. Sie sollen zum Frieden ermutigen, die Begegnung und Zusammenarbeit von Israelis und Palästinensern und den interreligiösen Dialog nach Kräften unterstützen und nicht aufhören für Jerusalem zu beten: "Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben. Es möge Frieden sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen! Um meiner Brüder und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen!" (Ps 122,6ff)
4.7 Der christliche Gottesdienst in seinem Verhältnis zum jüdischen Gottesdienst
4.7.1 Gemeinsames und Eigenes
4.7.1.1 Der christliche Gottesdienst geht in seinen vielfältigen Erscheinungsformen letztlich auf den Gottesdienst in den Synagogen zur Zeit Jesu zurück, der den ersten Christen aus dem jüdischen Volk vertraut war (vgl. Studie I, 1.4). Er hat Merkmale seines geschichtlichen Ursprungs bis heute bewahrt, obwohl Christen über viele Jahrhunderte in Abgrenzung von den Juden gelebt haben und kaum Kenntnis von deren Gottesdienst hatten. Im Laufe der Geschichte haben allerdings auch andere kulturelle Einflüsse auf den christlichen Gottesdienst eingewirkt.
4.7.1.2 Die Verwandtschaft vom Ursprung her zeigt sich bis heute in Gebetsformeln, die aus dem Synagogengottesdienst bzw. der Jüdischen Bibel, dem Alten Testament der Christen, stammen, wie "Amen", "Halleluja" oder "Hosianna" und in Segensworten. Die Lesung aus dem Alten Testament ist bis heute fester Bestandteil christlicher Gottesdienstordnungen. Besondere Bedeutung hat das Gebetbuch der Bibel, das Buch der Psalmen, ohne welches christliches Beten und Singen nicht denkbar ist.
Jüdisches Erbe ist ferner die Sieben-Tage-Woche, auch wenn im Christentum der wöchentliche Feiertag vom Samstag (vgl. 1.Mose 2,2f.; 2.Mose 20,11) auf den Sonntag (zum Gedenken an die Auferstehung Jesu, vgl. Mt 28,1ff.) verlegt wurde. Ebenso ist das Kirchenjahr in Anknüpfung an das jüdische Festjahr entstanden, das schon im Alten Testament in seinen Grundzügen hervortritt (vgl. 2.Mose 23, 14-19; 34,18-26; 3.Mose 23, 1-44; 5.Mose 16,1-17). Dabei ist zu bedenken, dass schon in der biblischen Zeit die ursprünglich an landwirtschaftlichen Terminen orientierten Feste immer mehr durch Bezugnahmen auf geschichtliche Vorgänge geprägt worden sind, in denen das Volk Israel die rettende und bewahrende Gegenwart Gottes besonders eindrücklich erlebt hatte. Es schälten sich die drei Wallfahrtsfeste heraus, an denen ursprünglich möglichst alle Israeliten im Tempel in Jerusalem erscheinen sollten und die auch nach der Zerstörung des Tempels im Judentum bis heute eine große Rolle spielen:
- Pessach/Passahfest als Fest der Befreiung, des Exodus aus Ägypten,
- Schawuot/Wochenfest als Fest der Sinaioffenbarung,
- Sukkot/Laubhüttenfest als Fest der Erinnerung an die Wüstenwanderung.
Dadurch wurden in den Festen Israels im Laufe der Zeit die grundlegenden Ereignisse der Gottesoffenbarung und des Bundesschlusses mit Israel erinnert und vergegenwärtigt.
An diese Strukturen, die den ersten Christen von ihrer jüdischen Herkunft oder durch ihre Nähe zum jüdischen Gottesdienst geläufig waren, knüpfte das Kirchenjahr in eigenständiger Weiterentwicklung an. Die Beziehung zu den Gotteserfahrungen des Volkes Israel wurde dabei überlagert und umgeprägt durch Bezugnahmen auf die Christusoffenbarung. Die Erinnerung an den ursprünglichen Sinn der jüdischen Feste ging aber nie ganz verloren. Beim Osterfest wird die Verbindung schon dadurch deutlich, dass der Termin des Osterfestes wie des Pessachfestes nach dem ersten Frühlingsvollmond berechnet wird. Auch bei den sieben Wochen später gefeierten Festen Pfingsten/Schawuot besteht ein theologischer Zusammenhang, insofern die Gabe der Tora gefeiert wird - im Christentum die Gabe des Geistes und damit die Entstehung der Kirche. Das Laubhüttenfest läßt sich in gewisser Weise mit dem Erntedankfest vergleichen.
