Einverständnis mit der Schöpfung
Einleitung
Als Levi Jizchak von seiner ersten Fahrt zu Rabbi Schmelke von Nikolsburg, die er gegen den Willen seines Schwiegervaters unternommen hatte, zu diesem heimkehrte, herrschte er ihn an: "Nun, was hast du schon bei ihm erlernt?!" "Ich habe erlernt", antwortete Levi Jizchak, "daß es einen Schöpfer der Welt gibt." Der Alte rief einen Diener herbei und fragte den: "Ist es dir bekannt, daß es einen Schöpfer der Welt gibt?" "Ja", sagte der Diener. "Freilich", rief Levi Jizchak, "alle sagen es, aber erlernen sie es auch?"
Das Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer und die Rede von der Welt als Schöpfung sind bis heute wohlbekannt und werden vielfältig gebraucht. Wie in der eingangs zitierten jüdischen Lehrerzählung erhebt sich aber die Frage, ob der Schöpfungsglaube denn auch verstanden und in seinen Konsequenzen gelebt wird. Diese Frage wird besonders dringlich angesichts der neuzeitlichen Entwicklung der Technik. Die jüngste Weise der technischen Naturbemächtigung ist die Gentechnik. Der hier vorgelegte Beitrag will der ethischen Urteilsbildung im Blick auf die Gentechnik und damit einem verantwortlichen Umgang mit den durch sie eröffneten Möglichkeiten dienen. Im Einverständnis mit der Schöpfung zu leben und zu handeln ist dabei die bestimmende Perspektive. So ist die Gentechnik zu befragen, ob und inwieweit sie die Nutzung der Natur in Bewunderung, Dank und Respekt für die gesamte Schöpfungswirklichkeit einfügt. Im weitesten Sinne geht es - im Horizont der Herausforderung durch die Gentechnik - um eine Auslegung des christlichen Bekenntnisses: "Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen".
"Gentechnik" ist zu einem Reizwort geworden, das einerseits erhebliche Erwartungen und Hoffnungen, andererseits aber Bedenken und Ängste auslöst. Sowohl die Faszination als auch die Sorge sind verständlich. Mit der neuen Technik gelingt es, einen noch viel tieferen Einblick in die Konstitution des Lebens zu gewinnen, als das bisher möglich war. Die Grundinformation des Lebens scheint entschlüsselt zu werden. Sobald aber der Mechanismus der genetischen Information durchschaut ist, kann er auch verändert werden. Dies erschließt eine Fülle neuer Möglichkeiten für die Kombination genetischer Substanz. Die Gentechnik erlaubt es, erfinderisch weiterzuarbeiten: Mikroorganismen, Pflanzen und Tiere mit neuartigen Eigenschaften werden entwickelt und eingesetzt. Ein Feld ungeahnter, unabsehbarer Entdeckungen tut sich auf. Genau hier entstehen aber auch die Ängste: Was wird diese Forschung und erst recht ihre Anwendung für Folgen haben? Welche Auswirkungen der in Angriff genommenen Projekte sind zu erwarten? Mit welchen unbeabsichtigten Konsequenzen und Nebenwirkungen ist zu rechnen? Welcher Mißbrauch ist möglich? Diese Ambivalenz ist zwar ein Kennzeichen des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts überhaupt. Sie spitzt sich im Bereich der Gentechnik aber noch einmal zu. Hier geht es um die Substanz des Lebens selbst. Weil die erblich vorgegebenen Eigenschaften von Lebewesen verändert werden, werden Konsequenzen befürchtet, die nicht nur unübersehbar sind, sondern auch gar nicht mehr eingeholt, kontrolliert und gesteuert werden können.
In der Diskussion um die Gentechnik gibt es dementsprechend zwei gegenläufige Denk- und Argumentationsweisen. Die eine Seite wirbt um Akzeptanz für die neue Technik in der Bevölkerung. Denn solche Akzeptanz ist die Voraussetzung für die weitere technische Entwicklung und ihre wirtschaftliche Umsetzung. Die andere Seite unternimmt Anstrengungen, die Bevölkerung für die Probleme der Gentechnik und die in ihr gesehene Gefahr der Fortsetzung eines zerstörerischen Umgangs mit der Natur zu sensibilisieren. Beide Aspekte haben ihre eigene Plausibilität und müssen miteinander im Gespräch gehalten werden.
Gerade am Beispiel der Gentechnik zeigt sich ein grundlegendes Problem von pluralistischen, demokratisch verfaßten Gesellschaften: Wie kommen technologie- und industriepolitische Entscheidungen zustande, zumal dann, wenn es sich wie im Falle vieler moderner Techniken um Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen handelt? Unterschiedliche Interessen haben vielfach partikularen Charakter und bedürfen intensiver Vermittlung untereinander. Nur im öffentlichen gesellschaftlichen Diskurs, im gemeinsamen Gespräch der aktiv Beteiligten und der passiv Betroffenen kann die Verantwortung, die allen hierbei zufällt, tatsächlich wahrgenommen werden.
