Einverständnis mit der Schöpfung
III. Falsche Alternativen
Die Gentechnik führt - bei veränderten Rahmenbedingungen für Forschung und Technik und im zeitlichen Zusammenhang mit tiefgreifenden Gefährdungen des Lebensraums Erde - in eine neue Dimension der technischen Bemächtigung und Veränderung des Lebens. Chancen und Risiken sind in ihrer Reichweite gleichermaßen unabsehbar. Diese Herausforderung verlangt nach Antworten. Sie sind in den beiden vergangenen Jahrzehnten vielfältig versucht worden und haben zu einer intensiven kritischen Diskussion der Gentechnik geführt. Dabei sind auch Alternativen ins Spiel gebracht worden, die die konkrete Urteilsbildung im Falle der Gentechnik jeweils mit grundsätzlichen Richtungsentscheidungen verknüpfen und in dem Gegensatz zwischen einem bekenntnishaften Ja und einem kategorischen Nein zur Gentechnik ihre letzte Zuspitzung erfahren. Das Denken in solchen Alternativen hat sein partielles Recht. Darin drückt sich aus, daß nicht allein Einzel- und Teilprobleme, sondern Fragen von grundsätzlicher Tragweite zur Entscheidung anstehen. Die Alternativen führen jedoch in die Irre, wenn sie konkrete Einzel- und Teilentscheidungen mit dem Gewicht einer Grundsatzentscheidung belasten und dadurch zur Einseitigkeit verleiten. In diesem Fall bestehen die Alternativen nur scheinbar und bezeichnen, genau gesehen, verschiedene Wahrheitsmomente der anstehenden Entscheidung. Die Bildung solcher falschen oder scheinbaren Alternativen ist häufig Ausdruck eines Rückzugs aus komplexen Sachverhalten und Lebenszusammenhängen in eine vermeintlich einfache "Wahrheit".
Der Zugang zu einer angemessenen Diskussion der Gentechnik ist durch eine Reihe von falschen Alternativen verstellt. Eine sachgerechte Urteilsbildung setzt voraus, daß der falsche Schein dieser Alternativen durchschaut wird und statt dessen ihre relativen Wahrheitsmomente zur Geltung gebracht werden.
1. Natur oder Kultur
Die neuartigen, in ihren Risiken unabsehbaren Möglichkeiten, die Kulturinstrumente wie die Gentechnik für Eingriffe in die Natur bieten, haben die Veranlassung dazu gegeben, der von der unbeschränkten Verfügung der Menschen über die Natur hervorgebrachten Kultur die vor solchem Zugriff der Menschen zu bewahrende Natur gegenüberzustellen. Aber eine starre Entgegensetzung von Natur und Kultur geht an den tatsächlichen Verhältnissen des kulturellen Umgangs mit der Natur und der natürlichen Voraussetzungen der Kultur vorbei. Es gibt keine von der Kultur unberührte Natur, und es gibt keine von der Natur unberührte Kultur. Der mit der Gentechnik einhergehenden besonderen Herausforderung läßt sich nicht dadurch begegnen, daß die Geschichte kultureller Bearbeitung der Natur insgesamt negiert wird.