Die Anknüpfung des Kirchenjahres an das jüdische Festjahr geriet mit der Zeit in Vergessenheit, wurde oft auch bewusst verdrängt. Es liegt heute nahe, sie wieder stärker bewußt zu machen.
4.7.1.3 Die jüdischen Wurzeln des christlichen Gottesdienstes zeigen sich in den jeweils konstitutiven gottesdienstlichen Elementen: den feststehenden Gebeten, dem Psalmengebet, dem Dreimal Heilig (Jes 6,3), den Schriftlesung(en), der Predigt, dem aaronitischen Segen (4.Mose 6,24-26). Im jüdischen Gottesdienst ist ein einjähriger Tora-Lesezyklus verbindlich geworden, dem Profetentexte zugeordnet sind. Für den christlichen Gottesdienst in den unterschiedlichen kirchlichen Traditionen gibt es zwar verschiedene Leseordnungen, allen ist jedoch gemeinsam, dass den Evangelientexten immer eine besondere Bedeutung zukommt. Sie prägen den Charakter des Sonntags.
Die Form des Abendmahls mit der Segnung und Austeilung von Brot und Wein geht auf jüdische Mahlfeiern zurück und damit auch auf die Festmahle, die Jesus mit seinen Jüngern, ebenso mit Sündern, Zöllnern und Dirnen gehalten hat. Für die Deutung von Brot und Wein im Abendmahl gibt es Analogien in der Erklärung der Speisen beim Passamahl, ohne dass Jesu Deuteworte daraus ableitbar wären.
Wie die Beschneidung Zeichen des Bundes Gottes mit Abraham ist und mit der Verpflichtung zur Tora verbunden ist, so wird in der christlichen Taufe der Täufling der Herrschaft Jesu Christi unterstellt und in seine Nachfolge gerufen. Die Konfirmation als Erneuerung des Taufgelübdes und Datum der Religionsmündigkeit der christlichen Jugendlichen hat eine Entsprechung in der eigenverantwortlichen Übernahme der Toraverpflichtung nach Vollendung des 13. Lebensjahres für Jungen (Bar Mizwa) und (ausgehend von Reformgemeinden) für Mädchen (Bat Mizwa).
4.7.1.4 Die gemeinsamen Wurzeln des jüdischen und christlichen Gottesdienstes haben in neuester Zeit immer wieder zu Versuchen geführt, jüdische gottesdienstliche Bräuche - auch solche, die erst nach dem Auseinandergehen der Wege von Christentum und Judentum entstanden sind - in den christlichen Gottesdienst zu integrieren. Das gilt etwa für die Aufnahme jüdischer Gebete oder für die Einbeziehung von Elementen der Feier des Sederabends beim jüdischen Passahfest in die christliche Abendmahlsfeier.
An solchen Versuchen wird von jüdischer Seite immer wieder Anstoß genommen. Man sieht in ihnen eine mißbräuchliche Verwendung, ja sogar eine "Enteignung" jüdischer gottesdienstlicher Traditionen durch Christen. Diese Bedenken sind ernst zu nehmen. Zwar läßt die ursprüngliche Nähe von christlichem und jüdischem Gottesdienst keine völlig reinliche Unterscheidung zwischen beiden zu, so dass Übernahmen herüber und hinüber nicht völlig auszuschließen sind. Insbesondere bei nachbiblischen gottesdienstlichen Bräuchen muß aber bewußt gehalten werden, dass das "Wir" Israels nicht deckungsgleich ist mit dem "Wir" der Kirche (vgl. 2.1-5). Auch ist darauf zu achten, dass das jüdische Verständnis nicht verdeckt oder gegen seinen Sinn ausgelegt wird. Bei der Verwendung biblischer Psalmen im christlichen Gottesdienst muß nicht durchweg die trinitarische Formel folgen, um sie christlich verwendbar zu machen. Durch knappe einleitende Worte (Präfamina) kann vielmehr deutlich gemacht werden, dass die Psalmen Gebete des Volkes Israel (und der Jüdischen Gemeinden bis heute) sind. Ähnliches gilt für den Aaronitischen Segen, dessen Ursprung in der jüdischen Bibel bewusst gehalten werden sollte. Die Gewohnheit, Psalmen nur in Auswahl zu verwenden, ist auf die Kriterien der Auswahl hin zu befragen. Insgesamt hat jedoch das Wissen um den jüdischen Ursprung des christlichen Gottesdienstes, wie es sich im Evangelischen Gesangbuch und in neuen Agenden niedergeschlagen hat, in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen.