Mit der Entwicklung der Gentechnik sind viele Fragen gestellt, auf die es derzeit noch keine befriedigenden Antworten gibt. Gerade auch in der theologischen Tradition kann nicht an ausgearbeitete ethische Perspektiven angeknüpft werden, die zeigen, wie eine Nutzung der Natur auszusehen hätte, die im Einverständnis mit der Schöpfung geschieht. Darum hat dieser Beitrag auf weite Strecken weniger den Charakter einer Problemlösung als vielmehr einer Problembeschreibung und Richtungsangabe. Er mahnt damit an, daß das Verhältnis des Menschen zur Natur weiterer Klärung bedarf. Nur in diesem Kontext lassen sich auch die offenen Fragen im Blick auf den verantwortlichen Umgang mit der Gentechnik neu aufnehmen und bearbeiten.
Der Beitrag gibt im I. Teil eine kurzgefaßte Orientierung über den Sachstand. Dabei wird auch eine Abgrenzung des Themenfeldes vorgenommen. Gentechnik ist ein Sammelbegriff, der verschiedenartige Anwendungen und Sachgebiete umfaßt (vor allem: Erforschung von Organismen, Genomanalyse, Eingriffe in das Erbgut von Organismen, Produktion mit gentechnisch veränderten Organismen). Unpräzise wird er außerhalb der Fachwelt auch für Bereiche (wie Reproduktionsbiologie, Fortpflanzungsmedizin oder Embryonenforschung) verwendet, die selbst nicht Gentechnik sind, freilich zum Ausgangspunkt für gentechnische Forschungen und Arbeiten gemacht werden können. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich mit der Handreichung "Von der Würde werdenden Lebens" von 1985 und der Kundgebung der Synode "zur Achtung vor dem Leben" von 1987 (beide veröffentlicht in Heft 20 der EKD-Texte: "Zur Achtung vor dem Leben") zu den neueren Entwicklungen von Fortpflanzungsmedizin und Gentechnik vornehmlich in ihrer Anwendung beim Menschen geäußert. Der hier vorgelegte Beitrag konzentriert sich demgegenüber auf die Anwendung der Gentechnik beim nichtmenschlichen Leben, also bei Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren. Damit soll auch dem mancherorts anzutreffenden Eindruck gewehrt werden, die ethische Problematik begänne erst bei der Anwendung beim Menschen.
Der II. Teil kennzeichnet die Herausforderung, die sich aus der stürmischen Entwicklung der Gentechnik ergibt: Gentechnische Eingriffe unterscheiden sich markant von herkömmlichen Eingriffen in den genetischen Bestand von Lebewesen und stellen insofern eine neue Qualität des Zugriffs auf das Leben dar; dies alles geschieht zudem unter veränderten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für Forschung, Technik und ihre öffentliche Kontrolle und im Horizont eines wachsenden Bewußtseins von der Bedrohung der Biosphäre. Die Herausforderung hat unterschiedliche Reaktionen und Antwortversuche hervorgerufen. Einige dieser Antwortversuche führen die Diskussion freilich in falsche Alternativen. Der Aufklärung solcher unfruchtbarer Einseitigkeiten und lediglich scheinbarer Gegensätze ist der III. Teil gewidmet. Die sachliche Mitte bildet der IV. Teil: Die durch die Gentechnik eröffneten Möglichkeiten machen ein Umdenken im Verhältnis zur Natur dringlich. Ein verantwortlicher Umgang mit dem Leben und den Techniken, die zu seiner Veränderung eingesetzt werden, kann nur im Einverständnis mit der Schöpfung geschehen. Diese Grundthese wird im V. Teil aufgenommen und weitergeführt. Die dort entfalteten Perspektiven für Wahrnehmung, Urteil und Handeln wollen bei den Lesern die Unterscheidungsfähigkeit stärken und die Einbildungskraft mobilisieren, um selbst zu einer konkreten Entscheidung zu gelangen. Es handelt sich dabei nicht um Obersätze, aus denen Einzelentscheidungen lediglich noch abzuleiten wären, sondern um Direktiven, die für die unerläßliche eigene Prüfung des Sachverhalts eine Richtungsanzeige geben. Die Resultate, zu denen die Direktiven hinführen, können darum durchaus voneinander abweichen. Aber der Raum des möglichen Dissenses ist eingegrenzt: Keine der konkreten Schlußfolgerungen darf zu dem gemeinsamen Ausgangspunkt, wie er in den Perspektiven für Wahrnehmung, Urteil und Handeln entfaltet ist, in Widerspruch treten. Daran sind auch die Anregungen zu messen, die der Beitrag abschließend formuliert.