Vielmehr ist stets nach der Stimmigkeit zwischen Natur und Kultur und damit nach der Grenze kultureller Eingriffe in die Natur zu fragen. Das Wahrheitsmoment der Gegenüberstellung von Natur und Kultur liegt darin, daß Natur nicht in Kultur aufgelöst werden darf. Gerade die Gentechnik macht es nötig, nach einer spezifischen Grenzlinie für die Kultivierung der Natur zu fragen. Sie ist dort zu ziehen, wo Natur nicht mehr als das wahrgenommen und geachtet wird, was den Menschen gegeben ist, vielmehr aufgeht in dem, was sie planmäßig in einer technischen Reproduktion hervorbringen. Die starre Entgegensetzung von Natur und Kultur hat ihre Entsprechung in zwei weiteren falschen Alternativen:
a) Evolution ohne Menschen oder Evolution durch Menschen
Angesichts der wachsenden Bedrohung der Biosphäre wird gelegentlich der Gedanke geäußert, die "gute" Evolution werde durch die Eingriffe der Menschen gestört und geschädigt; sie könne nur "heil" erhalten werden, wenn sie vom gezielten menschlichen Handeln unbeeinflußt bleibe. Dieser Gedanke wird in der provozierenden These zugespitzt, der Mensch sei der größte Störfaktor der Evolution und die Natur habe eine Zukunft nur ohne den Menschen. Aber dies sind abstrakte Überlegungen, die aus dem faktischen Verlauf der Evolution heraustreten. Die Menschen sind Teil der evolutionären Entwicklung. Zudem stellt sich die Frage, worauf sich das Urteil "gut" oder "heil" im Blick auf die Evolution bezieht. Sollte vielleicht von einer lebensförderlichen Entwicklung zu reden sein? Aber was ist "lebensförderlich"? Hier greifen nur Einzelkriterien wie beispielsweise die Arten- und Lebensvielfalt bzw. die Erhaltung der Möglichkeit dieser Vielfalt.
b) Anthropozentrik oder Physiozentrik
In der gesamten Umweltdiskussion so auch im Blick auf die Gentechnik spielt das Argument eine Rolle, das politische, wirtschaftliche und individuelle Handeln sei zum Schaden der natürlichen Mitwelt der Menschen um die Menschen statt um die Natur zentriert. Aber diese Entgegensetzung wird falsch, wenn sie davon absieht, daß Wahrnehmung, Urteil und Handeln der Menschen unweigerlich von einem menschlichen Standpunkt aus geschehen - auch dann noch, wenn dabei nach subjektiver Einschätzung die Belange der Natur die Priorität erhalten. Berechtigt und notwendig ist hingegen die Kritik an einer Position, die die Natur ausschließlich unter dem Blickwinkel des Nutzens für die Menschen betrachtet und gebraucht. Hier stellt sich die Aufgabe, zu bestimmen, was die Natur unabhängig von den Nutzungsinteressen der Menschen in der ihr eigenen Lebendigkeit ist und wie sie sich darüber hinaus auf sie beziehen.
2. Universelle Verantwortung oder Handlungsverzicht
Die Alternative, entweder alle Folgen (und Nebenfolgen) des Handelns überblicken zu können oder überhaupt nicht handeln zu dürfen, führt zu einer Handlungsblockade und -verhinderung. Denn es ist eine irreale Anforderung, dazu fähig zu sein, alle Folgen (und Nebenfolgen) des Handelns zu überblicken. Zu fragen ist vielmehr, mit welchen guten Gründen gehandelt werden kann, ohne alle Folgen und Nebenfolgen zu überblicken. Dabei ist ein prinzipielles Nicht-Wissen-Können von einem Nicht-Wissen, das (teilweise) überwunden werden kann, sorgfältig zu unterscheiden. Die voraussehbaren Folgen sind sehr wohl zu berücksichtigen, und alle Möglichkeiten, die Folgen des Handelns zu erforschen, sind auszuschöpfen. Das Nicht-Wissen von Folgen und Zusammenhängen muß als Grundbedingung menschlichen Lebens wahrgenommen werden und verlangt ein begründetes ethisches Urteilen, das die offenen Risiken abschätzt. Dies schließt die Forderung ein, nicht voreilig zu handeln und im Maße des Möglichen für Randbedingungen zu sorgen, unter denen das Handeln zu besseren Zuständen, jedenfalls aber nicht zu Katastrophen führt.
3. Fortschrittsförderung oder Fortschrittsverweigerung
Solange Fortschritt mit der Ausweitung und Intensivierung technischer Naturbemächtigung und mit der Steigerung von Konsum und Ressourcenverbrauch ineinsgesetzt wird, scheint sich die Alternative aufzudrängen, einen solchen Fortschritt entweder weiter zu fördern oder sich ihm zu verweigern. Davon ist unmittelbar auch die Gentechnik betroffen, die entweder als neue Dimension der Nutzung der Natur gepriesen oder als vollständige Ausbeutung der natürlichen Gegebenheiten verdammt wird. Dagegen kommt es entscheidend darauf an, wie Fortschritt definiert und woran er gemessen wird. Wenn der Fortschritt der Technik etwa in ihrer Angepaßtheit an Natur und Kultur oder in der Reduzierung des Verbrauchs natürlicher Ressourcen gesehen wird, verändert sich die Perspektive. Dann ist beispielsweise zu fragen: Wie kommen Forschungsziele in der Gentechnik zustande? Sind systemare Alternativen gesucht und gefördert worden?