4.7.1.5 Gemeinsame christlich-jüdische Gottesdienste sind vom gemeinsamen Ursprung her aus christlicher Sicht grundsätzlich möglich. Jedoch muß dabei bedacht werden, dass Christen und Juden sich in ihren Gottesdiensten zwar an den Einen Gott wenden, aber durch den Glauben an Jesus Christus geschieden sind. Das kann weder durch Weglassen noch durch Überspielen überwunden, sondern muß in gegenseitigem Respekt ausgehalten werden. Eine genauere Untersuchung hat ergeben, dass es eine durchaus ernst zu nehmende Gefahr ist, das besondere christliche und jüdische Profil des Gottesdienstes zugunsten eines "kleinsten gemeinsamen Nenners" zu unterdrücken.
Gottesdienste, in denen Christen und Juden zusammenwirken, müssen daher besonders sorgfältig vorbereitet werden. Unproblematischer sind gastweise Einladungen eines jüdischen Kantors oder Rabbiners in einen christlichen Gemeindegottesdienst - oder umgekehrt ein Grußwort von Christen in einem jüdischen Gottesdienst. Aus besonderem Anlaß kann auch eine ganze jüdische Gemeinde zur gastweisen Teilnahme am Gottesdienst eingeladen werden.
Es bleibt eine Aufgabe, die Nähe von Christen und Juden auch im gottesdienstlichen Leben klarer zum Ausdruck zu bringen.
4.7.2 Schritte der kirchlichen Praxis
4.7.2.1 Das Evangelische Gesangbuch (EG)
Das Evangelische Gesangbuch, zuerst eingeführt 1993, ist das erste evangelische Gesangbuch, das ausdrücklich auf die jüdischen Ursprünge gottesdienstlicher Elemente hinweist. In der Einführung zu den Psalmen heißt es: "Psalmen zu lesen und zu singen gehört bis heute zum Gottesdienst der jüdischen Gemeinde. Seit den frühesten Zeiten der Kirche sind Psalmen auch fester Bestandteil des christlichen Gottesdienstes. Christen und Juden beten so mit den gleichen Psalmworten und bringen Lob und Dank, Klage und Bitte vor Gott." In der Einleitung der Gottesdienste zu den Tageszeiten wird gesagt: "Die Psalmen der Bibel laden dazu ein, den Tageslauf mit dem Lob Gottes zu beginnen und zu beenden. So halten es Juden und Christen." In der Beschreibung des Kirchenjahres heißt es: "Durch die Verheißungen, die Gott seinem Volk Israel gab, hat alle Zeit ihr Ziel bekommen." Für die Bestimmung des Ostertermins wird auf die jüdische Passahtradition hingewiesen.
In den Liedern, die das Evangelische Gesangbuch neu aufgenommen hat, wird deutlicher als bisher des Bundes Gottes mit Israel gedacht:
O Israel, Gott herrscht auf Erden.
Er will von dir verherrlicht werden;
er denket ewig seines Bund's
und der Verheißung seines Mund's,
die er den Vätern kundgetan:
Ich laß euch erben Kanaan. (EG 290).
An dieser Stelle und an 15 weiteren Stellen im Evangelischen Gesangbuch (Stammteil) wird der Name "Israel" oder die Bezeichnung "Volk" Gottes für das Volk Israel, nicht, wie sonst vielfach in christlicher Tradition und auch an anderen Stellen im Evangelischen Gesangbuch, für die Kirche gebraucht. Zwölf dieser Stellen finden sich in Texten, die gegenüber dem vorherigen Gesangbuch neu sind. Das Lied "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" ist, wenn man von den sonntäglich wiederkehrenden liturgischen Stücken absieht, das am häufigsten gesungene Lied des Evangelischen Gesangbuchs. Die ökumenische Textfassung (EG 316) hatte in Strophe 5 aus sprachlichen Gründen den Text geändert: "Lob ihn mit allen, die seine Verheißung bekamen". Dennoch sollte im Evangelischen Gesangbuch an dieser Stelle der Name Abrahams erhalten bleiben, um die Verbindung zu Israel weiter deutlich zu machen : "Lobe mit Abrahams Samen". Deshalb ist das Lied im traditionellen evangelischen Wortlaut ebenfalls im Evangelischen Gesangbuch abgedruckt worden (Nr. 317).
4.7.2.2 Das Evangelische Gottesdienstbuch der Evangelischen Kirche der Union und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands
Zu den maßgeblichen Kriterien, nach denen diese "Erneuerte Agende" (1997) erarbeitet wurde, zählt die Erkenntnis, dass die Christenheit bleibend mit Israel als dem erstberufenen Gottesvolk verbunden ist. Wie im Evangelischen Gesangbuch so wird auch hier ausgesprochen, dass der christliche Gottesdienst in den Anfängen vielfach aus den Traditionen der Synagogengottesdienste und der jüdischen häuslichen Feiern geschöpft hat. Der Gottesdienst ist ein wichtiger Ort, an dem der Berufung Israels gedacht und die bleibende Verbundenheit mit Israel zur Sprache gebracht werden soll.
Deshalb wurden die Lesungstexte und die Predigtperikopen für den 10. Sonntag nach Trinitatis, dem traditionellen Israel-Sonntag, neu gestaltet. Als Evangelium des Sonntags ist neben Lk 19,41-48 (Jesus weint über Jerusalem) die Perikope Mk 12,28-34 (Die Frage nach dem höchsten Gebot) getreten. Die Verortung von Lk 19 auf den 10. Sonntag nach Trinitatis ist sehr alt, wahrscheinlich ist dieser Text mehr als 1000 Jahre lang an diesem Sonntag gelesen worden. Das hängt mit der Nähe dieses Tages zum Tischa beAw, dem jüdischen Gedenktag der Zerstörung des Tempels, zusammen. Als Epistel des 10. Sonntags ist nunmehr Röm 9,1-5,6-8,14-16 ("...denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen ...") gewählt worden, während die bisherige Epistel Röm 11,25-32 in die Predigtperikopen dieses Sonntags eingereiht wurde. Die Perikope Joh 2 (Tempelreinigung) ist nicht mehr Predigttext für den 10. Sonntag nach Trinitatis.
Darüber hinaus bietet das Evangelische Gottesdienstbuch ein eigenes Proprium "Christen und Juden" an, das kirchenjahreszeitlich nicht festgelegt ist. Es kann etwa im Umkreis des 9. November oder des 27. Januar oder zu einem anderen geeigneten Termin verwendet werden. Der für einen solchen Gottesdienst ausgewählte Spruch des Tages lautet: "Der Herr gedenkt ewiglich an seinen Bund, an das Wort, das er verheißen hat für tausend Geschlechter, an den Bund, den er geschlossen hat mit Abraham, und an den Eid, den er Isaak geschworen hat." (Ps 105,8-9).
4.7.2.3 Auch andere Agenden aus den letzten Jahren bieten Texte an, die dem Verhältnis von Christen und Juden besser entsprechen. In der Einführung zur "Reformierten Liturgie" (Entwurf von 1998) heißt es: "Eine reformierte Agende hat dem, was der Kirche an neuen Erkenntnissen und Einsichten zugewachsen ist, Rechnung zu tragen. Deshalb bemüht sich die Reformierte Liturgie darum, der Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden liturgisch gerecht zu werden. Das gilt sowohl durchgängig, etwa im Blick auf die Gebete, als auch im Blick auf besondere Themen und Anlässe (Israel-Sonntag; Schoa-Gedenken)." Unter den Dankgebeten und Fürbitten zum Israel-Sonntag (10. Sonntag n.Tr.) findet sich das Beispiel:
"Barmherziger Gott, wir danken dir für die neuen Anfänge im Verhältnis von Christen und Juden, die unsere alten Vorurteile und Feindbilder überwinden. Es ist eine kostbare Erfahrung, dass Begegnungen mit jüdischen Menschen möglich sind, nach all dem Schrecklichen, das ihnen durch unser Volk angetan worden ist. Segne alle christlich-jüdischen Gespräche, laß uns entdecken, wie viel wir lernen können aus dem Schatz der jüdischen Tradition - auch für unseren Glauben ... Breite Frieden über Israel und über seine Nachbarn und Gerechtigkeit über die ganze Erde."