4. Freiheit oder Grenzen
Die Auseinandersetzung über unabsehbare Risiken gentechnischer Forschung und ihrer Anwendung ist auch durch die Scheinalternative belastet, entweder behielten Wissenschaft und Forschung ihre Freiheit oder fremde Instanzen (Recht, Ethik, öffentliche Meinung) beschnitten die Freiheit und zögen sachfremde Grenzen. Aber Freiheit kann im geordneten Zusammenleben der Menschen niemals schrankenlos sein und findet ihre Grenze am Recht anderer Menschen sowie der Mitgeschöpfe der Menschen. Die Freiheit von Wissenschaft und Forschung kann zudem nicht bedeuten, daß sich Wissenschaftler und Forscher selbst keinen Rücksichten und Rechenschaftspflichten unterwerfen müßten. Freiheit bewährt sich in der Selbstbeschränkung: frei zu bleiben und unter Umständen aus wohlerwogenen Gründen auf ein Vorhaben auch zu verzichten. Die Freiheit von Wissenschaft und Forschung besteht gerade darin, - etwa von ökonomischem Druck und von Zwängen der Konkurrenz oder des Ehrgeizes - so unabhängig zu sein, daß Begründungspflichten noch frei festgelegt und ausgeschöpft werden können.
5. Ja zur Gentechnik oder Nein zur Gentechnik
Es gibt bedenkenswerte und im einzelnen zu prüfende Gründe, bestimmte Schritte und Projekte bzw. ganze Entwicklungsrichtungen der Gentechnik zu unterstützen oder umgekehrt gerade zu verwerfen. Die Alternative zwischen einem unumschränkten Ja und einem unumschränkten Nein zur Gentechnik führt hingegen nicht weiter. Solche pauschalen Urteile erwecken den fälschlichen Eindruck, als ginge es bei der Gentechnik um die Entscheidung zwischen Heilsweg und Katastrophe. Aber bei der Beurteilung der Gentechnik handelt es sich nicht um die Wahl zwischen Weiß und Schwarz, sondern es kommt auf Abstufungen, Differenzierungen und Grenzziehungen an. Gentechnik ist nicht gleich Gentechnik. Statt einer generellen Festlegung, die wenig Aussagekraft besitzt, ist eine Stellungnahme erforderlich, die den Entscheidungsraum absteckt und zum Urteil für den Einzelfall befähigt. Dies schließt ein, konkret gegebenenfalls auch zu einem Ja oder Nein zu gelangen.
Die Neigung, der Gentechnik mit einem pauschalen Ja oder Nein zu begegnen, wird durch die auch in anderen Zusammenhängen begegnende falsche Alternative Ambivalenz oder Eindeutigkeit noch verstärkt. Dabei stehen sich das Beharren auf der Mehrdeutigkeit eines Sachverhalts und das Drängen auf eindeutige Aussagen gegenüber. Das Interesse an Eindeutigkeit des Urteils steht in der Gefahr, die Differenziertheit gentechnischer Vorhaben und Handlungsweisen zu vernachlässigen oder zu überspringen. Andererseits kann die Auffassung, Gentechnik sei ambivalent, nicht bei der Behauptung stehenbleiben, Nutzen und Gefahren seien letztlich nicht mit einem klaren Resultat gegeneinander abzuwägen. Vielmehr muß sie bestrebt sein, der ethischen, wissenschaftlichen und politischen Rechenschaftspflicht nachzukommen, die bekannten Nutzungsmög- lichkeiten und Gefahren sorgfältig zu prüfen und darüber hinaus eine Forschung zu betreiben, die die Einsicht in Nutzen und Gefahren möglichst noch verbreitert und vertieft.