Neben dem Israel-Sonntag bildet das Schoa-Gedenken einen eigenen Anlaß, zu dem Gebete angeboten werden. Die "Reformierte Liturgie" informiert in ihren Beigaben auch über das jüdische Jahr. Die wichtigsten jüdischen Gedenk- und Festtage werden genannt, die dafür maßgeblichen Bibeltexte werden angegeben, die Feste selbst werden von jüdischen Kommentatoren erläutert. Dazu heißt es: "In einigen Fällen (z.B. Pessach oder Tisch'a b'Aw) gibt es direkte Bezüge zum christlichen Festkreis, die erläutert und theologisch fruchtbar gemacht werden können. Die Kenntnis der jüdischen Feste wirft ein neues Licht auf die jeweiligen Bibeltexte und regen zum Predigen an."
4.7.2.4 In der Agende der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (1996) werden Psalmentexte, die für den 10. Sonntag n.Tr. vorgeschlagen werden, eingeleitet mit Formulierungen wie: "Mit Israel bitten wir Gott um Erbarmen" oder "Mit Israel danken wir Gott für seine Gnade", "Mit Israel hoffen wir auf den Herrn". (Ziffern 488, 489) In einem Fürbittengebet heißt es: "Laßt uns voller Hoffnung zu Gott beten: Für Christen und Juden, wo sie sich begegnen, dass sie einander näherkommen und vertrauen können, dass die Wunden und Verletzungen anfangen zu heilen, die Christen den Juden zugefügt haben, dass Schuld ernstgenommen und nicht verdrängt wird und die christlichen Vorurteile überwunden werden." (Ziffer 495) Oder: "Laßt uns mit den jüdischen Brüdern und Schwestern nach unserer gemeinsamen Verantwortung in dieser Welt fragen." (Ziffer 496)
4.7.2.5 Die Sammlung "Ordnung der Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen" (1996), die das Landeskirchenamt München im Sinne einer Handreichung zur Agende herausgegeben hat, hebt den 10. Sonntag sowohl beim Tagesgebet ("... Wir bitten dich, dass du Juden und Christen leitest auf dem Weg zu dem Heil, das du allen bereitest ...") als auch beim großen Lobgebet (Präfation) hervor ("... In ihm hast du die Verheißung bestätigt, die du Israel, deinem Volk, gegeben hast ...").
4.7.2.6 Das Kirchenbuch für die Evangelische Kirche in Württemberg, Teil I (1988), schlägt als Eingangsgebet für den 10. Sonntag n.Tr. einen Text vor, der beginnt: "Vater im Himmel, du Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, du hast das Volk Israel erwählt zum Zeugen deines Namens in der Welt. Du bist ihm treu geblieben bis auf diesen Tag." (Ziffer 86) In den Fürbittengebeten zum gleichen Tage heißt es: "Allmächtiger, ewiger Gott, du hast Abraham und seinen Kindern deine Verheißung gegeben. Erhöre das Gebet deiner Kirche für das Volk, das du als erstes zu deinem Eigentum erwählt hast: Gib, dass es zur Fülle der Erlösung gelangt." (Ziffer 228)
Vergleicht man diese Formulierungen mit solchen aus der vorangegangenen Generation von Agenden, so fällt der Unterschied deutlich ins Auge. Der Israelvergessenheit oder Israelfremdheit, wenn nicht gar der (latenten) Israelfeindschaft wird in den neueren Agenden deutlich entgegengewirkt. Während diese neuen gottesdienstlichen Formulierungen für viele bereits vertraut klingen, werden andere noch Schritte des Lernens und der Aneignung zu gehen haben, bis sie sich die theologische Erkenntnis zu eigen gemacht haben, die in ihnen zum Ausdruck kommt.